Dialoge: Seenotrettung

Gespräche mit den Seenotrettern
Thomas Scheible und Elias Bierdel

PROLOG

Der im Vringsveedel geborene und aufgewachsene Gastronom und Politaktivist Thomas Scheible (46) hat bereits in jungen Jahren auf dem Rhein seine Affinität zur Schifffahrt entdeckt und befährt in seiner Freizeit seit 20 Jahren deutsche und internationale See- und Binnengewässer als Skipper von Motor- und Segelbooten. Sozialisiert und politisiert in der multikulturellen Kölner Südstadt der 80er Jahre hat er sofort seine Hilfe angeboten, als er 2015 das erste Mal vom Projekt SEA-WATCH erfuhr.

Scheible hat seit Anfang 2016 ein gutes Dutzend Rettungsmissionen als Einsatzbootfahrer und Smutje auf den Schiffen SEA-WATCH 2 und SEA-WATCH 3 absolviert und war an der Rettung von mehreren Tausend Menschen beteiligt. Seine Erfahrungen und Erlebnisse an Europas tödlichster Grenze haben ihn geprägt und sein bisheriges Leben auf den Kopf gestellt. Hinter den Kulissen ist er auch in der Organisation und Verwaltung des gemeinnützigen SEA-WATCH e.V. aktiv.
Text: Thomas Scheible


ALS LAIEN EINE STAATLICHE AUFGABE IN DIE HAND GENOMMEN


Guten Morgen. Das ist Thomas Scheible. Thomas, seit wann kennen wir uns eigentlich?

Hans, Du hast mich im Jahr 1990 getauft, aber schon Ende der 80er, im Altersheim am Friedenspark, hast du einen Gottesdienst gehalten, bei dem ich mit der Klarinette Weihnachtslieder gespielt habe. Also wir kennen uns schon eine ganze Weile.

Auf dem ersten Weihnachtsmarkt vor fast vier Jahren haben wir das erste Mal darüber gesprochen, was im Mittelmeer passiert, wie du dich dafür einsetzt und das fand ich einfach fantastisch.

Danke.

Du bist Urkölscher, du liebst das Meer, das Wasser und du kannst kochen.

Ich habe lange eine Gaststätte mit betrieben und da auch Einblicke in die Küche genommen.

Also kannst du mehr als nur Frikadellen braten. Du bist ja auch Smutje, also Schiffskoch.

Ich fahre überwiegend das Einsatzboot, mit dem wir die eigentlichen Rettungen machen, aber ich mache nebenbei auch den Smutje, und meine Frikadellen sind ohne Tiere, aber schmecken auch sehr gut.

Du bist immer wieder mit der Sea Watch 2 und Sea Watch 3 gefahren und gehörtest ziemlich oft zur Crew. Wie ist es dazu gekommen?

Ja, ich bin seit vier Jahren fester Bestandteil der Crew und in der Regel zwei Monate in Köln, einen Monat auf dem Schiff, was heißt, dass ich jetzt von den letzten vier Jahren zusammengerechnet fast ein Jahr da draußen verbracht habe. Ich habe als Ehrenamtlicher angefangen, bin auf dem Schiff auch immer noch ehrenamtlich, habe aber mittlerweile eine halbe Stelle in der Administration vom Verein Sea-Watch, bin Vereinsmitglied und auf jeden Fall Vollblut-Sea-Watcher geworden.

Was machst Du genau in der Administration von Sea-Watch?

Ich hab eine halbe Stelle innerhalb der Verwaltung im sogenannten Crewing-Team, also kümmere ich mich darum, wer wann auf dieses Schiff kommt, schreibe die Einsatzpläne, sichte die Bewerbungen und habe verschiedene Positionen auf dem Schiff, wo ich die Leute aussuche, die darauf mitfahren.

Wenn jemand kommt und sagt, ich möchte unbedingt mitfahren, den siehst du dir an?

Genau.

Gibt es auch Leute, bei denen du sagst: Nee, lass es lieber?

Ja, auf jeden Fall, das sind auch ziemlich viele. Wir haben im Jahr um die 1.000 Bewerbungen, und es fahren immer nur rund 20 Leute auf diesem Schiff mit. Wir haben ausschließlich sehr nette und interessante Bewerbungen, aber viele von Menschen, die nicht unbedingt das mitbringen, was man braucht, um auf so einem hochseegängigen Schiff unterwegs zu sein. Leider!

Dazu gehört – das ist ja auch das deutsche Syndrom –, dass wir die Welt immer retten wollen. Wahrscheinlich sind Standfestigkeit, Bodenhaftung und eine praktische Orientierung eine wichtige Bedingung. Wie wichtig ist die Empathiefähigkeit dabei?

Die spielt eine sehr große Rolle, und die ist bei vielen Bewerber:innen auch vorhanden, die auch Erfahrung im Umgang mit Menschen in Ausnahmesituationen haben, aber das reicht nicht immer. Wir sind nur 22 Menschen auf diesem Schiff und da sollte ziemlich jede/r in der Lage sein, mit armdicken Tauen zu hantieren, ohne sich dabei die Hand abzureißen, auch eine gewisse nautische Kenntnis ist auf jeden Fall von Vorteil. Wir haben vier Ärztinnen und Ärzte an Bord, die müssen jetzt nicht die Obernautiker sein, aber sollten bestenfalls schon mal ein Seil in der Hand gehabt haben, weil da halt jede/r ran muss. Wenn das Schiff bei schlechtem Wetter anlegt, dann ist es gut, wenn die Leute eine Idee davon haben, was sie da tun.

Übt man solche Einsätze?

Ja, wir sind immer zwei, drei Tage im Hafen, bevor wir herausfahren, und üben verschiedene Manöver, üben die Rettungen selber, machen Trainings mit unseren kleinen Einsatzbooten, was dann mein Job ist, eins dieser beiden Boote zu fahren. Wir machen die Rettungen nicht mit dem Schiff, weil das nur schiefgehen kann. Wenn du so ein kleines Fluchtboot siehst und da mit einem 50-Meter-Schiff heranfährst, dann kann das eigentlich nur schiefgehen, weil die Leute versuchen, aufs Schiff zu kommen und Panik entsteht. Du fährst da mit einem kleinen Bötchen hin, und das üben wir halt vorher, wie man dieses Boot krant, also mit uns drin aufs Wasser setzt von dem großen Schiff, und wie wir die Menschen von dem Schlauchboot auf unser Boot oder aus dem Wasser auf unser Bötchen kriegen und dann von unserem Bötchen sicher auf das große Schiff über eine Strickleiter hieven. Das sind schon ein paar Sachen, wo du sehr drauf achten musst und wir bei der Crew-Einteilung sehr aufpassen, dass wir immer ein gutes Mischungsverhältnis haben aus Menschen, die das schon mal gemacht haben, und aus neuen Menschen, dass da auch immer eine gewisse Routine drin ist, weil es einfach immer ganz schnell gehen muss. Wenn was schiefgeht, geht es immer direkt um Menschenleben und nicht um Sachschaden. Dafür, dass wir das jetzt schon seit vier Jahren machen und uns mittlerweile sehr professionalisiert haben, ist es schon bemerkenswert, dass nie was passiert ist. Da sind wir ein bisschen stolz drauf, dass wir quasi als Laien eine staatliche Aufgabe in die Hand genommen und bisher auf jeden Fall weniger Dramen produziert haben als irgendwelche professionellen Kriegs- und Küstenwachenschiffe.

Was war deine Motivation, wie bist du auf diese Idee gekommen, da mit zu machen?
Ich mache das eigentlich seit ich ungefähr 16 bin, ich glaube, das war 1989. Da sind das erste Mal die Republikaner in den Kölner Rat gewählt worden, und das war das erste Mal, dass ich mit ein paar Leuten aus meiner Klasse abends über die Severinstraße gelaufen bin und selbst zusammengeklebte Flugblätter an Zigarettenautomaten gekleistert habe, wo draufstand, ich glaube, 7,8 Prozent waren das, ist zu viel. Ich bin schon sehr lange politisiert, ich mache auch seit 25 Jahren Flüchtlingsarbeit. Ich liebe die Seefahrt, bin über den Rhein und über Freunde, die irgendwelche Boote haben, aufs Bootsfahren, aufs Schiffsfahren gekommen. Schon bevor es Sea-Watch gab, war ich mir dessen bewusst, dass da Menschen auf dem Wasser sterben, und habe immer wieder mit Freundinnen und Freunden zusammengesessen und eins dieser berühmten „Eigentlich müsste man“-Gespräche geführt. Dann habe ich von Sea-Watch gehört und dachte: Ja, Flüchtlingspolitik und Boote zusammen, das musst du machen. Das hat dann auch funktioniert. Ich habe mich beworben, bin nach Hamburg auf die Werft gefahren, wo die Sea-Watch 2 gerade fit gemacht wurde, und bin seitdem fester Teil von Sea-Watch.

Erinnerst du dich an ein Erlebnis in der ersten Zeit, wo du Einsätze gefahren bist, von denen du sagst: Das ist mir eingebrannt. Es gibt ja manchmal so Situationen, Bilder, die wir fest in uns gespeichert haben, die wir aus der inneren Festplatte nicht mehr herauskriegen.

Es ist nicht eine Situation, das sind wirklich sehr, sehr viele kleine, bewegende einzelne Situationen, schöne Momente, dramatische Momente. Man muss sich das so vorstellen: Man sitzt da auf diesem Riesenschiff, stiert durch ein Fernglas, und irgendwann sieht man am Horizont so einen ganz kleinen Fleck. Dann setzt man das Einsatzboot aus und fährt hin, und entweder, es ist ein treibender Kühlschrank oder es ist ein Boot mit 140 Menschen, die dir mit aufgerissenen Augen entgegen starren. Das ist auf jeden Fall bis heute so ein ganz, ganz prägender Moment. Ja, und dann da anzukommen, und die Menschen danken erst Mal welchem Gott auch immer und dann dir, das ist bis heute sehr bewegend. Dieses Gefühl – ein Mitfahrer hat das mal so schön gesagt –, dieses Gefühl, sich auf einmal in der „Tagesschau“ wiederzufinden, also auf einmal mitten in irgendeinem Geschehen zu sein, was man eigentlich nur aus dem Fernsehen kennt, ist schon seltsam.

Da sitzen junge Männer auf den Schläuchen, weil das die Überlebensfähigsten und die Stärksten sind, und dann heißt es oft: Ja, guck mal, da kommen all die Testosteronmänner. Wie sieht das in der Realität aus?

Das ist anders, das ist sehr gemischt. Ja, der Männeranteil ist größer, aber es gibt immer auch Frauen und Kinder, und die Männer sitzen außen auf den Schläuchen. Die Boote sind immer so vollgestopft, dass gar nicht alle im Bootsinneren sitzen können, sondern die Männer dann wirklich auf diesen Schläuchen sitzen, mit einem Fuß im Wasser, und die Frauen und Kinder sitzen im Bootsinneren, was vermeintlich sicherer ist. Aber diese Boote sind nie dicht, die haben Benzin in irgendwelchen billigen Plastikkanistern herumstehen, die auslaufen. Das heißt, die Menschen im Boot sitzen wirklich in so einer Gülle aus Exkrementen, Salzwasser, Benzin, Erbrochenem, was auch immer, und haben dadurch, weil Benzin und Salzwasser eine sehr aggressive Mischung sind, immer sehr, sehr starke Verbrennungen am Unterleib. Unser meist benutztes Medikament ist Flammazine, eine Salbe gegen Brandwunden. Ja, und es ist eine sehr breite Mischung. Da sind auf jeden Fall auch kräftige junge Männer bei, aber wer bei uns ankommt, der war mal kräftig. Das sind alles Leute, die schlimme Sachen erlebt haben auf ihrer monate-, teilweise jahrelangen Flucht. Und dass die alle Smartphones haben, stimmt übrigens auch nicht. Die meisten haben eine Unterhose am Leib, und das war’s. Die haben noch nicht mal Schuhe an.

„DER WOLF HAT KREIDE GEFRESSEN“

Wir haben ganz aktuell wieder die Situation, dass die Ocean Viking von Ärzte ohne Grenzen mit ungefähr 180 geretteten Menschen auf See herumkurvt und in keinen Hafen einlaufen darf. Die Geschichte kennen wir ja pausenlos, und du hast sie auch erlebt mit der Sea-Watch. Was heißt das, nicht einlaufen zu dürfen, keinen Hafen zu haben, mit den vielen Menschen an Bord ein- und ausgesperrt zu sein? Das muss eine Belastung für die Crew und die Gäste sein, wie ihr die Geretteten nennt. Das finde ich ein wunderbares Wort, nicht Gerettete, sondern Gäste zu sagen. Was läuft da eigentlich ab?

Ja, das baut sich so langsam auf. Wenn die bei uns an Bord kommen, sind die erst mal happy, fallen auf die Knie, beten, tanzen, schreien, umarmen sich, was auch immer. Ich hab das letztes Jahr Weihnachten/Neujahr selbst erlebt, dass wir 22 Tage lang 37 Menschen an Bord hatten und die EU darüber gefeilscht hat, welches Land vier aufnimmt und welches Land sechs aufnimmt, während draußen schlimmste Winterstürme tobten. Das Einzige, was wir genug hatten, waren Kotztüten, die wir wirklich die ganze Zeit gebraucht haben. Ja, das schaukelt sich dann so hoch. Erst mal sind die Menschen entspannt und glücklich, auf Dauer werden sie aber sehr nervös, weil sie schon mitkriegen, dass wir irgendwie gute Menschen sind, aber natürlich auch nicht sicher wissen, wie sehr sie unserer Entschlossenheit, sie auf gar keinen Fall zurück nach Afrika zu bringen, trauen können. Die kriegen ja mit, dass wir keinen Hafen anlaufen dürfen, dann vergeht wieder ein Tag, und es vergeht wieder ein Tag, wir dürfen da nicht hin, wir dürfen dort nicht hin, und irgendwann machen sie sich halt Gedanken, und irgendwann kriegen sie natürlich einen Koller. Die sind bei uns auf sehr, sehr engem Raum untergebracht. Wenn das Wetter gut ist, haben sie viel Platz auf dem Achterdeck, im Winter sind alle in einen sehr, sehr kleinen Raum, man kann sagen, gepfercht. Es waren starke Stürme, der Raum ist kaum möbliert, wir haben die wirklich wie Gepäckstücke mit Spanngurten am Boden befestigt, damit die nicht durch dieses Schiff fliegen. Das ist natürlich, so nett wir sind, keine Behandlung, die man sich irgendwie wünscht. Am Ende haben wir Schutz vor dem Sturm im Windschatten von Malta gesucht. Wir hatten ein Verbot, in maltesische Hoheitsgewässer zu fahren, das haben wir gebrochen insofern, dass wir näher an die Insel herangefahren sind, damit wir ein bisschen im Windschatten sind, sind aber nicht in den Hafen eingelaufen, weil uns das das Schiff gekostet hätte. Das ist immer so eine Abwägung, nimmt man jetzt Rücksicht auf die Menschen, die man an Bord hat, auf deren Wohlbefinden, oder nimmt man Rücksicht auf das Schiff, damit man nächste Woche auch noch Menschen retten kann. Ja, da waren wir sehr nah an Malta, und da sind dann auch die ersten ins Wasser gesprungen und haben versucht, herüberzuschwimmen, und wir mussten sie wieder einsammeln, weil sie es definitiv nicht geschafft hätten. Das sind Situationen, die es immer wieder auf Rettungsschiffen gibt, dass Menschen wirklich aus Verzweiflung ins Wasser springen und versuchen, in die Freiheit zu schwimmen.

Wie verarbeitest du das, wie verarbeiten die Crewmitglieder solche Erlebnisse?

Ich glaube, ich arbeite noch dran. Wir haben eine psychologische Betreuung vor und nach den Einsätzen auf dem Schiff als Crew und auch in Einzelgesprächen. Wir haben die Möglichkeiten eigentlich in jeder Stadt – es gibt so ein Netzwerk von Notfallseelsorger:innen und Supervisor:innen, an die sich jedes Crewmitglied jederzeit anonym wenden kann. Da gibt es eine Liste, nach Postleitzahlen sortiert, und in jeder Stadt und in jedem kleineren Ort ist jemand. Das nehmen die Leute in Anspruch, das habe ich auch schon in Anspruch genommen. Meine Verarbeitung ist definitiv, darüber zu sprechen, egal ob in einem Rahmen wie hier oder in kleineren Runden. Ich verarbeite die Dinge, indem ich sie mit anderen teile. Ich habe zum Beispiel nach meinem schlimmsten Einsatz, wo wirklich 50 Menschen vor unseren Augen ertrunken sind, während wir die anderen 100 gerettet haben, Leute in meinem Freundeskreis gesucht, die sich mit mir zusammen die Videos davon angucken. Das war schwer, diese Leute zu finden, ich wollte auch niemanden dazu nötigen, aber für mich war das total wichtig, das zu teilen. Ich hab auf meinem Boot immer eine Kamera auf dem Kopf und eine Kamera hinter mir, weil es wichtig für uns ist, alles zu dokumentieren, gerade wenn es irgendwie zu Übergriffen kommt von irgendwelchen Milizen oder für uns, quasi als Lehrmaterial. Je schlimmer der Einsatz war, desto mehr sitze ich abends zu Hause und gucke mir diese Videos an, weil ich das einfach brauche zur Bearbeitung, zur Aufarbeitung, und mir das sehr wichtig ist, dass Menschen, die mich auf welche Art auch immer kennen, schätzen, lieben, das mit mir teilen und einfach wissen, was ich da erlebt habe.

