Kriegstraumata

Die transgenerationale weitergabe von kriegstraumatisierungen

Die „vergessene Generation“ sind die Jungen und Mädchen, die zwischen 1933 und 1945 geboren wurden und das Dritte Reich als Kinder erlebt haben. Viele von ihnen sind durch die Geschehnisse während des Krieges und in der Nachkriegszeit traumatisiert worden. Es hat fast 60 Jahre gedauert, bis diese Traumata und ihre Auswirkungen auf die Folgegenerationen in den Blick geraten sind. Hans Mörtter hat sich mehrfach mit diesem Thema beschäftigt. Wir haben hier einige unserer diesbezüglichen Aktivitäten zusammengestellt.

Am 18. April 2010 war der Journalist Curt Hondrich das erste Mal zu einem Themengottesdienst in der Lutherkirche, der sich auf die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen spezialisiert hat. Diese gehen bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618 -1648) zurück und sind Gegenstand eingehender Forschung.

Im selben Jahr hatte die Künstlerin Barbara Riege eine Ausstellung bei uns mit Skulpturen in der Sitzhaltung derer, die im Luftschutzkeller saßen.

Themengottesdienst über Kriegstraumata mit Pfarrer Hans Mörtter und Curt Hondrich, Foto: Helga Fitzner
Curt Hondrich hat sich auf die Forschung der Weitergabe von Kriegstraumatisierungen spezialisiert
Ausstellung Kriegstraumata, Skulpturen von Barbara Riege, Foto: Helga Fitzner
Die Künstlerin Barbara Riege hat die Sitzhaltungen im Luftschutzkeller nachempfunden

TRÄUME UND VISIONEN SCHEINEN AUSGEBOMBT ZU SEIN

Herr Mörtter, seit wann gibt es das Gottesdienstformat „Vergessene Generation“?

Das lag als Thema schon länger in der Luft. Richtig los gegangen ist es dann im Jahr 2006.

Gab es einen konkreten Anlass dazu?

Es war auf jeden Fall eine Reaktion auf den Irakkrieg 2003, den ich im Vorfeld schon in den „normalen“ Gottesdiensten immer wieder thematisiert hatte. Konkreter Anlass war eine Erkenntnis von unserem Gemeindeglied Brigitta Mittenzwei, die auch lange Jahre ehrenamtlich für die Lutherkirche tätig war. Die hat den Zweiten Weltkrieg erlebt und als der Irakkrieg losgeschlagen wurde, hatte sie ein Aha-Erlebnis: „Jetzt verstehe ich mich viel besser“, rief sie damals aus. Ihr war urplötzlich aufgegangen, wie sehr ihre Traumatisierung durch den Krieg über Jahrzehnte nachgewirkt hatte. Das ist ihr durch diesen neuen Krieg, in den Deutschland Gott sei Dank nicht mit eingestiegen ist, gegenwärtig geworden.

Das betraf aber nicht nur Frau Mittenzwei!?

Nein. Durch die ganzen Diskussionen vor und während des Irakkriegs sind unsere Seniorinnen mobil geworden. Die machten die sich dann auf, ein Buch mit Kochrezepten aus der Kriegszeit zu schreiben, in dem es schon kleine Einblicke in ihre Kriegserlebnisse gab. 2005 kam das Buch „Als wir noch schön und hungrig waren – Kochgeschichten aus der schlechten Zeit“ heraus. Dieses Buch ist allerdings schon lange vergriffen.

Entstand dann daraus die Idee zu dem Gottesdienstformat „Vergessene Generation“? (Das Format wurde inzwischen in „Kriegstraumata“ umbenannt)

Ja, das brodelte schon einige Zeit länger, aber der Irakkrieg hat da einige Steine ins Rollen gebracht. Ich begegnete dann der Künstlerin Barbara Riege, die Figuren in Körperhaltungen herstellte, wie sie die als Kind im Luftschutzkeller erlebt hat. Mit diesen Figuren gab es eine Ausstellung in der Lutherkirche und diese Figuren waren dann auch beim ersten Themengottesdienst zur „Vergessenen Generation“ zu sehen.