Das Teilen, und dass es Menschen gibt, die zwar keine Rettungsfahrten mitmachen, aber zuhören und da sind und auf die Art das mittragen, das finde ich super. – Ich würde jetzt gerne auf Horst Seehofer und die libysche Küstenwache eingehen. Ich freue mich so sehr, dass Gerhart Baum, der erste Gast hier im Kölner Talkgottesdienst, seinen FDP-Vorsitzenden Lindner schallende Ohrfeigen verpasst hat für seine menschenverachtenden Aussagen zum Ertrinkenlassen. Es geht um den angeblichen „Pull-Faktor“: Sea-Watch und die Rettungsschiffe, so heißt es immer wieder, sorgen dafür, dass so viele Menschen deswegen aufs Mittelmeer fahren, weil sie wissen, dass sie gerettet werden. Thomas, mit dem Vorwurf hast du es ja immer wieder zu tun.

Ja, das ist der Lieblingsvorwurf unserer Kritiker. Meine kürzeste und einfachste Antwort lautet: Da haben sich nicht Leute hingesetzt und gesagt: Mensch, pass auf, wir kaufen uns ein Rettungsschiff, fahren raus, und dann werden schon irgendwelche Leute in ein Schrottboot steigen und versuchen, zu uns zu kommen. Es war anders herum. Es sind Tausende von Menschen dort jämmerlich ertrunken, nachdem sich staatliche Rettungsdienste immer mehr zurückgezogen hatten, nachdem Italien seine Operation Mare Nostrum 2014 eingestellt hatte. Die Bootsflüchtlinge waren vor uns da, erst danach sind wir gekommen. Das wird immer wieder von Instituten und von Universitäten recherchiert und geprüft: Diesen Pull-Faktor gibt es nicht. Es fahren genauso viele Boote heraus oder mehr noch, wenn keine Rettungsschiffe da sind, und es sind unheimlich viele Menschen ertrunken in dieser Lücke zwischen 2014 und 2015, nachdem das italienische Programm beendet wurde. Wir haben nichts damit zu tun, dass Leute herausfahren. Es kann durchaus sein, dass irgendein Schleuser auch mal auf einer elektronischen Seekarte sehen kann, wo unsere Schiffe sind. Wenn der ein Boot herausschickt und es in unsere Richtung schickt, dann ist das doch gut, weil die Menschen nicht in den sicheren Tod fahren. Aber diese Menschen, die werden da herausgeschoben, und es ist total egal, ob wir da sind oder nicht, für den Schleuser.

Was ich so erschreckend finde bei solchen Diskussionen, dass nicht gesehen wird, dass da Menschen auf der Flucht sind, weil sie zu Hause keine Chance haben. Keiner verlässt freiwillig sein Zuhause, seine Wurzeln. Ich sehe das sehr stark bei Hermon aus Eritrea, der als Jugendlicher geflohen ist und den wir zweimal freigekauft haben, im Sudan und in Libyen, der gestern auch wieder bei mir war. Er leidet sehr darunter, seine Heimat verloren zu haben, seine Geschwister noch dort zu haben und hier mit seiner Mutter allein zu sein und den Geschwistern nicht wirklich helfen zu können. Er soll sagen, dass er glücklich ist, in Deutschland zu sein, und er sagt auch: Ich bin jetzt hier zu Hause. Gleichzeitig ist er aber auch in Eritrea zu Hause, und das zerreißt ihn fast. Man verlässt seine Heimat nicht einfach so. Alle wissen, dass der Weg lebensgefährlich ist, der Weg durch die Wüste allein schon. Die Wahrscheinlichkeit, Menschenhändlern zum Opfer zu fallen, ist extrem hoch, von ihnen ausgeschlachtet zu werden, die Organe entnommen zu bekommen, ist hoch. Auf das Boot zu steigen, das ist Glück. Die Wahrscheinlichkeit, mit dem Boot unterzugehen, ist hoch. Wie verzweifelt müssen Menschen sein, dass sie all diese vielfachen Risiken auf sich nehmen und es trotzdem tun? Und wie krank sind Menschen, die behaupten, dass Rettungsschiffe einen Sog verursachen würden. Unsere Wirtschaft und unsere Politik verursachen den Sog, aber es ist kein Sog, weil die meisten sowieso in Afrika bleiben. Und jeder hat einen Namen, einen Vornamen, ein Alter, eine Mutter, einen Vater, soweit sie denn noch leben Großeltern, eine Geschichte, ist ein Mensch, hat seinen eigenen einzigartigen Fingerabdruck. Deswegen ist die Seenotrettung, die ihr macht, so unverzichtbar.

Ja, und wir nennen auch immer als eins der Beispiele: Wenn wir die Feuerwehr abschaffen, wird es immer noch Menschen geben, die mit einer Zigarette im Bett einschlafen.

Jetzt haben wir den großen Wandel des Horst Seehofer, Bundesinnenminister, eines absoluten Hardliners erlebt. Der hat uns, seit er Minister ist, das Kirchenasyl abschafft und uns dermaßen Knüppel zwischen die Beine geworfen, dass Kirchenasyl eigentlich unmöglich geworden ist und sich auch immer weniger Gemeinden trauen, das zu gewähren. Wir haben trotzdem sieben Kirchenasyle hier in der Lutherkirche laufen, wir stellen uns dem entgegen. Wir lassen uns nicht einschüchtern und halten da durch. Ist stressig, ist aber so. Da entlarvt sich ein Innenminister eben auch, wenn er uraltes heiliges Recht infrage stellt, Menschen zu schützen für einen bestimmten Zeitraum. Jetzt sagt er ja laut und deutlich, dass Deutschland bereit ist, 25 Prozent Gerettete von den Rettungsschiffen aufzunehmen. Frankreich ebenfalls 25 Prozent, das ist der Deal, das ist schon die Hälfte, und die restlichen 50 Prozent wollen sie am Montag in Malta verhandeln, wie sich das dann noch verteilt. So ist das Problem gelöst, dass die Rettungsschiffe nicht in Häfen einlaufen dürfen. So! Da wundert man sich: Auf der einen Seite hat unser massiver öffentlicher Protest schon gewirkt. Dieser Mann hat gemerkt, dass er seine knallharte Linie nicht durchhalten kann, die Menschen einfach ertrinken oder sie nicht an Land zu lassen. Also erinnert er sich irgendwie vielleicht an das Christlich-Soziale, wobei die vielleicht gar nicht mehr wissen, was das ist. Aber was heißt das wirklich? Wird ein Wolf plötzlich zum Schaf, oder bleibt er Wolf und zieht sich ein bisschen Fell über, den Schafspelz?

Der Wolf hat Kreide gefressen oder die Wölfe haben Kreide gefressen. Es ist in den letzten Monaten ein starker öffentlicher Druck entstanden, nicht zuletzt durch die sehr medienwirksame Geschichte mit unserer Kapitänin Carola Rackete, die vor mittlerweile fast drei Monaten entgegen aller Anordnungen nach Lampedusa in den Hafen eingefahren ist. Seitdem ist übrigens auch unser Schiff nach wie vor beschlagnahmt. Das Schöne ist, dass Carola nicht ins Gefängnis musste und das Strafverfahren wahrscheinlich auch ziemlich glimpflich ausgehen wird, denn es gab eine riesige Solidaritätswelle, die bis heute anhält. Es ist aber schlimm, dass wir bis heute kein Schiff haben und die Politik sich gezwungen gesehen hat, über diese große Öffentlichkeit, sich über diese mediale Aufmerksamkeit, die wir hatten, zu äußern und da eben ein bisschen Kreide zu fressen, aber das ist auch alles sehr, sehr doppelzüngig. So sehr sich jetzt irgendwelche Staatenlenker dazu äußern und sagen, dass Seenotrettung kein Verbrechen ist, wir können immer noch nicht auslaufen. Und auf die Protestnote der deutschen Regierung gegen die Beschlagnahme unseres Schiffes, auf die warten wir bis heute. Stattdessen wurde zwischendurch unser Suchflugzeug von italienischen Behörden stillgelegt – das haben wir mittlerweile wieder lösen können.

Das ist die Moonbird.

Die Moonbird. Wir betreiben auch ein Flugzeug, mit dem wir die Menschen finden, weil staatliche Stellen sich mittlerweile auch weigern, mit uns zusammenzuarbeiten. Der neuste Clou ist, dass vor Ort von Militärschiffen unsere Funkfrequenzen gestört werden. Also es ist nicht so, dass da ein Sinneswandel stattgefunden hat, sondern man sieht sich gezwungen, öffentlich in irgendeiner Form Farbe zu bekennen, aber gleichzeitig wird dann hinter den Kulissen die sogenannte libysche Küstenwache, was einfach irgendwelche kriminellen Milizen sind, mit menschenverachtenden Mördern an Bord, weiter aufgebaut. Es wird nach wie vor alles dafür getan, dass wir unsere Arbeit nicht machen können. Es wurde die Lösung geschaffen oder man arbeitet dran, dass wir nicht mehr vier Wochen mit Geretteten an Bord durch die Gegend irren müssen, es wird aber auch alles versucht, dass wir keine Menschen mehr retten, nach wie vor.


DIE SOGENANNTE LIBYSCHE KÜSTENWACHE

Noch mal ganz konkret: Die Sea-Watch liegt in Lampedusa fest – Lampedusa ist es, oder?

Sizilien mittlerweile, sie ist überführt worden in der Beschlagnahme nach Licata in Sizilien und liegt dort fest.

Der Staatsanwalt, der Carola Rackete freigelassen hat, ist nicht auf dieser Salvini-Linie (Matteo Salvini, italienischer Innenminister 2018/2019), ein Mensch als Jurist eben auch, der das internationale Seerecht kennt. Die Sea-Watch war von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und ist vor drei Tagen frei gegeben worden. Jetzt erzähl mal, wie der Schacher da läuft. In der Zeit ertrinken Menschen. Erzähl mal den Trick, wie es weitergegangen ist.

Ja, das Schiff ist im Rahmen des Strafverfahrens gegen unsere Kapitänin Carola Rackete als Beweismittel beschlagnahmt worden von einem Staatsanwalt, mit dem wir schon mehrfach zu tun hatten, der auf jeden Fall kein Hardliner ist, der halt seinen Job macht und wo wir auch davon ausgegangen sind, dass das Schiff in absehbarer Zeit wieder freikommt. Das ist vor drei Tagen passiert, also die Beschlagnahmung im Rahmen des Strafverfahrens wurde erwartungsgemäß aufgehoben. Man hat uns dann aber zwei Tage vor dieser Aufhebung mitgeteilt, dass wir doppelt beschlagnahmt sind und man nur vergessen hat, uns das mitzuteilen, und wir noch beschlagnahmt sind, weil wir gegen eins dieser tausend Sondergesetze verstoßen hätten. Der zum Glück nicht mehr amtierende Innenminister Salvini von der sehr rechten Lega Nord hat eigentlich jedes Mal, wenn ein Rettungsschiff Gäste an Bord hatte, irgendein neues 35-seitiges Gesetz herausgebracht mit Millionenstrafen. Ja, und davon war jetzt die ganze Zeit nicht die Rede, und als schon klar war, wir werden jetzt Ende der Woche freigesetzt, wurde uns dann mitgeteilt, dass wir übrigens seit zwei Monaten auch noch wegen einem dieser Verstöße gegen diese Gesetze beschlagnahmt sind, und da fangen wir jetzt erst an mit dem Widerspruchsverfahren. Wir haben gestern den Widerspruch eingereicht, und bis zum 3. Oktober muss sich dann irgendwie der Präfekt äußern, und wir sind gerade in Sorge, dass sich das noch ein bisschen hinziehen wird.

Das ist schrecklich. – Aber ich freue mich über die Evangelische Kirche Deutschlands. Ich kenne die Diskussionen seit Anfang Mai und bin in engem Kontakt mit der EKD gewesen wegen der Seebrücke und der Seenotrettung. Die Diskussion, dass jetzt endlich beschlossen worden ist, dass die EKD auch ein Rettungsschiff ins Mittelmeer schickt, eng verbunden mit der Sea-Watch, der Seenotrettung und der Seebrücke. Es sind deswegen Menschen aus der evangelischen Kirche austreten. Deswegen! Aber andere sagen wie ich: Ich bin stolz auf meine Kirche, ich bin froh, dass die Kirche aus dem Reden ins Handeln übergeht und damit ein Bekenntnis abgibt. Da wird es dem Innenminister und der Bundesregierung schwerer fallen, der gesamten Evangelischen Kirche Deutschlands zu sagen: Das sollt ihr aber eigentlich nicht machen. Das ist eine Verstärkung, eine gute Verstärkung, finde ich. Aber wir wissen inzwischen, dass die Seenotrettung blockiert und verhindert wird – ganz bewusst, ganz strategisch, hintenherum. Deswegen gehe ich noch mal auf die libysche Küstenwache ein. Sie wird von Europa finanziert, zu einem großen Teil von Deutschland – mit neuen Schiffen, mit Ausbildung, mit Logistik, was auch immer. Gleichzeitig habe ich am Donnerstag von einer neuen Entführung gehört, der Schwester eines jungen Eritreers, den ich seit Anfang 2015 kenne. Sie wurde zum zweiten Mal in Libyen entführt, sie war auf dem Boot, sie war auf dem Mittelmeer, mit vielen anderen zusammen. Die libysche Küstenwache tat, wofür sie von Europa bezahlt wird, sie hat das Boot aufgebracht, die Leute in ein geheimes Lager gebracht, die Angehörigen angerufen, und für jeden Menschen werden 3.000 Euro Lösegeld verlangt, sonst gehen die auf den Sklavenmarkt. Das heißt, die libysche Küstenwache lässt sich doppelt bezahlen: einmal von Europa zum Abhalten und zum zweiten Mal von den Angehörigen zum Freikaufen. Dann setzen sie diese Menschen wieder auf ein Boot nach Italien. Das ist die libysche Küstenwache. Du hast erzählt, gerade ist ein Mensch erschossen worden, der aus einem Lager fliehen wollte. Man kann ganz klar sagen: Die libyschen Milizen sind Kriminelle und sie sind Mörder. Bei den Rettungen habt ihr das erlebt, ihr versucht zu retten, und die libysche Küstenwache verhindert das.

Genau. Wir nennen sie immer sehr konsequent die sogenannte libysche Küstenwache, wobei es gar nicht darum geht, die irgendwie zu beleidigen, sondern wirklich noch mal klarzustellen: Das ist keine Küstenwache. Dieses Land hat keine einheitliche Regierung, es gibt die sogenannte Einheitsregierung in Tripolis, die dann irgendwie 50 Kilometer im Umkreis von Tripolis das Sagen hat, ansonsten wird dieses Land von geschätzt 200 bis 400 Milizen regiert, und jede Miliz, die küstennah ist, hat auch ihre eigene Truppe, die sie dann Küstenwache nennt. Das muss man sich so vorstellen, dass da irgendwelche bärtigen Männer in Flipflops und in Shorts dastehen mit irgendwelchen Kalaschnikows, wo mit Gaffer Tape die Ersatzmagazine angeheftet sind, die mit einer Kippe im Maul da irgendwie durch die Gegend fahren und in die Luft schießen, wenn ihnen irgendetwas nicht gefällt. Die nehmen an irgendwelchen Trainingsprogrammen teil, haben aber tatsächlich keine Ahnung, was sie machen, und sind einfach brutale Mörder. Das sind genau die Milizen, die sich jahrelang durch Schleuserei finanziert haben. Es sind wirklich EU-Beauftragte durch Libyen getingelt, haben mit verschiedenen libyschen Milizenführern gedealt und gesagt: Okay, wie viel Millionen braucht ihr, um statt zu schleusen Küstenwache zu spielen – was natürlich wunderbar funktioniert hat, die machen jetzt einfach beides. Die schicken Boote heraus gegen Geld, fangen diese Boote dann wieder ein gegen Geld und verkaufen die Leute gegen Geld und schicken sie gegen Geld wieder heraus und sammeln sie gegen Geld wieder ein, was dazu führt, dass die sich einen Konkurrenzkampf mit uns liefern. Ich habe vorhin von den 50 Ertrunkenen erzählt. Das war eine Situation, wo wir ein Schlauchboot mit 150 Menschen gefunden hatten, die libysche Küstenwache unseren Funkverkehr mit der Seenotleitstelle mitgekriegt hatte und sich mit ihrem wesentlich schnelleren Boot als unserem ein Wettrennen mit uns lieferte. Sie waren schon am Fluchtboot angekommen, während wir gerade unsere Einsatzboote ins Wasser setzten. Die können noch nicht mal richtig manövrieren und sind dann mit ihrem Schiff über dieses Boot drübergefahren, woraufhin das auseinandergerissen ist und 150 Nichtschwimmer im Wasser waren, im November bei ein Meter hohen Wellen, und wir halt wirklich nur noch wie am Fließband die Leute aus dem Wasser gezogen haben, währenddessen von der libyschen Küstenwache erst bedroht und später auch angegriffen worden sind. Wenn es nicht so dramatisch wäre, wäre es ganz lustig: Wir sind mit Kartoffeln beworfen worden von diesem Schiff, während wir Menschen aus dem Wasser gezogen haben, nachdem sie uns vorher mit Schusswaffen bedroht hatten und wir trotzdem weiterhin Leute aus dem Wasser zogen. 50 Leute haben es auf das Schiff von den Libyern geschafft, 50 Leute haben wir aus dem Wasser ziehen können, und 50 Leute haben das leider nicht mehr überlebt. Ja, das war ein sehr krasses Beispiel, wie diese Menschen drauf sind. Nachdem klar war, dass wir jetzt trotzdem weiter retten, haben die irgendwann auch aufgehört, uns daran zu hindern, und haben wirklich alle mit ausdruckslosem Gesicht an der Reling gestanden mit ihren Smartphones und gefilmt, wie da die Leute verrecken. Ja, das ist die sogenannte libysche Küstenwache. Die haben noch nicht mal ihr kleines Rettungsboot ins Wasser gesetzt. Die standen neben Stapeln von EU-finanzierten Rettungsringen und haben die lediglich benutzt, um sie uns an den Kopf zu werfen, und nicht um die den Ertrinkenden zuzuwerfen.

Es kommt auch immer wieder vor, dass Menschen, die auf einem der libyschen Boote sind, wieder ins Wasser springen und ertrinken, bewusst ertrinken, um nicht nach Afrika zurück in die Lager gebracht zu werden. Auch das ist ein Fakt. Pia Klemp hat von einer Rettungssituation erzählt, wo Soldaten auf einem europäischen Militärschiff mit Maschinengewehren in der Hand Maschinengewehre auf die Ertrinkenden und die Rettenden gerichtet haben. Da ist die Pia ziemlich ausgerastet und hat dem Kapitän des Militärschiffes auf ihre klare, deutliche Weise zur Schnecke gemacht, das ist herrlich. Der hat dann auch angeordnet, dass die Maschinengewehre gesenkt werden. Die Soldaten blieben aber weiter in der Warteposition, während Menschen ertranken oder drohten zu ertrinken. Pia forderte dann den Kapitän auf, sich an der Rettungsaktion mit zu beteiligen. Die Antwort darauf war: Es täte ihm leid, er könnte jetzt nichts tun, da seine Mannschaft gerade in der Mittagspause wäre. Zitat, laut Pia. Das sind diese Lügen, diese Heucheleien, die die Politik begeht, und viele fallen dann auch noch darauf herein. Fakt ist: Europäische Politik verhindert Menschenrettung. Ich finde da keine Worte für, das ist einfach so beschämend, es ist niederträchtig.

Genau.

Thomas, hast du noch einen Punkt, der dir ganz wichtig ist?

Nicht wirklich, nein. Ich bin froh, dass ich hier sein kann, ich freue mich immer wieder, dass Menschen sich für das Thema interessieren, und ja, wie du gerade schon gesagt hast, dass die EKD mit uns zusammen hoffentlich in absehbarer Zeit ein Schiff betreiben wird, ist super, und ich wünsche mir einfach, dass es nach wie vor zum Thema wird. Und dass der Wolf Kreide gefressen hat, ist ein Ergebnis von einem starken öffentlichen Druck, von einer starken Anteilnahme von vielen Menschen. Ja, lasst uns da dranbleiben.

Darum geht es jetzt, genau wie bei „Fridays For Future“. Wir sind hier, wir stehen hier für etwas ein, wir verlangen und erwarten, dass von den Steuergeldern, die wir bezahlen, womit die deutsche Bundesmarine auch finanziert wird, dass deutsche Marineschiffe im Mittelmeer sich an den Rettungsaktionen beteiligen – fertig, Ende, aus. Und dass das ganz Europa tut. Da ist ganz klar, dass Europa Italien alleingelassen hat mit Mare Nostrum und der Situation, jahrelang, denn wie kommen Flüchtlinge nach Europa, ohne durch Italien zu müssen? Italien hat es am Hals gehabt, und man muss einfach sehen, dass da Menschen sind, die auch Unglaubliches leisten in der Flüchtlingsarbeit, aber das geht nur zusammen, das ist eine europäische Geschichte.

Es ist unheimlich einfach, was wir da machen. Wir haben einen Jahresetat von ungefähr zwei Millionen Euro – es wird auch immer mehr, je größer die Schiffe werden. Am Anfang waren es, glaube ich, 500.000 mit dem kleinen Schiff. Wir haben mit diesem Etat mit einer Handvoll Freiwilligen die letzten vier Jahre 60.000 Menschen das Leben gerettet. Es geht, es ist einfach, man muss es einfach nur tun!

An Spenden kommen wir nicht vorbei. Ich freue mich auch über die Aktionen von letztem Freitag, wo weltweit, man schätzt 1,4 Millionen auf die Straßen gegangen sind, auch in Köln. In allen Städten ist es weit über die Zahlen hinausgegangen, die man erwartet hat. Und Junge und Alte waren auf der Straße, das war unglaublich stark. Darum genau geht es, dass wir aufstehen und dass wir keinen Schritt mehr zurückgehen. Das heißt, spenden, wer spenden kann, und anpacken, wer anpacken kann, und dass wir uns nicht mehr einlullen und für dumm verkaufen lassen. Wer Angst hat, ist beherrschbar. Angst ist ein Herrschaftsinstrument. Die Herrschenden brauchen das, damit wir klein bleiben. Wer Angst hat, hält die Klappe, duckt sich und kriegt einen krummen Rücken. Da ist nichts mehr mit Rückgrat. Deswegen werbe ich noch mal für, „Save Our Souls“ am 3. Oktober 2019 in der Kölner Philharmonie um 20 Uhr, mit einem wunderbaren Programm. Für mich ist ganz entscheidend, dass Pia Klemp dabei sein und erzählen wird. Mitglieder des Schauspiel Köln werden Ausschnitte aus ihrem neuen Buch „Lasst uns mit den Toten tanzen“ lesen. Also das ist ein Abend, der unter die Haut gehen wird. Aber das Entscheidende ist für mich, dass wir nicht kommen, weil irgendwelche Namen oder PeterLicht oder andere da auftreten, sondern nur einzig und allein, weil eine Frau wie Pia Klemp auf der Bühne steht und erzählt. Nur deswegen, nur wegen ihr, und stellvertretend in ihrer leibhaftig anwesenden Person für alle Seenotretter und Seenotretterinnen, die auf dem Meer, auf dem Land unterwegs sind, da ein klares Bekenntnis zu setzen. Dafür muss man aufstehen, dafür müssen wir hingehen.

Zum Schluss sag ich dir einfach mal, was die Pia gesagt hat. Sie hat auf ihre unvergleichliche Art beschrieben, was die Freiwilligen für sie sind: Alle Freiwilligen in der Seenotrettung sind Diamanten im Scheißhaufen der Unmenschlichkeit. Ist das nicht genial? Also Thomas, du bist ein Diamant. Strahle weiter und danke für deine Arbeit.

Redigiert von Helga Fitzner

PROLOG
Dieser Talkgottesdienst war allein schon deshalb ein besonderer, weil unser Gast, Elias Bierdel, im Jahr 2009 schon einmal bei uns war. Bierdel war neben vielen anderen Aktivitäten früher der Vorsitzende der Kölner Hilfsorganisation Cap Anamur  und auf dem gleichnamigen Schiff unterwegs. Seit 2007 ist Bierdel Gründungsmitglied und Vorstand der Organisation „borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen e. V.“, die sich die Situation an den europäischen Außengrenzen anschaut, Hilfe leistet sowie umfassend und authentisch darüber berichtet.

Bierdel lebt derzeit sechs Monate im Jahr auf der griechischen Insel Lesbos, die nur 10 Kilometer vom türkischen Festland gelegen ist und eine große Anzahl von Flüchtlingen anzieht. Er ist also sehr vertraut mit der aktuellen Lage.

Die Verbindung zwischen Elias Bierdel und Pfarrer Hans Mörtter ist seit dem ersten Talk im Jahr 2009 nicht abgerissen. Es geht u. a. um den fundamentalen Wandel, in dem sich unsere Erde befindet, sowie mangelnde Konzepte und Protagonist*innen. Bierdel macht auf unsere Mitverantwortung aufmerksam, die wir durch unser Konsumverhalten und einen allgemeinen Selbstbetrug teilweise mittragen. Dabei könne man den Paradigmenwechsel du
rchaus als „Chance sehen und mit Freude mitgestalten“. Die konzeptlose Flüchtlingspolitik erinnere ihn an das Bühnenstück von Max Frisch „Die chinesische Mauer“, in dem der Kaiser mit einer großen Mauer die „Zukunft verhindern“ will, meinte Bierdel im Vorfeld.
Text: Helga Fitzner



„WIR DÜRFEN NICHT ZULASSEN, DASS MAN ZUM STERBENLASSEN ÜBERGEHT“

Lieber, Elias Bierdel, als du das letzte Mal hier warst, das war im Jahr 2009, da hat dein Herz noch sehr geschlagen …

… lieber Hans Mörtter, heute auch noch gelegentlich… (Gelächter).

(Immer noch lachend.) Aber damals schwebten drohend der Richter und die Staatsanwaltschaft in Italien über dir. – 19 Tage nach dem Talkgottesdienst standest du in Italien vor Gericht, denn die Staatsanwaltschaft hatte 4 Jahre Haft und 400.000 Euro Geldstrafe gefordert. So ausgeliefert zu sein, das hat dich damals auf jeden Fall sehr beschäftigt. Das war Teil eines Gerichtsverfahrens, das sich über Jahre hingezogen hatte.

Ja, das ist sehr belastend, wenn man in so eine Situation kommt. Wir hatten ja nichts Böses vor, das kann ich bis heute sagen. Wir wollten im Mittelmeer nur schauen, was da eigentlich mit den Leuten in den Booten passiert. Wir haben dann 37 Schiffbrüchige gerettet – das ist mittlerweile eine legendäre Geschichte, und dass wir dann so hart dafür angefasst und so bösartige Verdrehungen gegen uns vorgebracht wurden, gefälschte Protokolle usw., das hat mich total überrascht. Damit rechnet man nicht, und entsprechend war ich auch durchaus niedergeschlagen. Und dann die Aussicht, wirklich ins Gefängnis gehen zu müssen – ohne Bewährung, vier Jahre – für so eine Geschichte, das war dann schon ziemlich bedrückend. Am Anfang hatte ich so eine Trotzphase: Jetzt haben die aber den Richtigen, jetzt werde ich es denen zeigen. Dann wird man doch ein bisschen kleinlauter, vor allen Dingen wenn man sich klarmacht, dass ein Staat einfach über alle Möglichkeiten verfügt, die Sache immer weiter auszudehnen. Dann hätten wir Widerspruch gegen das Urteil eingelegt und dann wäre es in die nächste Instanz gegangen und so weiter, das hätte noch zehn Jahre weitergehen können. Da wurde es mir allerdings ein bisschen bang. Da suche ich dann immer die Nähe vom Hans, instinktiv. (Tätscheln einander scherzhaft).

Das ist schön. – Ich glaube, die Aktion mit der Cap Anamur und die ganze Öffentlichkeit darum haben eine ganz wichtige Funktion erfüllt. Dadurch wurde der tausendfache Tod im Mittelmeer endlich zum Thema in den Medien. Das fing da erst so richtig an.

Vielleicht hat man dazu beitragen können, das fände ich natürlich gut. Du fragst dich dann ja auch, was bringt das eigentlich. Die von uns geretteten Flüchtlinge sind abgeschoben worden, die Asylanten verprügelt, wir waren im Gefängnis, das Schiff wurde beschlagnahmt. Es war ein einziges Debakel. Aber wenn ich das an dieser Stelle sagen darf: Mein Kleinverleger, Ralf Liebe, zwingt mich immer dazu. Ich hab damals ein Buch über diese Ereignisse geschrieben „Ende einer Rettungsfahrt – Das Flüchtlingsdrama der Cap Anamur“, und wie zufällig gibt es noch ein paar Exemplare, die da vorne zur Ansicht liegen, falls sich jemand dafür interessiert. (Anm. d. Red.: Das Buch ist leider vergriffen: Stand Juni 2021)

Ich hab’s gelesen und es lohnt sich, weil es einfach viel deutlich macht. Von Oktober 2013 bis Oktober 2014 gab es die Operation Mare Nostrum. Die Italiener hatten entdeckt, dass es nicht geht, dass in ihrem Meer, in unserem Urlaubsmeer, im Traummeer, Menschen ertrinken und massenweise auch Kinder. Bei Mare Nostrum haben sie alles aufgefahren, was sie hatten, um Menschen aus den Booten vor dem Ertrinken zu retten, bis ihnen das Geld ausging. Wie siehst du in der Folge den Umgang mit dem Tod Zehntausender im Mittelmeer, der ja schon lange vorher beginnt, auf der Landroute, von der kaum jemand berichtet? Aber das Mittelmeer ist eben ein Bereich, wo wir handeln können. Frontex hat das jetzt übernommen, ohne wirklich Menschen zu retten. Hat sich in deinen Augen im Mittelmeer was geändert?

Das hat mich von Beginn an am allermeisten bedrückt und uns alle – wir haben ja da noch einen anderen Verein gegründet, „borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen“, der sich speziell damit beschäftigt hat, was an den Außengrenzen alles los ist. Wir wussten, hier sterben Menschen zu Tausenden jedes Jahr, und das war aber überhaupt kein Thema, das hat einfach niemanden interessiert. Das war nirgendwo nachzulesen, die Staaten wollten nicht, dass das publik wird, die Öffentlichkeit interessierte sich nicht, Journalisten hatten kein Bock auf dieses Thema, das war total schlimm. Wir hatten schon zu dem Zeitpunkt an die 20.000 Tote über die Jahre, unbekannte, unbeweinte Tote. Dann kam der 3. Oktober 2013, wo mal ein richtig großes Schiff mit Flüchtlingen direkt vor der Hafeneinfahrt von Lampedusa sank, und dann konnte man es nicht mehr ignorieren. Jetzt musste man da hin, und dann waren auch die Politiker, der Papst und alle da, und es wurde endlich klar, hier muss sich was ändern. Dann haben die Italiener angefangen, Schiffbrüchige zu retten. Das muss man sich mal klarmachen, das heißt im Umkehrschluss genau das, was wir auch wussten: das haben sie nämlich bis dahin nicht gemacht. Die haben die Leute ertrinken lassen, zu Hunderten, und dann haben sie gesagt, so, jetzt Befehl an die Marine, bitte alles retten, was zu retten ist! Und Soldaten sind ja gar nicht böse, sondern die machen genau, was man ihnen sagt, und also sind die los und haben gerettet. Auf einmal retten die Tausende Leute, und schon hieß es plötzlich: Warte mal ganz kurz, wie jetzt? Tausende Leute hier an Land bringen, wollen wir die denn überhaupt? Auf einmal war die Frage neu gestellt. Dann gab es keine Mittel mehr, auf diesem Niveau weiterhin Leute zu retten, und es wurde versucht, das Ganze wieder in Richtung auf eine Abwehrschlacht umzumodeln. Ich finde, es ist ein Unterschied, ob man vorher so tut, als hätte man nichts gesehen, oder ob man hinterher, nachdem man weiß, wie viele Menschenleben man mit diesen wunderbare Schiffen retten konnte, das dann wieder bleiben lässt. Wir dürfen es nicht zulassen, dass man jetzt wieder zum Sterbenlassen übergeht.

Also das geschieht, es wird wieder gestorben?

Das war die ganze Zeit so. Wenn Leute in großer Zahl umkommen, dann ist das eben völlig klar, dass es auf der europäischen Seite nicht wirklich ein Interesse gibt, das zu verhindern. Natürlich könntest du das – mit unseren Möglichkeiten, wie Satelliten und anderen Techniken, die alle im Einsatz sind. Es ist die Frage, worauf wir eben Wert legen: Jedes Menschenleben zu retten oder dafür zu sorgen, dass Leute, die wir hier vielleicht nicht haben wollen oder die uns hier Schwierigkeiten machen könnten, um den Preis ihres Todes nicht zu retten. Das ist eigentlich die Kernfrage.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat gesagt: Wenn wir den Fluchtweg zu einfach machen, dann lädt das ein, dann kommen noch mehr und dann ist die Route ganz auf. Die müssten wissen, auf was sie sich einlassen und dass sie dabei sterben können, dann überlegen sie sich das vielleicht dreimal. Aber wenn die Verzweiflung so groß ist, wenn das Leid so groß ist, dann überlegen sie nur einmal, und das heißt, sie gehen mit ihren Kindern zusammen nach Norden über das Meer. Es gibt keine Abschreckung, egal was wir tun, und es wird auch keine Abschreckung geben, wenn Europa Grenzzäune mit NATO-Stacheldraht baut und Schießanlagen einrichtet, um sie abzuhalten, denn anders wird es in Zukunft ja gar nicht gehen, glaube ich.