Daraus entwickelte sich ganz natürlich, dass Zeitzeug:innen von ihren Erlebnissen öffentlich erzählt haben.

Ja. Das Gottesdienstformat gewährt so eine Qualität des Sich-Erinnerns, der Erinnerungskultur. Dabei hat sich ergeben, dass es nicht nur wichtig ist, sich zu erinnern, sondern auch zu reflektieren. 2010 war der Journalist Curt Hondrich zu Gast, der einen Verein gegründet hat, in dem solche Erzählungen wissenschaftlich erfasst und ausgewertet werden im Rahmen der Traumaforschung. Es weitet sich auch auf die Generation der Enkel:innen aus, die den Krieg gar nicht erlebt haben. Es geht also weiter. Was ich mich zur Zeit frage, ist, wie ich da einen Dialog hinbekomme. Was ist den „Kriegsenkeln“ passiert, angesichts der meist schweigenden Kriegskinder?

Man hört gelegentlich Stimmen, dass das ewig die alte Leier sei und dass das doch endlich einmal aufhören müsse.

Das geht immer weiter, weil der Einfluss immer noch da ist. Warum gibt es in Deutschland so wenig Visionen? Warum sind wir ein traumloses Land? Dazu äußert sich keiner mehr öffentlich. Die Träume und Visionen scheinen „ausgebombt“ zu sein. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich so ein Fatalismus breit gemacht: „Das ist eben so, da kann man nichts machen.“ Da wurde nur geschaut, wie man überlebt. Zum Beispiel beim Krieg in Afghanistan. Da heißt es auch: „Das ist eben so. Es gibt eben keine andere Möglichkeit“. Curt Hondrich hat die Frage aufgeworfen: „Sind wir überhaupt noch in der Lage, eine andere Art der Konfliktlösung als Gewalt oder Krieg wahrzunehmen?“

Wir können also überhaupt nicht mit Krieg aufhören, solange wir diese kollektive Traumatisierung nicht auflösen?

Eher nicht. Aber warum glauben wir, dass Krieg immer noch nötig ist? Weil unsere Erfahrungen das bestätigen. „Ich bin schwach, ich kann nichts machen“. Wegen dieser Ohnmacht ist ein angstfreier Umgang mit Konflikten nicht möglich. Denn dieses Ohnmachtsmuster wird von Generation zu Generation weitergegeben. Dazu hat Curt Hondrich im Themengottesdienst erzählt, dass es uns seit dem 30-jährigen Krieg (1618 – 1648) so ergangen ist. Wir sind aus diesem Kreislauf über Jahrhunderte nicht herausgekommen. Erst jetzt nach 65 Jahren mehr oder weniger ohne Krieg, gibt es in Deutschland eine Chance, diesen Kreislauf der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata zu durchbrechen. Sie haben ja ein ausführliches Interview mit Curt Hondrich gemacht, in dem sehr intensiv auf diese Frage eingegangen wird.


AUS DEM RIESIGEN TRAUMA EINE FRIEDENSBOTSCHAFT MACHEN

Es hat scheinbar in den Jahren seit dem Irakkrieg 2003 doch so etwas wie eine Entwicklung gegeben.