Das ist wissenschaftlich belegt, dass du auf diese Weise Migration und Flucht nicht verhindern kannst. Das Einzige, was du dadurch verhinderst, ist, dass die Menschen lebend ankommen. Du machst es immer schwerer und dadurch immer gefährlicher für sie. Wenn man sich das klar macht, dass es eine akzeptierte europäische Politik ist, dass man Leuten zwar Schutz und Hilfe verspricht, aber gleichzeitig keinen legalen, gefahrlosen Weg für sie offen lässt, und dass man sie zwingt, irgendein Boot zu besteigen, dass man sie zwingt, mit irgendwelchen, ja, weiß Gott wie zwielichtigen Gestalten Geschäfte zu machen. Dann beschwert man sich über die Schlepperkriminalität, obwohl wir alle wissen, dass wir die selber dadurch produzieren, weil wir ihnen einen legalen Zugang eben nicht erlauben. In Griechenland, auf der Insel Lesbos, da ist das besonders augenfällig. Die gegenüberliegende Küste ist nur 10 Kilometer entfernt und es fahren die kleinen Fähren hin und her. Da drüben stehen die syrischen Familien und wollen in Sicherheit. Die hätten auch das Geld, die Fähre zu bezahlen, aber die dürfen sie nicht betreten. Stattdessen müssen sie irgendeinen finden, der ihnen für horrende Summen so ein Drecksboot gibt, und sie müssen ihr Leben riskieren, um über diese Schwelle zu kommen. Viele sterben eben dabei, darunter auch Kinder. Wir haben gestern die Meldung bekommen, vor Agathonisi, einer dieser kleinen Ägäis-Inseln, sind auch wieder Leute ertrunken, da waren auch wieder Kinder dabei. Hört das gar nicht auf, ist das wirklich eine akzeptierte Politik?

„ES GEHT NICHT UM VERLUST SONDERN DARUM; ZUKUNFT ZU GEWINNEN“

So manche Politiker bezahlen lieber die Türkei und schließen einen Pakt mit Ministerpräsident Erdoğan, damit der die Flüchtlinge in den türkischen Lagern behält. Wenn sie dort so sicher sind, wieso kommen sie trotzdem, Elias?

Für mich bleibt die Kernfrage im Prinzip bei uns selbst hängen. Sind wir am Ende bereit zu teilen und unseren Lebenswandel hier, der ja auch wahnhafte Züge trägt, wirklich zu überdenken. Oder verschulden wir das Elend von Leuten, die woanders herkommen, zu großen Teilen mit. Entschuldigung –, wir kommen da nicht raus. Wir haben extrem unfaire Handelsbedingungen gegenüber weiten Teilen unserer Nachbarregionen. Das gilt besonders für Afrika. Unsere Agrarsubventionen machen die Märkte da kaputt, wir wissen das alles. Durch den Klimawandel gibt es in bestimmten Gegenden für die Leute keine Lebensgrundlage mehr, die müssen die Regionen verlassen. Was ist das für ein Irrsinn, dass wir Leute quasi durch unsere Initiativen, auch durch unseren Lebenswandel, den wir uns hier anmaßen, vertreiben – wir wollen vom Waffenhandel gar nicht reden usw. Sie versuchen sich hier vor den Folgen zu schützen, und ich kann es einfach nicht akzeptieren, dass wir sie einfach abschmieren lassen. Ich will nicht Teil einer solchen Gesellschaft sein. Die Dynamik im Klimawandel bleibt doch nicht bei den Afrikanern oder in Bangladesch hängen, das ist doch unser gemeinsamer Lebensraum, der hier vor die Hunde geht. Und dazu fällt uns im Moment leider nicht viel mehr ein, als Abgaswerte zu manipulieren. Ich finde wirklich, das ist enorm politisch. Das ist so eine Zeit – eine Übergangszeit, wie ich das sehe! – , in der wir noch versuchen, uns selbst und andere zu bescheißen und zu manipulieren. Dass auf diese Weise keine Lösung zustande kommt, das sollte uns schon klar sein.

Gestern stand in der Süddeutschen Zeitung ein interessanter Kommentar. „Nichts ist den Menschen hier fremder als Beschränkung im persönlichen Bereich, im persönlichen Alltag. Freiheit ist erstens der Kneipenbesuch und zweitens, dass der Wirt Heizpilze auf den Gehsteig stellt, damit man auch im Januar den Wein und den Barsch draußen genießen kann. Freiheit ist, dass Amerikaner 6,6 Milliarden Kilowattstunden Strom allein für Weihnachtsbeleuchtung aufwenden, mehr als Tansania im gesamten Jahr verbraucht.“ Das ist der Wahnsinn. Wer sind wir, was maßen wir uns an? Dann sehe ich hier Angst, Angst, Angst. Aber vor was denn? Dass wir was verlieren? Dass wir vielleicht nicht mehr unterm Heizpilz draußen sitzen können? Ich brauche keinen Heizpilz, ich ziehe einen dicken Pullover an und sitze auch so gerne draußen.

Okay, das ist das Gute am Klimawandel, den Heizpilz brauchen wir dann auch bald nicht mehr. – Nein, ich meine, wir müssen aufpassen, dass das nicht banal wird, dass das nicht wohlfeil wird, weil wir das alle wissen, und nicht nur hier in diesem Raum, sondern die gesamte Gesellschaft hat das schon irgendwie verstanden. Ich sehe das so: Wir sind in einer Phase des Übergangs, das spüren wir, dass die alten Konzepte, die Rezepte meistens nicht mehr funktionieren, wir wissen aber noch nicht genau, wo die Kiste hingeht. Das verunsichert durchaus. Ich bin auch der Meinung, dass Angst, also sagen wir mal tiefe Sorge sehr berechtigt ist, wenn wir hingucken, wie sich das Ganze entwickelt. Es gibt einem ja auch Energie, wenn man sich engagiert und etwas tut, um was zu verändern. Welche Möglichkeiten da sind und was da wirklich noch für Interessen eine Rolle spielen, ist eine andere Frage, aber wie kriegen wir wirklich zusammen den mutigen, entschlossenen Schritt hin. – (Jauchzendes Baby im Hintergrund). Das ist übrigens meine Enkelin Maya, es geht ja eigentlich um sie. Natürlich möchte sie gerne schon mitreden, aber sie ist noch nicht so weit, dass sie das jetzt äußern könnte. – Also wie kriegen wir das hin, dass die Maya hier noch in 20 Jahren zum Talkgottesdienst kommen kann, und dass wir alle zusammen den Mut nicht verlieren und auch nicht die Gelassenheit, die gute Laune, die wir dazu brauchen. Es geht ja nicht um etwas, was wir verlieren würden, sondern es geht ja darum, dass wir Zukunft gewinnen, dass wir überhaupt Perspektiven gewinnen. Warum wenden sich so viele Leute von der Politik ab, auch viele junge Leute? Die ist halt nicht sehr überzeugend, das ist immer noch das alte Denken, das alte „Rumfummeln“. Das ist ein Spiel, was eigentlich keiner mehr will, was auch überhaupt kein bisschen weiterführt. Ich frage mich, wo die Räume, die Plattformen und die Begegnungsmöglichkeiten sind, um was anders zu machen. Da ist das Beispiel eurer Südstadt-Kirchengemeinde schon mal nicht schlecht. Kirchenräume sind sehr geeignete Räume, wo man angstfrei miteinander ernsthaft reden kann darüber, was eigentlich und wie weitergehen sollte. Denn dass es weitergeht, Maya, also daran gibt es keinen Zweifel. (Applaus)

Wir haben am Freitag ein Treffen bei mir gehabt mit Vertretern und Vertreterinnen der Willkommensgruppen hier in Köln. Es gibt einen Arbeitskreis Politik, und wir haben gesagt, wir müssen unbedingt was sagen zu der Situation seit den Silvesterübergriffen hier in Köln und drei anderen Städten, und haben eine Stellungnahme verabschiedet im Konsens mit ganz vielen Freiwilligen, die in den Initiativen hier in Köln und in ganz Deutschland arbeiten. Die gehen alle in die gleiche Richtung, nämlich wir sagen: Jetzt erst recht! Wir stehen hier und wir setzen uns ein, und wir machen das mit einer hohen Professionalität, weil der Staat da völlig versagt – finanziell wie logistisch, strukturell und von der Strategie her. Wir schaffen die Orte, wir schaffen die Räume miteinander, stehen dafür ein, und wir lernen in einer rasenden Geschwindigkeit dazu, wie wir handeln können, wie wir handeln müssen oder wie wir manch einem Arschloch unter den Männern in den Arsch treten müssen. Auch das tun wir in den Flüchtlingsinitiativen. Das sage ich einfach mal, das gehört nämlich mit dazu. Es ist nicht neu, was Silvester passiert ist, ist uns allen nicht neu in der Flüchtlingsarbeit, weil wir wissen, Männer sind Männer, egal woher sie kommen. Und dieses Gerede, der böse Araber und der kann ja gar nicht anders, ist völliger Schwachsinn. Ein Stück weit ist da was dran natürlich am patriarchalen Männerbild, aber wer sagt, dass wir das in Deutschland nicht haben, der lügt, das ist einfach so. Dem müssen wir uns stellen, das ist eine ganz andere Nummer, und das tun wir eben. Das sind die Räume, die neu entstehen, glaube ich, aber wir müssen uns trauen. Wenn wir uns nicht trauen, das Handeln in die Hand zu nehmen, dann geht’s schief, dann geht’s richtig schief. Du gehörst einfach auch zu denen, die das immer getan haben, und da würde ich mal sagen: Danke, Elias!

 

Jetzt frage ich dich aber zu Lesbos noch mal: Du bist nach Lesbos gefahren, weil es irgendwie auch deine Insel ist, du wolltest endlich dein Buch schreiben. Vor zwei oder drei Jahren, als wir in Österreich zusammen waren, hast du gesagt: Ich steige aus der Flüchtlingsarbeit aus, ich schreibe jetzt mein Buch. Ich fand das toll. Dann bist du nach Lesbos gefahren, um deine Ruhe zu haben, das Meer, um zu schreiben, und was ist passiert?

Der Herr hatte was anderes mit mir vor. Ich habe zwar doch ein paar Bücher geschrieben, aber eben nicht jene Geschichte, die ich gerne aufschreiben wollte. Es war eben noch nicht der richtige Moment, aber jetzt möchte ich das trotzdem machen und mich auch von der Flüchtlingshilfe zurückziehen. Ich hab mich jetzt schon sehr lange Zeit mit diesen sehr, sehr ernsten Fragen und speziell auch den Umständen an den Außengrenzen mit den vielen Toten befasst. Das ist sehr belastend, sehr schwer und jetzt würde ich mich gerne mal um andere Themen kümmern. Das war die Grundidee, und das mach ich auch.
Eigentlich wollte ich schon ab diesem Jahr keine Termine in Sachen Flüchtlingshilfe mehr annehmen und habe für Hans Mörtter eine Ausnahme gemacht. Deshalb ist das hier das letzte Mal heute, dass ich hier öffentlich etwas zu diesem Thema sagen möchte. Das geht auch aus dem Gefühl heraus, dass das jetzt so viele tun und dass das eine riesige Bewegung geworden ist. Ich finde das wunderbar, es ist alles richtig und gut. Auch wenn Behinderungen durch die Obrigkeit und durch extrem fragwürdige Politik entstehen, werden wir uns davon nicht mehr abbringen lassen. Denn es geht hier wirklich um die Zukunft dieser Gesellschaft, unseres Lebens und dessen, was wir wichtig finden. Wir können das jetzt neu definieren, wir können das neu bestimmen, in welchem Land wir leben wollen und wie das aussehen soll. Das werden wir diskutieren, schlauerweise auch mit einigen Leuten, die möglicherweise nicht so direkt in Deutschland geboren sind.
Ich finde die Tatsache bedrückend, dass diese Entwicklungen der Massenflucht, wie der Bürgerkrieg in Syrien, nicht neu sind. Leider, leider. Man hätte es voraussehen können, dass sich da viele Leute auf den Weg machen werden. Aber die Politik hat das ignoriert und dann am Ende den Notstand ausgerufen, das nervt mich natürlich total. Mein Begriff von Verantwortung bei Regierungsmitgliedern wäre schon so, dass ich den jeweiligen Minister fragen möchte, wo warst du denn die letzten fünf Jahre, wenn du mir jetzt erzählst, du bist total überfordert und du weißt nicht, was du machen sollst. Natürlich ist es viel besser, wenn wir etwas vorhersehen, entsprechend steuern und planen. Wenn man es jetzt aber dazu kommen lässt, dass quasi der Zaun umfällt und die Leute gerannt kommen, das ist nicht optimal. Aber das ist die Situation, mit der wir jetzt umgehen müssen. Wenn wir das hinkriegen, dann können wir im Jahr 2016 ein bisschen vernünftiger planen und die Sachen so gestalten, dass die auch gar nicht mehr jene Bilder erzeugen, die dann wieder Ängste auslösen und verstärken. Denn das ganze Chaos von den Außengrenzen wirkt ja wie ein einziges großes Programm, um die Ultrarechten in Europa stark zu machen. Es ist ja nicht zu fassen! Das ist natürlich bedenklich, da müssen wir raus. (Applaus)

Da müssen wir raus. Wir sind gefragt, wir sind die Experten. – Noch mal zurück zu Lesbos.
Du hast gesehen, was passiert, und so, wie du nun mal gestrickt bist, hast du dann auch nicht zusehen können, sondern hast gehandelt und ein Flüchtlingscamp gegründet. Das ist ein ehemaliger Campingplatz, der schon eine Grundstruktur hatte. Erzähl mal davon, was da gelaufen ist. Das Projekt heißt Proti Stassi, erste Station.

Das war so ähnlich, wie du gesagt hast. Ich habe früher viele Jahre auf Lesbos gelebt und auch meine Tochter Sophie, die Mama von Maya, ist da aufgewachsen. Als ich jetzt im Juni dort war und mir klar wurde, was sich da abspielt, musste ich irgendwas tun. Ich habe dann versucht, mit dem Verein borderline europe, den wir 2007 gegründet haben, dort was aufzuziehen. Es sollte kein Camp werden, es ging uns darum, einen ersten Empfang zu organisieren, denn an diesen Stellen gibt es keinen Staat. Da gibt es nichts, was für Menschen da ist, die mit ihren Schlauchbooten ankommen, die da irgendwo auf die Felsen prallen. Dann sind aber sehr, sehr viele Leute auf die Idee gekommen, dass man da was machen müsste, fast könnte man sagen auch mal ein paar zu viele vielleicht. Es kam da leider zu Auswüchsen von hysterischen humanitären Überreaktionen. Das ist ein heikles Thema. Navid Kermani hat das in einem langen SPIEGEL-Essay sehr, sehr schön beschrieben, wie da blonde Mädchen aus skandinavischen Ländern am Strand im Bikini rumhüpfen und wahllos in Schlauchbooten ankommende Flüchtlinge an sich drücken oder sie umarmen usw. Da muss ich einfach sagen, das hat vielleicht auch mit der Wahrnehmung zu tun. Wer da aus Afghanistan, Pakistan oder so kommt – hier bei Dir darf man ja eine klare Sprache führen –, die dachten, sie sind im Nuttenparadies gelandet. Ist ja klar, die konnten das doch gar nicht einordnen. – Wir haben versucht, da etwas Vernünftiges aufzuziehen, und merkten dann schnell, dass die lokale Bevölkerung, und das hat mich entsetzt, entschieden gegen unser Projekt war. Ich verstehe, dass in Griechenland die Bevölkerung komplett mürbe ist nach diesen Jahren von Sparauflagen und diesen ganzen EU-„Reform“-Programmen, die glauben im Prinzip an gar nichts mehr. Jetzt kriegen die oben drauf noch Flüchtlinge in einer unglaublichen Größenordnung. Durch Lesbos zogen alleine im Oktober 100.000 Leute, das ist weit mehr als die Gesamtbevölkerung der Insel. Manche kleine Dörfer an der Küste bestehen aus 300 Menschen, und jede Nacht kamen da 1.000 bis 1.200 Leute an. Ja, das macht total Angst. Wir wollten unsere Hilfe anbieten – für Flüchtlinge, aber auch für die Einheimischen, die mit der Situation sichtbar überfordert waren. Nachdem wir einen leerstehenden Campingplatz nicht bekommen hatten, wollten wir eine alte Fabrik zum Winterquartier umbauen. Was dann passierte, war entsetzlich bürokratisch und fies. Plötzlich wurde Stimmung gegen uns gemacht, wir bekamen auf einmal antideutsche Sachen zu hören und es wurde behauptet, dass wir nur gekommen wären, um hier Geld zu machen. Dabei sind wir alle völlige Trottel und ehrenamtliche „Garnixe“ da. Aber es war nicht mehr durchzukommen, man hat uns das Wasser abgestellt und verhindert, dass wir das Winterquartier bauen können. So, und jetzt, wie schön ist das denn, vor drei Tagen rufen mich unsere Leute aus Lesbos an und sagen: Elias, wir wollten dir nur mitteilen, wir haben es jetzt gerade eröffnet. Vor drei Tagen, „Proti Stassi“, immer noch gibt es da bestimmt Widerstand und Schwierigkeiten und sonst was. Aber das ist das erste Winterquartier für Flüchtlinge, weil es auf der Insel extrem kalt werden kann – wir haben das selber erlebt früher, bis zu minus 20 Grad, das ist gar nicht witzig. Die Eröffnung ist für mich eine unheimlich schöne Sache, dass ich sagen kann, jawohl, irgendwas klappt doch. Aber es war enorm zäh, und man musste durch all diese Sachen durch – Bürgerversammlungen, sich beschimpfen lassen, ja, wie das hier eben auch ist.

Ist dieses Gelingen auf euren Einsatz oder auf ein Einlenken der Bevölkerung zurückzuführen?

Manchmal ist es ein bisschen banal und trivial, und die Wege des Herrn sind unergründlich. Die haben gemerkt, dass es überall dort, wo solche Einrichtungen sind, auch Jobs für die lokale Bevölkerung gibt. An dem Punkt haben sie gemerkt, dass sie im Winter Geld verdienen könnten. Dann hat das eben auf diese Weise gezogen. Es ist uns ja wichtig, auch der lokalen Bevölkerung zu helfen. Es ist ja nicht so, als ginge es denen super, und den anderen, die kommen, allen schlecht. Natürlich haben die gemerkt, dass viele von den syrischen Familien prächtigere Handys hatten als die lokalen Jugendlichen. Ja, da ist das wirklich auffällig, und damit muss man auch argumentativ umgehen. Aber anscheinend ist das Winterquartier jetzt in Gang gesetzt. Das ist für mich auch deshalb wichtig, weil ich mich selbst da so reingehängt habe, weil Leute dafür Geld gespendet haben. Wenn du dann nach Hause kommst und sagst, dass es nicht geklappt hat, obwohl es total wichtig wäre, dann ist das natürlich nicht so schön. Jetzt kann man sagen kann, dass wir da wenigstens noch ein bisschen was Gutes machen können.

Christos Koutsouras ist der Künstler, der unser Altarbild gemalt hat. Der war über Weihnachten bei seiner Familie auf Samos und hat mir Bilder geschickt. Auf denen sind die Schwimmwesten und die Rettungsringe an der Küste zu sehen. Da sind aber auch Kochtöpfe drauf. Die Familie lebt in einem sehr kleinen Dorf. Christos sagt, dass die Griechen aufgrund des Erwürgens durch die Europäische Union einfach nichts mehr haben und es allen mittlerweile sogar egal ist, dass das so ist und sie sogar noch beschimpft werden. Diese Menschen haben tonnenweise Essen gekocht. Die haben nichts und kochen für 1.200 Menschen in diesen Tagen Essen, die ständig neu mit den Booten da ankommen. Das war das, was den Christos so bewegt hat, es ist der Wahnsinn, was da passiert. Das ist eben auch Griechenland, dass es einfach Menschen gibt, die dieses Ur-Recht aufrecht erhalten. Die Gastfreundschaft ist nämlich ein heiliges Recht, und wer davon redet, dass wir unsere Kultur verteidigen müssen, aber nicht mehr weiß, dass Gastfreundschaft ein wesentliches Standbein unserer Kultur ist, der weiß nicht, wovon er redet. Wir in Deutschland haben die Chance, das wieder tun zu können, weil wir es wieder lernen, dass das zum Ur-Menschsein dazugehört. Das heißt aber nicht, dass wir unkritisch oder blauäugig mit den Situationen umgehen, sondern dass wir sehr wachsam sind, aber ein Gehirn haben, das der liebe Gott uns auch geschenkt hat und das wir gut benutzen können.

Ja, wollen wir denn wirklich mit denen, die da ankommen, zusammensitzen und neu diskutieren, wie wir unser gemeinsames Leben hier künftig gestalten, oder sind viele doch noch wieder nur in irgendeiner Warteschleife, in einer Duldung oder irgendwo abgestellt? Ich weiß, dass es hier in Köln ganz viele Gruppen gibt und ganz engagierte Politik gemacht wird. Aber da gibt es im Zeichen dieser Notsituation die Lösung, dass man im Umland irgendwelche Einrichtungen anmietet – Jugendherbergen und Ähnliches – und da jetzt erst mal Leute reinstopft. Im Fachterminus: ohne Tagesstruktur. Das heißt ohne eine Betreuung, die irgendeinen Sinn ergibt. Ich habe mit meinen Freunden darüber geredet, wenn du uns in dem Alter mal irgendwie einen Monat in einem Kaff eingeschlossen hättest, die Ideen, die uns dann gekommen wären, und zwar besonders mir, wären nicht die schlauesten gewesen, das steht mal fest. Also wer will das? Es ist doch völlig klar, wenn die Leute da sind, dann brauchst du auch eine entsprechende Kultur und den Willen, was mit denen anzufangen. Darf ich noch kurz sagen: Die Schweden sind da auch schon ziemlich fertig, weil es ihnen zu viel wird, aber was die seit Jahren machen ist total schlau: Jeder, der da ankam, dem haben die gesagt, die gute Nachricht ist: Herzlich willkommen, du hast ’n Job. Oh, jetzt schon? Ja, und zwar, du lernst jetzt Schwedisch, aber richtig, drei Jahre, und wenn du das hast, dann reden wir darüber, wie es hier für dich weitergeht. Viel Erfolg! Das finde ich total richtig. Absolut super! Wir in Deutschland haben das nicht gemacht. Wir haben die Leute nicht in dieser Weise eingeladen, hier dabei zu sein, sondern sie sich selbst überlassen. Dann passieren die Sachen eben so ruckweise. Das ist nicht gut. Deutschland hat eine ganz besondere Situation gegenüber anderen europäischen Ländern, wir haben nämlich ein echt demografisches Problem. Und die Kanzlerin hat das wohl gewittert, dass sie hier eine Möglichkeit hat, in einer extremen Hauruckaktion an diesem Problem ein bisschen was zu ändern. Ich denke, dass man in zehn Jahren das ganz klar sehen wird, wie Deutschland seine demografische Lücke, jedenfalls in Teilen, aufgepolstert hat im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft. Aber im Moment könnte es sein, dass sogar die alles überstrahlende Superkanzlerin dabei kopfheister geht, dass die jetzt fällt, weil sie, auf mittlere Sicht, zwar spät, aber das Richtige getan hat.

 

WIR TRETEN IN EINE GANZ NEUE ÄRA EIN

Zum Thema Angst noch mal: Es sind ja gerade Politiker der CDU und der CSU, aber auch bei der SPD, die Angst haben, dass es eben zu viel wird, dass wir nicht klarkommen. Das ist wie so ein wabernder Nebel, der sich durchs Land zieht. Ich hab gestern jemanden aus unserer Gemeinde getroffen, der sagte, das ist Wahnsinn. Die unterschiedlichen Sichtweisen ziehen sich durch Freundeskreise und Familien. Er sagte, wir streiten uns, wir sagen, wie kannst du nur so denken, dass Flüchtlinge eine Gefahr sind oder dass man Angst haben muss vor der Situation und vor ihnen. Das wird ja medial genährt.

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Aber ich finde es schon höchst berechtigt, dass wir uns ernsthafte Sorgen machen: Staatsschuldenkrise, EU-Krise, Klimawandel… da gibt es sehr schwerwiegende Probleme, die unbedingt schnelles Handeln erfordern.
Die populistischen Stimmenfänger wollen aber gar keine Lösungen anbieten, die schüren nur Ängste – und erzeugen damit eine Stimmung, die ihnen ein paar Prozent bringt. Ich habe ja hunderte öffentliche Veranstaltungen zum Flüchtlingsthema gemacht, auch international. Einmal saß ich in Brüssel in der schwedischen Botschaft – auf neutralem Boden! – mit einem Vertreter von „Flams Belang“ auf dem Podium. Das sind üble Rassisten und Obertrottel, die sogar noch das kleine Belgien nach ethnischen Kriterien zerlegen wollen, damit dort angeblich alles besser werden kann! Die haben ganz heftige Sprüche drauf, von wegen drohende Islamisierung und so. Im Publikum saßen internationale Wirtschaftsstudierende, die fanden das durchaus interessant, was da so kam, das konnte ich spüren. Und ich habe die ganze Zeit überlegt, wie ich diesem Widerling neben mir argumentativ beikommen könnte. Und schließlich habe ich aber den richtigen Punkt erwischt, da habe ich nämlich zu dem Mann gesagt: Wenn Sie so viel Angst haben, dass hier so viele Flüchtlinge ankommen, dann möchte ich von Ihnen jetzt eins wissen. Sie sind doch Politiker seit vielen Jahren, Sie sitzen im Europäischen Parlament, wie viele Initiativen hat Ihre Partei in Gang gebracht, um die Lebensbedingungen in den Herkunftsregionen zu verbessern? Pfffff … da ging dem Typen auf einmal die Luft raus. Da war natürlich nichts Konstruktives gewesen. Das ist für mich auch so ein ganz wichtiger Punkt geblieben: Man kann über alles reden, dass sich Leute Sorgen machen und dass es zum Beispiel überhaupt nicht lustig ist, was hier in Köln zu Silvester passiert ist. Jetzt wollen wir aber mal abwarten, was da wirklich los war, ich hab das noch nicht vollständig verstanden, und wahrscheinlich wird da auch noch einiges rauskommen, was die Dinge anders erscheinen lässt. Es gibt ja einen Aspekt von Männergewalt überhaupt –, und lass uns das anschauen, was da war. Aber pauschal hier in dieser Weise das zu benutzen, ist doch allzu durchsichtig, aber darauf sollten wir nicht reinfallen, denn da gibt es ja noch ganz andere Dinge. Wir haben ja gestern gesehen, wie sich vor dem Dom auch Flüchtlinge ganz eindeutig davon distanziert haben, das ist auch wichtig. Wir müssen uns dann fragen, wenn wir über Vergewaltigungen reden zum Beispiel, Entschuldigung, wie genau ist die Täterstruktur, wie viel Vergewaltigungen gibt es hier in Köln und so weiter und so fort. Du kannst ja da nicht einfach irgendwas rausnehmen und das dann benutzen, um das gegen Minderheiten zu wenden. Aber Angst kann berechtigt sein, im Prinzip, nur wer sie bewusst schürt, der hat meine volle Verachtung. Wir erwarten auch von Menschen in der Politik und überall: Gebt uns Konzepte, gebt uns Ideen, wie wir damit umgehen, lasst uns darüber sprechen, was wir tun wollen. Aber wenn du immer nur dasselbe hörst, nämlich was „die Ausländer“ da angeblich machen, das ist ja ersichtlich völlig unzureichend und dient nur dazu, dass irgendwelche Gruppierungen in die Parlamente einziehen, die wir da wirklich nicht brauchen. Aber auch da bin ich relativ gelassen – notfalls lassen wir die eben mal eine Weile da rumkaspern, und dann sehen wir auch schon ganz genau, wie dürftig das ist und dass sie nämlich nichts anzubieten haben, was uns weiterhelfen kann, sondern im Gegenteil im Prinzip zurück wollen zu einer Zeit, von der wir wissen, dass sie vorbei ist. Diese Abschottungsgeschichten und so funktionieren nicht mehr, und die wird auch keiner mehr akzeptieren.

Zur Angst wollte ich noch sagen, dass man gucken sollte, woher die Angst eigentlich kommt und nach einer Perspektive suchen. Ich will doch nicht mein Leben lang in der Angst stecken bleiben, also muss ich die Situation lösen. Das ist ganz wesentlich. Für die Kölner Flüchtlingsgruppen kann ich sagen, da gehen wir es an, da gucken wir genau hin, wir reden, wir setzen uns auseinander, und da ist nichts mit Blauäugigkeit, vorne und hinten nicht. – Denise, wolltest du was dazu sagen?

Zwischenruf von Denise
Ich wollte mal sagen, dass wir mit unserer Arbeit „Willkommen in der Moselstraße“, sehr erfolgreich sind .Wir haben es mit christlichen und muslimischen Flüchtlingen zu tun. Durch die Einbindung in viele Aktionen ist da eine so gute Stimmung, dass da nichts passiert an Aggression oder Übergriffen. Die sind integriert, sie fühlen sich uns verbunden. Und dann will ich noch sagen: Schaut euch Volker Pispers neues Programm an, das ist nur noch ein paar Tage im Internet. Das ist eine Analyse, die uns zeigt, was wirklich gespielt wird und wo auch Lösungen sind. Es gibt sie für diese ganze schwierige Situation in den Städten, aber es muss gewollt sein. Auch für Griechenland gibt es die Lösung. Und es ist auch noch humorvoll und wir lachen darüber. Insofern, es macht Spaß – anstelle vom „Tatort“ heute Abend!

Danke, Denise! Wer einfach noch mehr dazu wissen will, ihr habt sie gesehen, Denise gehört zu den ganz Aktiven in der Willkommensgruppe Moselstraße/Südstadt. Ein ganz wesentliches Element gegen die Angst ist dabei auch das Eins-zu-eins-Prinzip. Wir versuchen, dass jeder Flüchtling einen Alt-Kölner an die Seite bekommt, der ihn begleitet. Da liegen wir jetzt schon bei etwas 70 Prozent. Die „Alt-Kölner“ nehmen den „Neu-Kölner“ ja auch mit in ihre Freundeskreise rein, und die lernen dadurch viel schneller Deutsch als nur durch die Kurse, also es passiert da ganz viel. Das ist der einzige Weg, den wir gehen können, eins zu eins in Freundschaften zu gehen, das auszuhalten, zu lernen, zu staunen, sich zu wundern, zwischendurch frustriert zu sein, weil es nicht so läuft, wie wir Deutschen dann denken, weil ein Afrikaner auch noch mal eine andere Zeitvorstellung hat. Die uns vielleicht auch gut tun könnte und manch einen vor dem Herzinfarkt bewahren könnte.
Ich hab hier noch mal aus der „Süddeutschen“ so ein schönes Zitat, das zergeht mir quasi auf der Zunge:
„Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut, das wird nicht mehr lang gut gehen.“ Was meint ihr, wer so was sagt? Ist das ein SPD-Mann, sind das Grüne, ist das jemand von Nichtregierungsorganisationen, war das der Elias, der Papst? Es war der Herr Müller. Herr Müller ist Entwicklungsminister in der deutschen Bundesregierung und Mitglied der CSU. Wenn ich so was lese, was der Müller da sagt – er ergänzt das noch: dass man sich nur nichts von Obergrenzen für Flüchtlinge versprechen soll, wieder Zitat, „die Menschen werden uns nicht fragen, ob sie kommen können, sie kommen“. Deswegen fordert Müller eine ganz andere Entwicklungspolitik. – Wir könnten aufhören, bei Shell zu tanken, weil die in Nigeria bei der Ölförderung Verbrechen begehen. Wir könnten generell mal genauer hingucken. Vielleicht könnten wir auch weniger Fleisch essen. Weil es bei uns nicht genug Anbauflächen für die Unmengen an benötigtem Viehfutter gibt, kommt es u. a. in Afrika zu massivem Landraub. Das wäre doch revolutionär. Wer hätte sich denn vorgestellt, dass noch vor einem Jahr ein CSU-Politiker in der Funktion eines Entwicklungsministers solche Sätze sagt? Wie siehst du das, Elias? Ich meine, dadurch wird er jetzt kein anderer Politiker, aber da ist doch was passiert.

Zur CSU sage ich gerne was. Das habe ich viele, viele Jahre beobachtet, und die Älteren hier erinnern sich daran: Die CSU, die hat ja noch quasi bis letzten Dienstag immer noch erzählt: Deutschland ist kein Einwanderungsland, das ist kein Einwanderungsland, ist kein Einwanderungsland, das haben die tausendmal gesagt. Die haben ignoriert, was hier passiert, wie eine Gesellschaft bunter wird und wie sie sich verändert. Das haben wir alle erlebt. Wenn man aber ignoriert, was hier passiert, kann man keine guten Konzepte entwickeln. Dann kann auch die Integration nicht gelingen, weil die ja offensichtlich gar nicht gewollt ist und weil das alles nicht gesehen wird. Das sind jetzt dieselben Tuppese, von denen ein Einzelner das jetzt endlich mal zugibt. Aber die CSU sollte lieber den Schnabel halten, denn die versuchen es schon wieder mit den alten Parolen. Mauerbau, „Grenzschutz“ oder die Türken sollen das regeln und die Flüchtlinge aufhalten, so wie früher der Oberst Ghaddafi. Als gebürtiger Berliner kann ich nur sagen: Mauerbau ist keine Option! Das ist alles Augenwischerei, das ist alles Quatsch. Die Wahrheit ist, dass wir zusammen hier in eine ganz neue Ära eintreten, und wie wir das jetzt gestalten, das liegt zentral an uns, und ob da so ein Müller am Ende noch mitkommt oder nicht, das weiß ich nicht, kann ich nicht versprechen, ich glaube, der ist bald weg.

Sag mal, gibt es etwas, wo du sagen kannst, darüber warst du richtig glücklich und das war eine wirklich erfolgreiche Geschichte?

Natürlich bin ich total glücklich, zu sehen, was da überall entsteht, dass plötzlich in meinem gesamten Freundeskreis irgendwie alle mit Flüchtlingen zu tun haben. Früher zeigten die zwar Anteilnahme, waren aber nicht so richtig interessiert. Auf einmal erlebe ich, wie die jetzt alle total dabei sind und etwas gestalten. Es entstehen so viele schöne Aktionen, und ich wünschte mir, dass die auch mehr publiziert und bekannt gemacht werden. Man muss ja nicht die ganze Zeit und monatelang über Sachen reden, die vielleicht auch schieflaufen, das gibt es, beides ist wichtig, aber die Stimmung ist für mich insgesamt unverändert eine ganz positive. Eine gut organisierte rechte Szene soll uns nicht wieder in diese Falle reinjagen, wo man uns glauben macht, als wollte die Bevölkerung das nicht. Es gibt sogar Umfragen im Zuge dieser Silvesterereignisse hier in Köln, die immer noch sagen, dass Abschottung trotzdem kein Weg ist. Es gibt so gesehen doch noch Hoffnung, du hast recht. Eine Freundin meiner Frau, die in Regensburg Flüchtlinge betreut, war so genervt von den Bemerkungen über die Silvestergeschehnisse, dass sie sagte: Das sind genauso Arschlöcher wie wir. Das gefällt mir irgendwie.