Ja. Ich denke schon, dass es eine Weiterentwicklung gegeben hat. Unsere Seniorinnen sind mit ihren Kochgeschichten an die Öffentlichkeit gegangen und haben dann später – mit Ihnen als Redakteurin – das Buch „Angerichtet – Vom Überleben und Kochen in schlimmer Zeit“ nachgelegt, in dem es eine wesentlich intensivere Auseinandersetzung mit der Kriegs- und Nachkriegszeit gibt und in dem auch männliche Kriegsteilnehmer zu Wort kommen. Da ist viel freigesetzt worden. – Die Figuren von Barbara Riege würden jetzt in der Form, wie sie damals installiert wurden, nicht mehr passen. Die waren alle für sich und isoliert von einander. Heute weiß die „vergessene Generation“, dass man sich ihrer gewahr ist, dass es nicht nur um Einzelerlebnisse, sondern auch um ein kollektives Phänomen geht. Das wird mittlerweile allgemein hin wahrgenommen, ist Gegenstand weiterer Forschung und Thema vieler Veröffentlichungen in allen Medien. Damit ist das Thema im allgemeinen, gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen und kein isoliertes Geschehen mehr.

Die Betroffenen sind also nicht mehr allein damit.

Zumindest diejenigen nicht mehr, die in der Lage und willens sind, sich dem Thema zu stellen. Und dabei ist jede Erfahrung wichtig und Gold wert. Wir üben eine eingehende Kultur des Erzählens und des Zuhörens ein und es findet der Versuch einer Deutung statt. Wo bleibe ich als Hörender in dem Gottesdienst mit meinen Geschichten? Vielleicht müssten wir in Zukunft die Möglichkeit schaffen, dass alle Anwesenden sich einbringen können, dass auch für einen erweiterten Dialog Raum ist. Es soll kein statischer Gottesdienst sein.

Kann Kirche da mehr tun, als nur reden?

Ja. Kirchliche Organisationen wie „Brot für die Welt“ und „Misereor“ tun ganz konkret etwas, indem sie in Krisengebiete gehen und dort vor Ort Hilfe gegen Hunger und Krankheit sowie zum Wiederaufbau leisten. Dafür wird in den Gottesdiensten regelmäßig gesammelt. Gerhart Baum, der ehemalige Bundesinnenminister und unser erster Gast beim Talkgottesdienst, hat da noch ganz andere Ideen. Zum Krieg im Kongo und anderswo schlägt er vor, die Diktatoren, die am Krieg und an der Unterdrückung der Bevölkerung verdienen, zu isolieren. Er plädiert für radikale Sanktionen, Einreiseverbote solcher Politiker in möglichst alle anderen Länder und das Einfrieren sämtlicher Auslandskonten der Gewaltherrscher. Wenn es ums Geld geht, da sind sie verwundbar. Dazu muss man aber konsequent und sich einig sein und manchmal auch einen langen Atem haben. Bomben abwerfen, ginge schneller. In Zukunft sind aber ganz andere Konfliktlösungsstrategien weltweit im Miteinander gefragt. Wir brauchen ein Kodex dafür.

Das sind aber politische und keine kirchlichen Entscheidungen.

Nein, aber Kirche kann das fördern, indem sie auf Politiker einwirkt. Wir erleben doch in Afghanistan und im Irak, dass es nicht funktioniert. Im Libanon droht wieder ein neuer Krieg mit Syrien. Deshalb ist eine der Fragen, der wir im Gottesdienstformat „Vergessene Generation“ nachgehen, die nach dem Grund, warum wir glauben, dass das nur mit Gewalt geht. Weil unsere Erfahrungen das bestätigen. Das zementiert sich. Der Stärkere setzt sich durch. Was sind Faktoren, die Gewalt beschleunigen. Dazu gehören auch wirtschaftliche Interessen. Da geht es darum, sich dessen bewusst zu werden.

Also geht um mehr, als die Schrecken des Krieges immer nur unreflektiert wieder aufleben zu lassen. Der Blick soll für gewaltfreie Lösungen geöffnet werden, für eine ganze Bandbreite von Menschenrechtsarbeit und friedensstiftenden Maßnahmen.