Genau, in Köln sagten die Roten Funken immer, wenn der Feind vor dem Stadttor stand und die schießen sollten: Wieso dat denn, dat sin doch nur Minsche! Die Roten Funken haben lieber gestrickt als geschossen. Wenn es eine kriegerische Situation gab und die Kölner Garden ausrückten, waren die immer die Letzten. Die hatten ein sehr gesundes Menschengespür, und deswegen bin ich auch froh, dass die im Karneval mitmarschieren.

 

Ich sag das jetzt in der letzten Zeit immer wieder mal. Der jahrhundertelange Maya-Kalender endete im Jahr 2012. Viele haben für die Zeit danach den Weltuntergang prophezeit. Aber anscheinend waren die Maya sehr gescheit, denn die haben die Zeiten beobachtet und eine Zeitenwende vorausgesagt. Dass wir Blötschköppe da immer schnell den Weltuntergang draus machen, ist klar, aber dass eine Welt zu Ende geht und eine neue entsteht, in der Zeit leben wir. Ich bin fest davon überzeugt, das ist eine Zeitenwende. Da gibt es zwei Möglichkeiten, nein, es gibt eigentlich nur die eine: Sie entwickelt sich zum Guten, nämlich weil ich noch nie so viele junge Leute gesehen habe, die sich engagieren, die da sind, die sich einsetzen, und das eben mit einem wahnsinnigen Know-how, das sich immer weiterentwickelt.

Meine Damen und Herren, Hans Mörtter!

Also kein Grund, Angst zu haben, kein Grund, sich zu fürchten, solange es Menschen wie dich gibt, Elias, und uns alle zusammen. Ich wünsche dir einfach, dass du dein Buch schreiben kannst, dass es vollendet wird, dass du viele Nachfolger finden wirst und vielleicht ab und zu dem einen oder anderen mit einem mutigen Schulterklopfen den Rat gibst und sagst, du brauchst mich nicht, du kriegst das auch selbst hin.

Hans, mach es gut, danke für die Einladung noch mal!

Danke, Elias, danke für all das, was du getan hast und noch tun wirst!

Redigiert von Helga Fitzner
P. S.: Im Gespräch wurde auf Frauensprache verzichtet, Frauen sind aber in Gedanken immer mit eingeschlossen. Pfarrer Hans hat sich z. B. später für die Kapitäninnen Pia Klemp und Carola Rackete eingesetzt, die im Mittelmeer Menschenleben gerettet haben.

PROLOG

In jedem Sommer versuchen Menschen aus Afrika auf seeuntüchtigen Booten über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. In jedem Sommer sterben dabei Hunderte, wenn nicht Tausende. Unser Talkgast Elias Bierdel war im Juni 2004 mitverantwortlich dafür, dass 37 Insassen eines in Seenot geratenen Bootes an Bord des Schiffes Cap Anamur genommen und nach Italien gebracht wurden. Dafür wurde er wegen Beihilfe zu illegaler Einreise kurzzeitig ins Gefängnis gesteckt. Erst fünf Jahre später wurden Bierdel und dem Kapitän des Schiffs, Stefan Schmidt, der Prozess gemacht. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Gefängnisstrafe von vier Jahren und 400.000 € von ihnen. Nach sieben Vertagungen fand die Urteilsverkündung am 7. Oktober 2009 statt. Sie endete mit einem Freispruch. Das ist aber erst der Anfang…

Elias Bierdel wurde 1960 in Berlin geboren, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Dortmund und arbeitete als Volontär und politischer Redakteur bei der Tageszeitung Westfälische Rundschau. Von 1985 an war er unter anderem für den WDR, hr, NDR und den Deutschlandfunk tätig, von 1998-2001 als Korrespondent im ARD-Studio Wien für Südosteuropa.

Anfang 2002 war er Projektmitarbeiter für Cap Anamur in Afghanistan. Cap Anamur ist eine Hilfsorganisation, die 1979 von Christel und Rupert Neudeck und Gleichgesinnten gegründet wurde. Sie halfen damals Zehntausenden von vietnamesischen Flüchtlingen, den „boat people“, die über den Seeweg dem kommunistischen Regime entfliehen wollten. Elias Bierdel avancierte zum Vorstand und Geschäftsführer von Cap Anamur, schied nach den Ereignissen aber aus. 2006 erschien sein Buch „Ende einer Rettungsfahrt – Das Flüchtlingsdrama der Cap Anamur“, seit 2007 ist er im Vorstand der von ihm mitbegründeten Organisation „borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.“

Pfarrer Hans Mörtter hat in etlichen seiner Gottesdienste das Elend der afrikanischen Flüchtlinge thematisiert. So fischen die riesigen europäischen Fangflotten den afrikanischen Fischern die Bestände weg und zerstören damit ihre Existenzgrundlage. Solange die Armut und der Hunger in Afrika aber anhalten, wird es immer wieder Afrikaner und Afrikanerinnen geben, die sich auf den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer machen. Europa aber will die Flüchtlinge nicht und ergreift immer härtere Maßnahmen, um die „Festung Europa“ zu schützen. Für Pfarrer Hans Mörtter stellt das aber unser Menschsein in Frage und weil ihn diese Frage so tief betrifft und betroffen macht, moderiert er diesen Talk-Gottesdienst selber.

Text: Helga Fitzner


www.borderline-europe.de

NACHTRAG
Im November 2009 wurden Elias Bierdel und Kapitän Stefan Schmidt freigesprochen. Das Urteil wurde im April 2010 rechtskräftig. Die tunesischen Fischer, die ebenfalls wegen mehrfacher Lebensrettung vor Gericht standen wurden zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Sie und ihre Familien standen vor einer vernichteten Existenz. Die Kampagne SOS-Mittelmeer unterstützte sie mit Spendengeldern und finanzierte das Berufungsverfahren, in dem die Fischer 2011 freigesprochen wurden.



WER NUR BEOBACHTET, MUSS LETZTLICH SCHEITERN

Herr Bierdel, Sie waren früher als Auslandskorrespondent für die ARD tätig. Als solcher waren Sie im Jahr 1999 einer der letzten, der den Kosovo verließ, als das Bombardement der NATO begann. Welche Erlebnisse haben Sie da besonders bewegt?

Ja, Herr Mörtter. Zunächst einmal war das für mich vollkommen unvorstellbar, dass ich einmal in Kriegszonen unterwegs sein würde. Plötzlich habe ich selbst Dinge gesehen, die ich nur aus Erzählungen meines Großvaters kannte. Das war für mich sehr bewegend. Ich hatte Begegnungen mit Menschen, die in dem Elend und in der Angst vor dem lebten, was da passiert. Aber bevor das Bombardement begann, hatten die Menschen im Kosovo, mehrheitlich Albaner, schon zehn Jahre lang in einer schrecklichen Apartheid dort gelebt. Sie waren vollkommen niedergeschlagen und hoffnungslos, so dass sie tatsächlich begrüßt haben, dass endlich etwas passiert, dass jetzt eben ein Krieg beginnt, um diese Apartheid von ihnen zu nehmen.

Haben Sie das verstehen können?

Ich habe darüber berichtet, aber da habe ich es noch nicht wirklich verstanden. Es ging ja auch darum, das abzubilden, was dort ist. Die Leute befanden sich in einer Lage, die sie mit den Worten kommentierten: „Und wenn die erste Bombe mich direkt hier trifft, in meinem Haus, muss jetzt trotzdem aufhören, was wir hier erlebt haben“. Das fand ich schon sehr erschütternd. Ich konnte es immer besser verstehen, je mehr ich über diese entsetzliche Unterdrückung dort erfuhr.

Es heißt ja immer, Journalisten berichten neutral. Waren Sie „neutral“?

Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht neutral, glaube ich. Bei den meisten Journalisten glaube ich das auch nicht. Es gibt diesen berühmten Satz, dass ein guter Journalist sich dadurch auszeichne, dass er sich mit keiner Sache „gemein“ mache, nicht einmal mit einer guten. Das hat Hanns-Joachim Friedrichs gesagt, der früher ein berühmter Fernsehmoderator war. Ich selbst glaube, dass man sich im Gegenteil gemein machen MUSS. Allerdings sollte das eigene Empfinden nicht der entscheidende Maßstab für eine Berichterstattung sein. Aber dazu hat man sein Handwerk gelernt. Wer ohne innere Anteilnahme, wer ohne einen Standpunkt versucht, nur ein Beobachter zu sein, der muss letztlich scheitern. Das ist meine Auffassung und ich habe auch nie einen Hehl daraus gemacht.

Das ist bei einem Pfarrer und Seelsorger ähnlich. – Hat sich durch Ihre Erlebnisse im Kosovo für Ihr Leben etwas verändert?

Ja, ich war einige Tage während dieses Krieges dort und dann unmittelbar nach seinem Ende. Da habe ich Menschen in Elendssituationen angetroffen, die, wie ich heute weiß, typisch sind und überall auf der Welt immer die gleichen. Das war auch hier in Deutschland die gleiche Situation, als der Krieg bei uns war: Familien auf der Flucht, in der Vertreibung; Leute, die sich irgendwo in den Bergen versteckt haben, Menschen, die Besitz und anderes zurücklassen mussten. Dann kehren sie in ihre Dörfer zurück, in denen es nichts mehr gibt, wo kein Leben mehr möglich ist und die bei minus 1000 sozusagen, also nicht bei null, sondern bei einem absoluten, unvorstellbaren Elend wieder beginnen sollen. Woher nehmen die den Lebensmut? Da spürte ich immer mehr, wie unangenehm es mir war, als Journalist Menschen zu fragen, wie es ihnen jetzt geht. Das ist aber die Aufgabe eines Reporters und die sprechen auch sehr gerne und berichten darüber mit dem Gefühl, die Welt hört uns jetzt zu und erfährt endlich, was hier los ist. Aber ich fühlte mich oft sehr schlecht damit und hatte das Bedürfnis, etwas tun zu wollen, um den Menschen zu helfen. Dann habe ich angefangen, Reis, Öl und was ich kriegen konnte, ins Auto zu laden, wenn ich in solche Dörfer fuhr. Eines Tages hatte ich mein Aufnahmegerät vergessen und hatte nur noch Reis und Öl dabei. Das war der Augenblick, an dem ich meine Rolle als Journalist hinterfragt und anschließend die Konsequenz gezogen habe. Ich habe diese Arbeit beendet und mich bei einer Hilfsorganisation gemeldet.

Da ist Ihnen Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, begegnet. Er sagte damals, dass er von Ihrem Mut beeindruckt war. Was machte Ihren Mut im Kosovo aus?

Da bin ich wahrscheinlich der falsche Ansprechpartner, das weiß ich nicht. Es gibt unter den Journalisten, die in solchen Zonen unterwegs sind, wie überall, große Unterschiede. Es gibt welche, die eher versuchen, sich durch offizielle Kontakte mit Behörden ein Bild zu machen, und andere, die genau da hingehen, wo es jetzt im Moment passiert. Das ist aber nur eine Handvoll. Das sind auch Kolleginnen und Kollegen, die ich immer wieder getroffen haben, wenn ich sozusagen an der Front war. Manchmal war die Lage etwas unübersichtlich, ich hatte aber nie das Gefühl, etwas besonders Mutiges zu tun, sondern dass ich es auf die Weise tat, die mir entspricht und die mir gemäß ist. Mir wäre es also – das trifft auch auf viele andere Situationen in meinem Leben zu – eher schlechter gegangen, wenn ich es anders getan hätte.

DIE SCHANDMAUER IST NUR VERSCHOBEN

Hans Mörtter
Ein kleiner Schritt zurück. Als Sie ungefähr 15 Jahre alt waren, …

Elias Bierdel
… das weiß ich nicht mehr! (alle lachen)

Hans Mörtter
Gut. 1975, als Sie 15 Jahre alt waren, ging der mörderische Vietnamkrieg zu Ende, davor die 60-er Jahre mit der Ermordung der Kennedys, die „Ho Chi Minh“-Rufe, die Studentenrevolte, diese ganz bewegte Zeit. Ein Kind kriegt das mit. Das hing in der Luft damals, wir beide sind davon geprägt als Nachkriegskinder. Wie haben Sie als Jugendlicher diese Zeit erlebt?

Elias Bierdel
Ich bin in Berlin aufgewachsen und meine Eltern waren demonstrieren, während wir Kinder in der Wohnung blieben. Das sind aber auch schon alle Erlebnisse, die ich über die 68-er-Jahre oder so berichten könnte. Ich war übrigens als Jugendlicher nicht besonders politisch engagiert und habe bis zum heutigen Tag nie irgendeiner Partei angehört. Bei mir kommt das Engagement aus anderen Grundüberzeugungen, die ich oft gar nicht genau kenne. Mir scheint es in letzter Zeit immer mehr eine Rolle zu spielen, dass ich in Berlin unmittelbar an der Mauer gewohnt habe und dass deshalb schon sehr früh die Überzeugung in mir gewachsen ist, dass es kein guter Weg ist, sich abzuschotten oder Menschen mit Gewalt daran zu hindern, von hier nach dort zu gehen. Kinder sind besonders sensibel für diese Erfahrungen. Der Großteil unserer Familie war im Osten. Meine Eltern waren von dort geflohen und die Erfahrung von Grenzübertritten mit all den Prozeduren, die damit verbunden sind, das scharfe Fragen durch Grenzer und auch das Befragen der Kinder, das hinterlässt einen tiefen Eindruck. Ich habe bis heute gelegentlich ein Problem mit Uniformträgern. Ich arbeite daran, aber es ist mir schon öfter passiert, dass ich ganz urplötzlich von einer heftigen Wut gepackt werde, und ich denke, das hat schon mit solchen Erlebnissen zu tun. Da, wo wir wohnten, waren mitunter nächtliche Leuchtraketen am Himmel zu sehen. Wir lebten 50 Meter von der Mauer entfernt und hörten immer wieder mal Schüsse, da wusste man nicht genau, was da passiert. Ich erinnere mich an Hunde an Laufleinen, die verhindern sollten, dass Leute flüchten. – An den Außengrenzen der Europäischen Union stehen heute ganz ähnliche Anlagen, auch dort gibt es Hunde an Laufleinen, Minengürtel und anderes. Für mich ist diese berühmte Schandmauer, wie man sie in Berlin damals nannte, nicht verschwunden, wie wir dachten, sondern sie ist nur woanders hingestellt worden. Das halte ich für eine furchtbare Diagnose und ganz beschämend.

Auch ich hatte einmal bei einem Besuch in der ehemaligen DDR so viel Wut aufgestaut, dass ich am liebsten eine Handgranate oder so etwas geworfen hätte, und das als Pazifist und Kriegsdienstverweigerer. Es ist schwer, mit der Wut umzugehen. Wie schaffen Sie das?

Manchmal ist die Wut nützlich, als Treibstoff – aber auf Dauer auch gefährlich, weil man sich leicht selbst daran verbrennen kann! Ich muss mich da einfach im Zaum halten vor allem, wenn ich mitbekomme, dass Menschen ein- oder auch ausgesperrt werden.

Ich glaube, die höchste Mauer steht in Bethlehem.

Ja, die streiten sich darum. In Ceuta und Melilla , den berühmten europäischen Enklaven auf afrikanischem Boden, werden die Zäune jetzt auf sechs Meter aufgestockt. In Israel-Palästina sind die bis zu 12 und 15 Meter hoch. Das ist dann schon ein Höhenrekord. Dafür hat die Grenze der Europäischen Union wieder andere Spezialitäten zu bieten, wie zum Beispiel, Minengürtel! – Entschuldigung! Wer hier weiß das? Wer weiß, dass ein Teil unserer gemeinsamen Grenzen mit Minen gesichert ist – an der Landgrenze zwischen Griechenland, der Türkei? (Allgemeines Schulterzucken in der Gemeinde). – Da explodieren ganze Familien. Das steht interessanterweise in keiner Zeitung. Oder hast Du etwas davon gelesen?

Das habe ich tatsächlich noch nirgendwo gelesen. Dabei habe ich mir auch im Internet viel zum Thema angeschaut und viel entdeckt.

Über die Grenze Israel-Palästina wird sehr viel mehr berichtet. Denn es ist offensichtlich viel schwieriger, sich mit dem auseinanderzusetzen, was uns alle direkt betreffen sollte, doch die europäische ist unsere Grenze. Wir haben sie im Inneren aufgelöst. Ich glaube, alle haben sich gefreut – ich ganz bestimmt –, dass man heute einfach so herüberfahren kann, Frankreich, Belgien, das war vor einiger Zeit noch anders. Aber das heißt auch: Dann sind wir allesamt mitverantwortlich für das, was an der neuen, gemeinsamen Außengrenze jetzt passiert. Und das ist wahrhaftig schrecklich.

Ich frage noch einmal, denn das interessiert mich schon – deine Prägung: Du warst 19 Jahre alt, als die Rettung der „boat people“ begann. Das waren zirka 40.000 Vietnamesen, die von der damals neu gegründeten Hilfsorganisation Cap Anamur gerettet wurden. Hast du das wahrgenommen?

Ehrlich gesagt, ich habe mich zu der Zeit – das war Ende der 70er-Jahre, Anfang der 80er – tatsächlich intensiver mit anderen „Studienfeldern“ beschäftigt. Dazu gehörten unter anderem Mopeds, Bandmusik und Mädchen. Aber meine Großeltern hatten den „stern“ abonniert und der lag da immer, und ich weiß noch, dass mich das schon fasziniert hat, was draußen passiert. Gelegentlich hat der „stern“ – bis heute noch – Momente, wo man auf einmal das Gefühl hat, hier kriegt man ein anderes Verständnis, vor allem durch die tollen, beeindruckenden Bilder. Das habe ich schon registriert, aber es hat damals bei mir nichts Bleibendes ausgelöst.

Woher – kannst du das sagen? – kommt dein Wunsch, zu helfen? Also, du hast das schon beschrieben, der Perspektivwechsel vom Journalisten zur Tätigkeit bei einer Hilfsorganisation. Was ist deine Triebfeder?

Puh, das sind vielleicht Fragen hier!

Ja, wir sitzen schließlich vor einem Altar.

Ich möchte fast sagen, ich bin froh darüber, dass ich das gar nicht so genau weiß. Ich glaube – das habe ich auch vorhin schon gesagt –, für mich ist eigentlich ein wichtiger Grund, ich selbst zu sein. Ich habe auch schon verrückte Sachen gemacht und manche sind auch wenig ruhmreich, aber im Rückblick erkenne ich das absolut als meinen Lebensweg an. Die Aufgabe, die ich mir abverlange, ist, es jeweils so gut zu machen, wie ich nur kann, aber mehr auch nicht. Es ist alles genau richtig so, auf eine bestimmte Weise, in dem Sinne, dass mein Leben niemand sonst führen kann als nur ich. Deshalb bin ich damit weitgehend im Reinen. Aber weil wir hier in einer Kirche sind, kann ich das gerne sagen, dass ich mich selbst immer als einen gläubigen Menschen gefühlt habe. Ich war immer freiwillig im Religionsunterricht dabei. Das musste ich gar nicht, denn ich war noch nicht getauft. Meine Eltern haben gesagt: „Das sollen die Kinder selber entscheiden“, und diese kleine „Korrektur“ in meiner Biografie habe ich vor zwei Jahren nachgeholt. Ich habe mich evangelisch taufen lassen und bin froh, dass ich das hier mal offen sagen kann. Es ist schon so, dass sich im Zuge dieser ganzen Ereignisse und Erlebnisse bei mir ein bestimmtes Gefühl von Geführt-Sein eingestellt hat. Das ist ganz in mir drin und gerade kam hier der Satz vor in Psalm 119, mit „meines Fußes Leuchte“, das ist genau mein inneres Bild. Ich habe Superleuchten direkt vor den Füßen und bin sehr froh darüber.

Jeder von uns hat einen Weg und es ist gut, diesen zu finden und dann auch konsequent zu gehen und sich nicht zu ducken.

FLÜCHTLINGE SIND „BOTSCHAFTER DER UNGERECHTIGKEIT“

Wie ist das mit deinem Wunsch zu helfen – woher kommt der?

Du passt aber auf! Dachtest du, ich wollte mich vor der Frage drücken? – Also, ich empfinde das gar nicht so sehr als Wunsch, zu helfen, aber ich bin – obwohl das heute ein Wort ist, was schon geradezu mit einem mitleidigen Lächeln benutzt wird –, ich bin ein Weltverbesserer. Und zwar in dem Sinne, dass es eher ein bisschen besser ausschauen soll, wenigstens in irgendeinem Bereich, für bestimmte Menschen vielleicht, wenn ich einmal nicht mehr da bin. Das finde ich völlig normal und bin sehr erstaunt, dass das in manchen Kreisen heute fast als Schimpfwort gilt. Ein Weltverbesserer, das sei ein Spinner oder so. Das finde ich überhaupt nicht. Wobei ich das mit dem Helfen auch schwierig finde, weil ich weiß: Es gibt manchmal so ein überschießendes Bedürfnis von Menschen, sich selbst als gut und hilfsbereit zu erfahren und in diesem Namen kann leider auch sehr viel angerichtet werden. Das erlebt man auch in der humanitären Hilfe. Da hat die Hilfe manchmal den unangenehmen Beiklang, dass sie eine Hierarchie herstellt – ich bin der Helfende und du bist der, der Hilfe annehmen muss. Darum hat mir meine Schwester einmal ein altes, chinesisches Sprichwort zugeschickt, das heißt: „Warum hilfst du mir, ich habe dir doch nichts getan.“ Das habe ich seitdem im Hinterkopf. Meine Schwester ist sehr klug und da nehme ich natürlich so einen mahnenden Ratschlag gerne an.

Das Problem haben auch große Hilfsorganisationen, die in den Flüchtlingscamps und Flüchtlingslagern arbeiten. Für die Regierungen der Industrienationen, der G20, ist das natürlich eine herrliche Ausrede. Sie können die Lage dümpeln lassen, die Menschen in den Lagern lassen, denn so lange sie nicht verhungern, besteht kein Handlungsbedarf.

Der Befund ist ganz eindeutig und noch schlimmer. Ich sehe hier auch schon bestimmte Plakate: „Zerstörerisches Soja“, „“Grüne Wüste“, also Hinweise darauf, dass wir nicht darum herumkommen, diese Zusammenhänge zu erkennen: Es ist eine ganz klare Politik, auch der Europäischen Union, also in unseren Namen, weiterhin auf die Ausbeutung unserer Nachbarregionen zu setzen. Durch unsere Agrarsubventionen zerstören wir die Märkte, zum Beispiel in Afrika. Ich finde es fast peinlich, das noch anzusprechen, weil das jeder weiß. Deshalb entscheidet sich das an der Stelle: Sind wir überhaupt bereit, wirklich etwas daran zu ändern?

Nein, da würde ich jetzt widersprechen.

Oder möchten wir uns nur gut fühlen, indem wir im Einzelfall, weil ein Plakat mit einem weinenden Kind zu sehen ist, mal zehn Euro Ablass erwerben, irgendwo?

Richtig, das können wir gut.

Du weißt, was ich meine?

Ja.

Ich finde schon, dass der Schlüssel für Vieles, was da passiert, bei uns liegt. Und am besorgniserregendsten ist der Klimawandel. Der geht auf unsere Verantwortung. Der ganze Kontinent Afrika ist nicht einmal mit 5 Prozent an der Emission von Treibhausgasen beteiligt. Wenn jetzt dort in manchen Regionen, wie die UNO das im Klimareport vorhersagt, demnächst und sehr schnell das Leben gar nicht mehr möglich ist, dann stehen wir doch unmittelbar in der Verantwortung, uns darum zu kümmern, was aus den Menschen, die da nicht mehr leben können, werden soll! Das ist doch klar. An dem Punkt wird es haarig und da ist dann jeder gefragt.

Wir haben es gut. Die meisten von uns hier haben genug zu essen. Es ist sogar so, dass wir die vielen Lebensmittel gar nicht aufbrauchen.

Früher haben wir in großem Maße hier in Europa Lebensmittel sogar vernichtet, das hat mit der Überschussproduktion zu tun. Anderswo verhungern Menschen, etwa eine Milliarde Menschen auf der Welt leiden Hunger, und wir kippen die Sachen weg. Das ist nicht nur peinlich, sondern auch noch richtig teuer. Da hat man jetzt etwas Neues erfunden: wir schmeißen es nicht mehr weg, sondern verschiffen es direkt als Handelsware nach Afrika und anderswohin. Dabei handelt es sich um Waren, die durch die Subventionen bereits bezahlt sind, und das sind nichts anderes als unsere Steuergelder. Die Waren werden z. B. in Westafrika, zu einem Dumpingpreis auf die Märkte geworfen, denn auch 10 Cent pro Kilo Tomaten ist immer noch ein Gewinn. Damit kann ein lokaler Erzeuger aber nicht konkurrieren und so gehen die Strukturen kaputt, so zerstören wir weiter. Dafür gibt es natürlich tausend Beispiele. Der Welthandel ist extrem ungerecht organisiert. Unsere Führer hier, aber auch die „normale“ Bevölkerung, glauben oft noch, dass sie die Gewinner in dieser Geschichte sind, und die anderen haben halt Pech gehabt. Solange dieses Denken vorherrscht, wird das Problem nicht gelöst. Wir können hier kein rauschendes Leben weiter führen – auf Kosten von anderen. Das ist völlig klar zum Scheitern verurteilt. Die Frage ist nur, ab wann das für mehr Menschen sichtbar wird. Zum Thema der Flüchtlingsboote gibt es ein wunderbares Wort von Herbert Leuninger, das ist einer der Mitbegründer von PRO ASYL und kommt aus meiner gesellschaftlichen Lieblingsgruppe „zornige, alte Männer“. Der nennt die Menschen in den Booten „Botschafter der Ungerechtigkeit“. Ich finde das ist ein sehr kluges Wort, weil es aufzeigt: Eigentlich ist jedes Boot, das da kommt, eine hilfreiche Warnung und Mahnung für uns. Ich kann hier allerdings nicht aus einer überlegenen Position heraus sprechen. Wenn ich zu Hause in meinen Küchenschrank schaue und mich frage: Okay, wie viele fair gehandelte Produkte hast du denn jetzt? Dann ist gerade mal der Kaffee. Es ist klar, auch ich bin letztlich ein Wohlstandsmensch, aber ich bemühe mich darum, mich in meinem Konsumverhalten dahin zu bewegen, um sozusagen von unten her Impulse geben zu können.


WAS HÄLT UNS DAVON AB, SIE WIE MENSCHEN WILLKOMMEN ZU HEISSEN?

Es gibt ein Schimpfwort: Wirtschaftsflüchtlinge. Es heißt: „Das sind alles Wirtschaftsflüchtlinge und die muss man sofort wieder zurückschicken. Die haben kein Recht auf Asyl“. Sehr engagierte Katholiken in Italien sagen dagegen: „Jeder Mensch hat von Geburt an das Recht, auf dieser Kugel da zu leben und zu wohnen, wo er will, jeder Mensch“. Da ist nur die Frage, wie mächtig dieser Mensch ist. Aber diese Abkanzelung – Wirtschaftsflüchtlinge – trifft ja gar nicht das Problem. Wir sind mitten in einer Völkerwanderung, die wir selbst verursacht haben, die durch den Klimawandel katastrophal wachsen wird, da wird kein Damm halten und klar ist auch, und alle wissen das, dass die Flüchtlinge es immer wieder versuchen werden. Ist das nicht einfach eine ganz große, anmaßende Lüge, zu sagen: Wirtschaftsflüchtlinge?

Allerdings. Zunächst einmal: Diese Utopie einer Welt, auf der man sich frei bewegen kann, wo man an jedem Platz zu Hause sein darf, die ist verwirklicht: allerdings nur für westliche Touristen. Du kannst auf der ganzen Welt sein, wo du willst. Du hast Kohle, du hast alles, was du willst, so ein europäischer Pass ist wie ein Freifahrtschein. Nur für die allermeisten Menschen auf der Erde ist das eben nicht so, das ist schon mal die erste Ungleichbehandlung, die sofort auffällt. Anmaßend – ja, selbstverständlich, und das ist auch eine Frage, die jeder Christ und jede Christin sich stellen muss. Sind wir jetzt alle die gleichen Wesen in Gottes Angesicht oder gibt es da nicht erhebliche Unterschiede?

Wegen des Ansturms der Flüchtlinge werden Ängste geschürt, da heißt es: „Um Gottes Willen, die können doch nicht alle zu uns kommen.“ Das wollen die auch überhaupt nicht, wenn wir nur aufhören würden, sie zu vertreiben oder ihnen auf die ein oder andere Weise das Leben in ihrer Heimat unmöglich zu machen. Aber wenn sie schon hierher kommen, auf diesen furchtbar gefährlichen Wegen, was hält uns denn davon ab, sie wie Menschen willkommen zu heißen? Als ich in Afrika und anderen Ländern unterwegs war, bin ich von ganzem Herzen willkommen geheißen worden, da kenne ich viele, speziell afrikanische Dörfer, in denen man diese herrliche Erfahrung machen kann. Welche Art von Krankheit hat uns eigentlich befallen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, einem Menschen zu sagen: „Um Gottes Willen, wo kommst du denn her? Was hast du denn durchgemacht? Jetzt setz dich mal hierher, jetzt kriegst du einen Tee und dann erzählst du und dann gucken wir, was wir machen können.“ Ich rede jetzt gar nicht davon, wie ich die Asyl-Gesetze finde. Ich finde das alles schrecklich und heuchlerisch. Aber es gibt Spielräume, in denen wir sozusagen eine einfache Menschlichkeit praktizieren könnten, und ich weiß nicht, woran es liegt, dass das für ganz viele Leute so furchtbar schwer ist. Es gibt natürlich auch sehr ruhmreiche und hoffnungsgebende Ausnahmen überall.

Die Berichte, die man liest, sind wirklich erschreckend. Handelsschiffe, Yachten und andere Schiffe im Mittelmeer fahren einfach an den Flüchtlingsbooten vorbei. Einmal haben Überlebende erzählt, dass ein Matrose etwas zu Essen und zu Trinken ins Boot heruntergeworfen hat. Da fahren Schiffe an einem Boot in Seenot, voll mit Menschen, vorbei und lassen die absaufen. Ein Handelsschiff würde Zeit verlieren. Da geht es auch um Geld und um den Ärger, den man sich einhandeln könnte.- Deswegen habe ich die Fotos mit den Gesichtern und Namen der 37 Flüchtlinge, die ihr auf der Cap Anamur hattet, aus deinem Buch kopiert und hier in der Kirche verteilt. In den Zeitungen stehen immer nur Zahlen. Die Flüchtlinge von der Cap Anamur haben Namen. Michael Soholi, Seidu Alhassan, Stanley Musa und Mohammed Yussif und viele andere.

Das macht für mich natürlich einen riesigen Unterschied, dass ich diese 37 kennengelernt habe bei dieser Geschichte im Sommer 2004, und ich denke an Einzelne, z. B. , an Bawa Jassah. Ich weiß gar nicht, wo sich sein Bild hier befindet. Bawa hat mich unglaublich beeindruckt, ein ganz toller Typ, schlau, fleißig, präzise und begierig, alles aufzunehmen und zu lernen. Wir finden das normal, dass es in seiner Gegend keine Schule gibt, nicht einmal eine Volksschule. Gleichzeitig sagen wir: „Du kannst nicht zu uns kommen und hier eine Ausbildung machen.“ Aber das ist dumm, denn es wäre ein Riesengewinn für die ganze Welt, wenn Menschen wie Bawa studieren könnte. Manche Leute hier glauben, das wäre normal so, natur- oder gar gottgegeben, dann hätten sie halt Pech gehabt, lebten in der falschen Gegend. Das ist im Zeitalter der Globalisierung besonders absurd: Entweder gehören wir jetzt alle zusammen, oder nicht. Und wenn – was hält uns davon ab, zu sagen: „So, jetzt komm mal her, dumm bist du nicht, mein Freund, und jetzt wird hier mal richtig reingepaukt“. Das am besten so, dass er anschließend in seinem Heimatland wieder was bewegen kann. Was wir aber machen, – und das ist so typisch – ist genau das Gegenteil: Wir versuchen gerade, für ein paar Hundert Euro mehr, Leute aus Entwicklungsländern abzuwerben, Blue Card heißt das jetzt auf EU-Ebene. Wir haben es schon früher versucht mit der Green Card speziell für Computerexperten aus Indien. Das ist ein schrecklicher, ausbeuterischer Versuch. Da sind jetzt Leute, die sind schon ausgebildet in ihren Ländern – und das ist ganz schwer und kostet viel Geld –, und dann kommen wir und kaufen die mal eben weg. Aber so sind wir halt hier, ich sage immer „wir“, obwohl ich ja hoffe, dass das für die meisten hier schon eigentlich nicht mehr zutrifft, aber das ist einfach unsere Mentalität. Interessanterweise haben jetzt immer mehr junge Menschen kapiert, wohin der Hase rennt. Ich habe auch Kontakte zu Indern. Die sagen ganz selbstbewusst: „Nein, darauf lassen wir uns nicht ein. Dann bist du ein paar Jahre da, verdienst Geld, darfst aber deine Familie nicht nachholen und eventuell, wenn du Pech hast und vielleicht eine dunkle Hautfarbe hast, fällst du noch nachts aus einem Vorortzug, irgendwo, im Brandenburgischen.“ Das ist nicht so verlockend. Deutschland ist aus dieser Perspektive eigentlich dabei, den weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe zu verlieren. Unsere eigene Jugend sucht ihre Zukunft oft im Ausland und in internationalen Studien, und hier kommt auch kaum noch jemand gerne hin, wenn wir so weitermachen. Das ist eine ganz schlechte Politik. Aber im Moment kann man noch Politik machen mit diesen einfachen Ängsten vor Überfremdung.