Genau. Ich habe kürzlich den Roman „Stadt der Diebe“ von David Benioff gelesen, der in Leningrad während des Zweiten Weltkrieges spielt. Darin wird der Frage nachgegangen, wie man aus all dem Leid, das auf russischer und deutscher Seite entstanden ist, aus dem riesigen Trauma eine Friedensbotschaft machen könnte. Das hat mich fasziniert. Das geschieht schon in Japan. Die haben aus den beiden Abwürfen von Atombomben von 1949, die Friedensbotschaft von Hiroschima und Nagasaki entstehen lassen. Die reisen aktiv herum und vermitteln das weltweit. Oder hier in Deutschland die Frauenkirche in Dresden. Auch die setzen weltweite leuchtende Signale. Das entspricht doch dem Bedürfnis der meisten Menschen: „Wir wollen keinen Krieg, wir wollen etwas anderes.“

Das Interview führte Helga Fitzner am 20. Juli 2010

DAS AUSMAß VON KRIEGSTRAUMATISIERUNGEN

Herr Hondrich, Sie haben vor einigen Jahren, als Sie noch Redakteur beim WDR-Hörfunk waren, die Autorin Sabine Bode auf das Thema der Kriegskindergeneration angesetzt. Daraus hat sich Frau Bodes viel beachtetes Buch „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ (2004) ergeben, dessen Titel allgemein namensgebend wurde für die Kinder und Jugendlichen, die ein paar Jahre vor oder während des Zweiten Weltkrieges geboren wurden. Mittlerweile hat Prof. Dr. Hartmut Radebold ein zentrales Kriegskinder-Archiv gegründet, in dem die Geschichten dieser Generation gesammelt und wissenschaftlich ausgewertet werden. An der Entwicklung dieser Idee waren Sie beteiligt. Herr Hondrich, wie sind Sie selber auf das Thema und seine Bedeutung gestoßen?

Genau weiß ich das nicht mehr, Frau Fitzner. Einer der Gründe war sicherlich der Zweite Golfkrieg (1990 – 1991). Ich habe im Fernsehen die digitalen Bilder von diesen sogenannten klinisch sauberen Attacken gesehen, von denen wir erst hinterher erfahren haben, dass sie aus dem Archiv kamen und von den US-Militärs lanciert worden waren. – Bei diesen Bildern kamen bei mir ganz merkwürdige Emotionen hoch von beängstigend bis „raus hier“. Ich habe mich hinterher gefragt, was das eigentlich genau war und keine Antwort gefunden. Ich hatte vorher eine Analyse gemacht, die wir nach zwei Jahren abbrachen, weil meine Therapeutin und ich nicht weiterkamen. Nach dem Zweiten Golfkrieg bekam ich aber eine dumpfe Ahnung, dass meine Probleme mit meinen Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs zu tun haben könnten. Ich bin 1939 einen Monat vor Kriegsbeginn geboren, meine frühkindliche Sozialisation hat also komplett im Krieg stattgefunden. Zu Kriegsbeginn war die Stimmung – wie wir wissen – noch ganz euphemistisch, aber 1941, als ich zwei Jahre alt war, begannen die ersten großen Bombenangriffe auf meine Heimatstadt Köln. Wir waren dabei, wir haben den feuerroten Himmel gesehen und mitbekommen, wie Fallschirmjäger vom Himmel fielen und in der Luft abgeschossen wurden.

Erinnern Sie sich selbst noch daran oder wissen Sie das aus Erzählungen?

Daran erinnere ich mich noch selbst. Das ist nicht weg. Das sind kleine Erinnerungsinseln, die geblieben sind. Ich kann mir diese Bilder völlig emotionslos anschauen, und heute weiß ich, dass diese Emotionslosigkeit ein Symptom für eine Traumatisierung ist.

Das könnte genauso gut ein Videospiel sein?

Das könnte genauso gut ein Videospiel sein. Ich sehe das und fühle keinerlei Regung dabei. – Nur als dann die Bilder vom Golfkrieg im Fernsehen kamen, da tat sich plötzlich etwas. Ich hatte Angstgefühle und bekam Panik, wenn ich Feuerwehrsirenen hörte, die vorher nichts in mir ausgelöst hatten. Da ich einen Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg vermutete, bekam ich die Idee zu einer Radiosendung über Luftschutzkellerkinder. Die Journalistin Sabine Bode war damals Autorin bei mir und hat diesen Beitrag gemacht. Auch für sie war das der Einstieg ins Thema und sie hat dann ihre wichtigen Bücher über die Kriegskindergeneration und die Kriegsenkel publiziert.

Diese Bücher und auch die einiger anderer Autor:innen mit dieser Thematik möchte ich fast bahnbrechend nennen, denn endlich wurden Dinge ausgesprochen und angesprochen – nach einer langen Zeit des Schweigens.

Dass meine Generation geschwiegen hat, liegt sicherlich mit daran, dass nach dem Krieg die Bilder vom Holocaust so dominant waren und auch die Schuld- und Verantwortungsfrage für das, was in diesen verdammten zwölf Jahren in Deutschland gelaufen ist, so drängend waren, dass die eigenen Verletzungen keine Rolle spielten.

Diese Erfahrung habe ich auch bei den Gesprächen zu meinem Buch „Angerichtet“ gemacht, in dem ich die einige Senioren und Seniorinnen der Lutherkirche befragt habe. Die Täterschaft des deutschen Volkes stand so im Vordergrund, dass das Leiden und die vielen zivilen Opfer auf deutscher Seite völlig zurückgedrängt wurden.

Ich würde uns nicht Opfer nennen. Ich weiß nicht, ob das aus Rücksicht auf die Holocaust-Opfer ist. Die Juden, die Sintis und Roma, die Homosexuellen, die politisch Verfolgten: Das sind für mich die wirklichen Opfer dieses Regimes. Die anderen sind für mich Kriegsverletzte. Wir waren vor einigen Monaten in Israel und haben dort mit Psychoanalytikern und Gerontologen gesprochen. Die machten uns die Eröffnung, dass es ein Unterschied ist, ob man persönlich verfolgt oder ob man bombardiert wird. Das ist ein großer Unterschied, den auch ich gerne beibehalten würde. Allerdings gibt es im Krieg auch Situationen, in denen die Grenze fließend ist.

Die Verfolgten waren als Personen wirklich „gemeint“, bei den Bombardierungen hat man einfach Pech gehabt?

Man ist einfach schicksalhaft unter Bombardement. Die Verfolgung aber ist kein Schicksal, sondern Niedertracht. Es ist einfach nur böse. Krieg ist Krieg, und es ist ein Wahnsinn, wenn ein solcher Krieg angefangen wird, ganz egal in welcher Ecke der Welt. Aber da geht es nicht um mich persönlich. Ich kann nicht mit dem Schicksal hadern, wenn ich in einen Wolkenbruch gerate. So ähnlich ist es beim Krieg. Ich bin halt gerade da, wo die Bomben abgeworfen werden oder gerade da, wo eine Autobombe hochgeht. Das ist Fatum. Bei den Bombardierungen war es auch insofern anders, als die meisten Angriffe vorhersehbar waren. Es gab Fliegeralarm, und man konnte in die Luftschutzkeller oder in die Bunker. – Das war allerdings keine Garantie dafür, dass man davon kam.

Es gibt aber auch Berichte von deutschen Zivilist:innen, sogar Kindern, die von Tieffliegern gejagt und beschossen worden sind. Die Tiefflieger waren nah genug, um zu sehen, dass das Kinder waren. Die waren dann „gemeint“.

Das ist ein solcher Grenzfall. Natürlich gab es Tiefflieger. Ich bin auch beschossen worden. Unsere kleine Gruppe bestand aus einer Frau und drei Kindern. Das war für die Piloten deutlich zu erkennen. Die haben uns überflogen, wieder gedreht und uns dann gejagt.

In dem Moment waren Sie aber „gemeint“.