Die demografische Entwicklung ist eindeutig: Wir sind eine zunehmend überalterte Gesellschaft. Die afrikanischen Flüchtlinge, also der Hauptstrom sind hauptsächlich 20- bis 40-Jährige, hauptsächlich Männer, die von ihren Familien entsendet werden mit der Aufgabe, die Existenz für sie zu sichern. Die Summe der Rücküberweisungen von illegal in Europa Beschäftigten beträgt ein Vielfaches der Entwicklungshilfe.

Die Leute arbeiten zu lassen, ist eigentlich die effektivste Art der Entwicklungshilfe, denn die schicken das Geld an Leute, die es wirklich brauchen, nämlich ihre eigene Familie. Dagegen ist alles, was auf dem staatlichen Sektor läuft, sehr schwer zu kontrollieren. Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat vor einigen Jahren, als er hier den Sacharow-Preis entgegengenommen hat, eine Rede gehalten und sinngemäß gefragt: „Warum macht ihr die Grenzen dicht? Wisst ihr nicht, dass ihr mindestens 50 Millionen Zuwanderer braucht, um die Existenz eurer Sozialsysteme aufrecht zu erhalten?“ So etwas wird in den deutschen Zeitungen in der Regel nicht abgedruckt.

Offensichtlich gibt es – speziell, was die Afrikaner anbetrifft – auch noch ein ganz massives, rassistisches Ressentiment, das müssen wir leider konstatieren. Wenn die auf 15.000 geschätzten Toten, die wir jedes Jahr an unseren Außengrenzen haben, weißer Hautfarbe wären, hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach eine völlig andere Diskussion.

Ich würde gerne noch einmal den Begriff Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen. Vor zwei Jahren haben in Deutschland kurz hintereinander zwei Auswanderermuseen eröffnet, übrigens sehr schöne, große Museen, in Hamburg und in Bremerhaven. Die erinnern daran, dass so ab Mitte des 19. Jahrhunderts Millionen Deutsche eine bessere Zukunft woanders gesucht haben. Viele haben diese auch gefunden. Die allermeisten – bis auf das letzte Kapitel im Dritten Reich – sind nicht wegen politischer Verfolgung aufgebrochen, sondern weil sie entweder nicht genug zu essen hatten, oder einfach mehr aus ihrem Leben machen wollten, als ihnen unter den jeweiligen Fürsten, unter denen sie hier leben mussten, möglich erschien. Ist es nicht merkwürdig, dass unsere Gesellschaft die eigene Auswanderungsgeschichte einerseits so groß feiert, und andererseits Leute, die genau mit denselben Motiven zu uns kommen – und das sind ja nicht die Schlechtesten, die diesen Pioniergeist haben –, dass wir denen entgegen rufen: „Nein, nein, nein, du aber nicht, mein Freund. Du wirst doch gar nicht verfolgt“. Aber wie will man das nachprüfen? Da drüben habe ich eben das Bild von Sham gesehen. Der Sham hatte uns schon auf dem Schiff erzählt, dass er als 17-Jähriger davongelaufen ist, weil er mit ansehen musste, wie sein Vater, ein lokaler König im Norden von Ghana, hingerichtet worden ist und 80 Mann des Hofstaats mit ihm. Da er sein Sohn war, ist er geflohen. Der ist dann nach Jahren auf so einem Boot nach Europa gekommen und wurde direkt abgeschoben. Man hat ihn nicht einmal angehört. Aber selbst, wenn er gehört worden wäre, hätte man ihm sagen müssen: „Ja, mein Freund, ist dumm für dich, aber wir können nichts tun, weil unser Gesetz es nicht her gibt. Nach unserem Gesetz bist du staatlich nicht verfolgt?“ – Jetzt darf ich ein bisschen pathetisch werden: Für mich wohnt im Asylrecht der Geist des Bösen. Da ist etwas drin, was mit Vernunft nichts zu tun hat und mit Menschenwürde, Herz und Glauben schon gar nicht. Da ist was Böses, wovon ich meine, dass man das offensiv bekämpfen muss.

 

DIE REALITÄT: MILITÄR GEGEN FLÜCHTLINGE

Dann kommen wir doch gleich einmal auf FRONTEX und NAVTEX zu sprechen. FRONTEX betreibt Krieg gegen die Flüchtlinge im Atlantik und im Mittelmeer. FRONTEX heißt, die EU hat aufgerüstet und lässt Schnellboote kreuzen. NAVTEX sind satellitengesteuerte Warnmeldungen an Schiffe: „Ship in transit, beware“. Da kannst du aber mehr zu sagen.

Das war eine Beobachtung, die uns damals auf der Cap Anamur besonders bewegte. Wir bekamen auf unserem Schiff – wie alle Schiffe dort – permanent Verkehrsdurchsagen. Was man im Auto als Verkehrsfunk im Radio hört, bekommt man auf den Schiffen per Telex. Es werden ungefähr 90 Prozent der Güter in dieser Welt mit Schiffen transportiert werden. Ahnt man so gar nicht. Die Schiffe sind mit hoher Geschwindigkeit unterwegs, weil die heute nach diesem Just-in-time-Logistikkonzept genau zur richtigen Stunde in dem Bestimmungshafen ankommen müssen. Die Wasserwege sind wie riesige „Autobahnen“ auf See. Die Schiffe rasen dahin, auch die großen Frachtschiffe sind sehr schnell. Nichts darf sie stören. Darum gibt es einen großen Aufwand mit Satelliten, jede noch so kleine Störung sofort weiterzumelden – wenn ein Leuchtturm ausgefallen ist, wenn irgendwo ein Container herumdriftet oder so. Das ist alles sehr gefährlich.

Im Mittelmeer bekommst du die ganze Zeit Meldungen auf dein Schiff: kleines Boot, Position so und so, sinkend. Da hatten wir einmal innerhalb von elf Minuten drei Meldungen von verschiedenen Stellen, an denen kleine Boote sind. Mein wunderbarer Kapitän Stefan Schmidt, den muss ich hier noch mal eigens erwähnen, mein Lieblingskapitän aller Zeiten und Weltmeere, der sagt: „Ich bin 40 Jahre Seemann, so etwas habe ich überhaupt noch nie gesehen. Was ist das denn? Wir haben mal geguckt, was da eigentlich los ist und sind da hingefahren.“ Diese Meldungen kommen aber – das hast du ja gerade angedeutet – mit dem Hinweis „Ship in transit, beware“, also „Vorsicht für durchfahrende Schiffe“. Das ist einer der Gründe, warum große Handelsschiffe, die natürlich wissen, was da los ist – diese Boote umschiffen. Die haben keine Zeit, da drohen Konventionalstrafen, wenn die zu spät kommen. Hier bekommen sie einen Hinweis: Vorsicht, Gefahr! Die dürfen da gar nicht mehr hin. Ein Kapitän, der das tut, nimmt die Verantwortung auf seine eigene Kappe. Wenn da wirklich was passiert, was auch immer, dem Schiff, der Ladung, dann kann der dafür selber geradestehen, da sind schnell ein paar Millionen beisammen. Da sieht man das, was ich vorhin das Böse genannt habe, in einer ganz eleganten Form, als Verkehrsfunkmeldung, wo aber plötzlich nur noch von Booten die Rede ist und nicht mehr von den Menschen, die da darin sind. Das Erschütternde ist: Alle diese Boote werden gesehen! Durch FRONTEX, die offizielle Agentur zur Sicherung der europäischen Außengrenzen, ist eine Grenzarmee entstanden, die eine regelrechte Abwehrschlacht gegen Flüchtlinge führt.

Die militärischen Mittel für FRONTEX sind aufgestockt von 17 Millionen Euro in 2006 auf 70 Millionen Euro in 2007 und weiter steigend.

Das ist der am schnellsten wachsende Haushalt der EU.

Abdel Basset Zenzeri, ein tunesischer Kapitän, war mit drei Fischerbooten unterwegs und hat mit zwei Booten 44 Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet, ganz selbstverständlich nach UNO-Seerechtsübereinkommen. Der ist, wie ihr, angeklagt worden, obwohl es wortwörtlich heißt: „Jede Person, unabhängig von Nationalität oder Status, muss aus Seenot gerettet werden und an einen sicheren Ort gebracht werden“. Nur, was ist der sichere Ort? Gleichzeitig sagt der Staatsanwalt Ignacio de Francisci, der dich, Stefan Schmidt wegen der Rettung der 37 Flüchtlinge angeklagt hat, man sei in rechtlicher und politischer Hinsicht gezwungen, die Wiederholung solcher Aktionen zu verhindern, auch wenn sie aus edler Absicht geschehen sind. Manch einer hat vielleicht schon gehört, was der damalige Innenminister Otto Schily gesagt hat: „Es geht darum, ein gefährliches Exempel zu verhindern.“ Euer Prozess ist übrigens am 7. Oktober 2009.

Das ist eine weitere Art der Abschreckung. Denen, die retten, drohen große Strafen. In unserem Fall sollen wir nach Wunsch des Staatsanwalts für vier Jahre ohne Bewährung ins Gefängnis und noch jeder 400.000 Euro Geldstrafe zahlen, obwohl die lebensbedrohliche Lage der Flüchtlinge nach fünf Jahren Prozess festgestellt wurde. Über die Geldstrafe kann ich nur lachen, die kann ich im Leben nicht bezahlen. Aber ich will nicht mehr so gerne Gefängnis erleben, wie damals direkt nach dem Einlaufen in den Hafen von Porto Empedocle.

Die Sache mit den sieben tunesischen Fischern macht mich rasend: Ich habe die erlebt, die sitzen in dem selben Gerichtssaal, wir begegnen uns da öfter, allerdings mit einem Unterschied: Wir sitzen auf einer schönen Bank und die Tunesier werden in einem Stahlkäfig vorgeführt. Die sind zufällig daran vorbeigekommen, als ein Boot dabei war zu sinken. Was machen sie jetzt? Die tun das einzig Korrekte: Sie informieren sofort die Behörden und rufen die Küstenwache an: „Hier sinkt ein Boot, da sind Menschen drauf, Frauen und Kinder, 44 Leute. Was jetzt?“ Die Behörden sagen: „Nichts anfassen. Wir kümmern uns darum.“ Es kommt aber keiner. Das ist natürlich schlecht, weil der Seemann weiß: Die Küstenwache braucht nur zwölf Minuten, um mit ihren Schnellbooten zu kommen. Die kommen aber nicht. Jetzt musst du gucken, wie du mit deinem jeweiligen Gott, egal, wie der gerade heißt, klarkommst und mit dir selber. Was machen die Tunesier bei Windstärke fünf auf ihrem kleinen Fischkutter, der unruhig in den Wellen geht? Das ist ein absolut dramatisches, gefährliches Manöver, Menschen in Todesangst von einem sinkenden Boot, zum Teil bewusstlos, Kinder auf das Fischerboot zu hieven. Und die schaffen das! Die schaffen es, 44 Menschen zu retten. In dem Moment kommt die Küstenwache angebrettert und sagt: „Warte mal, Freund, hatten wir nicht gesagt, du sollst hier nichts anfassen?“ Aber dann wären sie schon tot gewesen. Dann sagt die Küstenwache: “Bring die doch mal einfach nach Libyen.“ Der tunesische Fischer kann nicht nach Libyen fahren. Der würde sofort verhaftet, geschweige denn mit Flüchtlingen an Bord, die übrigens zum Teil bewusstlos waren. Der Fischer sagt: „Nichts da, ich fahre jetzt direkt hier nach Lampedusa, hier ist die Insel, ich sehe die ja schon“. – „Nein, fährst du nicht.“ – „Tu ich wohl“. Und dann fährt der Fischer los. – Ich muss hier meine Sympathie nicht verhehlen. Der fährt los und eine Korvette, ein Kriegsschiff der italienischen Marine, zieht in voller Fahrt vor dem Bug dieses schwankenden und mit 44 Geretteten auch überladenen Fischerbootes vorbei. Das ist keine Geste, das ist ein Mordversuch! Da entsteht eine Riesen-Bugwelle. Aber der Fischer bleibt auf Kurs und kommt auf der Insel an und wird als Schlepper direkt verhaftet, alle sieben Fischer. Das Boot wird beschlagnahmt und die Geretteten sollen direkt alle abgeschoben werden. Das geht aber nicht, denn die müssen zum Teil erst mal mit dem Hubschrauber aufs Festland geflogen werden, eben weil sie in einem sehr schlechten Zustand sind. Menschen auf diesen Booten sind oft sehr unterkühlt durch die Feuchtigkeit, die sie in den Klamotten haben, sie sind ausgezehrt, weil sie lange keine Nahrung hatten und in ihrer Not zum Teil Meerwasser getrunken haben.

Solche Beispiele könnte ich viele erzählen, das sprengt hier den Rahmen, aber da sind Verhältnisse eingerissen, die dürfen wir – wie du vorhin gesagt hast – auch in unserem eigenen Namen nicht hinnehmen. Es ist eine schwierige Aufgabe, überhaupt erst mal irgendwo ins Gespräch darüber zu kommen. Die Medien sind da nicht besonders hilfreich. Deshalb bin ich sehr froh, dass ich das hier tun kann, weil ich weiß, dass Kirchenräume unter anderem Räume sind, in denen man sich so etwas erst einmal anhören kann und sich sozusagen auch emotional dafür ein bisschen öffnet. Es ist schrecklich und furchtbar traurig. Ich bin deshalb froh, dass es in Deutschland immer wieder Gottesdienste gibt und Requiems für die Toten im Mittelmeer. Am Anfang dachte ich: „Was soll das, was habe ich damit zu tun?“ Aber es ist ja so: Um diese Menschen trauert niemand. Die verschwinden da draußen. Die Familien zu Hause wissen gar nicht, dass die weg sind. Die melden sich nicht, na ja, haben wir ja noch Hoffnung, und wir hier denken offensichtlich, das könnte uns egal sein. Darum finde ich das sehr schön und freue ich mich sehr, hier zu sein, dass wir Menschen wie denen, die ich einmal kennengelernt habe, noch mal eine Stimme geben und einfach an sie denken. Das bewegt schon was.

DIE FORDERUNG: MENSCHENRECHTE OHNE GRENZEN

Gedenken sollten wir neben den Toten deshalb auch der Menschen, wie dem tunesischen Fischer Abdel Basset Zenzeri und seinen Leuten, denen die gesamte Existenz geraubt ist, zwei Boote von dreien sind zerstört, sie haben Fischereiverbot, dürfen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen und können ihre Familien mit dem, was sie können und tun, nicht mehr ernähren.

Das Ziel von solchen Schauprozessen ist es, zu verhindern, dass wir das tun, was wir nach unseren berühmten Werten Europas für das Gegebene halten. All das steht auf dem Kopf. Bis zum heutigen Tage gibt es keinen einzigen Prozess wegen unterlassener Hilfeleistung, obwohl die vorbeifahrenden Schiffe zum Teil mit Namen bekannt sind, die überlebenden Flüchtlinge beschreiben sie.

Die Verlierer des Weltwirtschaftssystems, die Flüchtlinge auf dieser Erde, werden „redundant people“ genannt, wörtlich übersetzt: „überflüssige Menschen“. Ich habe mich schon lange gefragt: „Was können wir denn tun? Können wir irgendwas tun?“ Dann sehe ich in dir, Elias, jemanden, der etwas tut und darin auch etwas bewegt, weil du bewusstmachst und du dokumentierst das auch mit deiner neuen NGO, der „borderline europe“ – „Menschenrechte ohne Grenzen e.V.“ Der UN-Sonderbeauftragte Jean Ziegler redet von der „Macht der Scham“, sich schämen über unser eigenes Land, über Europa und redet von einer neuen möglichen planetarischen Zivilbewegung. Alles ist möglich, sagt er, wir können die Politik zwingen, anders zu handeln.

 

In der katholischen Tageszeitung Italiens, „Avvenire“ stand: „Im Meer unserer Ferien sterben die Leute. Das ist die Verletzung eines alten Gesetzes, die unsere eigenen Wurzeln bedroht, die Idee, was der Mensch wirklich ist und was sein unendlicher Wert bedeutet.“ Wenn wir beginnen, uns zu schämen, könnte die Kraft, die daraus entsteht ganze Systeme zum Erzittern bringen. Wie siehst Du das?

Ich war vor Kurzem in der Nikolaikirche in Leipzig eingeladen, wo in den 80-er Jahren die Montagsdemonstrationen stattgefunden haben, die zur Wiedervereinigung Deutschlands beigetragen haben. Da wurde es mir so richtig klar: Das waren am Anfang acht, dann elf, dann 17 Leute. Die hatten furchtbare Angst und fragten sich: „Dürfen wir das überhaupt, dürfen wir uns überhaupt so frei unterhalten hier?“ Wenn man heute sieht, was daraus geworden ist, ist das sehr ermutigend für mich. Jeder Einzelne hat heute die Möglichkeit, frei seinen Gefühlen und Überzeugungen zu folgen. Ich würde mich freuen, wenn man wieder öfter über essentielle Dinge sprechen würde. Ich habe nichts dagegen, lustig zu sein und zu lachen. Aber ich glaube, wir kommen jetzt in eine Zeit, wo wir beginnen, uns wieder sehr ernsthaft zu unterhalten, das spüre ich in vielen Veranstaltungen.

Ich möchte schließen mit Pablo Nerudas Zitat:

 

„Sie können alle Blumen abschneiden,
aber nie werden sie den Frühling beherrschen.“

 

Und das betrifft unser Menschsein genauso. Danke für das Gespräch.

Redigiert von Helga Fitzner