Ja, in dem Moment ist man „gemeint“ und auch völlig hilflos. Man läuft wie ein Hase und neben einem spritzt der Dreck hoch.

Das ist furchtbar. Am Ende haben Sie noch froh sein müssen, dass es nur Dreck war.

Wir haben Glück gehabt – oder die haben bewusst daneben geschossen und wollten uns nur Angst machen. Das war schon eine schreckliche Erfahrung: Hier will dir einer ans Leben. Aber diese individuelle Bedrohung war situativ. Bei den Holocaust-Verfolgten blieb die Bedrohung ständig und hatte System.

 

KINDERERZIEHUNG IM DRITTEN REICH UND DANACH

Sind die Erwachsenen danach irgendwie auf die Kinder eingegangen?

Nein. Ich bekam hinterher noch Ärger, weil ich in der Panik einen Schuh verloren hatte. Den haben wir hinterher zum Glück wiedergefunden. Das sind so Sachen, dass Kinder auch noch gescholten werden, nachdem sie um ihr Leben gerannt sind. Für uns Menschen sind Gegenstände offenbar sehr wichtig, vor allem wenn wir in einer Notsituation sind, in der wir Mangel leiden.

In dieser Zeit hat man sich über die gefühlsmäßigen Belange von Kindern wenig oder gar nicht gekümmert.

Das war ganz im Zuge der Haarer-Pädagogik. Johanna Haarer hat damals den Bestseller geschrieben „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1934) und hat die Pädagogik vertreten, dass das kleine Kind frühzeitig von der Mutter getrennt werden muss, damit es stabil und hart wird. Man sollte es schreien lassen und die elementarsten Bedürfnisse wie Füttern, Waschen und Wickeln nur nach einem festen Zeitplan befriedigen. Das Buch von Johanna Haarer gab es bis in die 1980-er Jahre zu kaufen. Aus dieser Ecke kommen Sprüche wie: „Ein Junge weint nicht“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Das bedeutet, dass ein Kind sich nicht so anstellen und Unangenehmes wegstecken soll. Das war die Ideologie dahinter. Auch nach dem Krieg. Da war die Adenauer-Gesellschaft auch noch eine Haarer-Gesellschaft, wenn Sie so wollen. Wir durften doch nichts: „Rasen betreten verboten“. Überall waren Verbotsschilder.

Kindsein war verboten.

Das war damals völlig normal und davon war auch mein Elternhaus geprägt. Kinder hatten zu gehorchen. Bis nach der Adenauer-Gesellschaft gab es diese autoritäre Erziehungsstruktur, von der die Kriegskindergeneration enorm geprägt war. Dazu gehörte auch: Stell dich nicht so an, andere haben es noch viel schlimmer gehabt.

Da ist für die eigene Position der Kinder als Opfer, Sie bevorzugen den Begriff Verletzte, kein Raum.

Nein, wegen der Opfer des Holocausts gab es guten Grund, den Mund zu halten. Man hatte zu funktionieren. Der Raum für mein Erleben als Kriegskind war nicht vorhanden, ich konnte mit meinen Verletzungen nirgendwohin. Die wurden abgespalten und verdrängt. Und es wurde weitergemacht. Solange man in der Gesellschaft funktionieren kann, geht das auch ganz gut. Solange ich Aufgaben habe, solange ich „Ranklotzen“ kann, geht das. Das hat diese Generation gemacht. Die ältere Generation hat nach dem Krieg aufgebaut, und wir Kriegskinder haben weitergemacht und konsolidiert. Das war unsere Generation, die das mit bewerkstelligt hat. Insofern hatten wir keine Zeit, über uns nachzudenken. Wollten wir auch nicht. Denn da gab es einen dunklen Bereich in uns, das hat wohl jeder von uns gespürt, an den wir nicht heran wollten, weil wir nicht wussten, was wir da finden würden. Wir hatten Angst davor, in unseren eigenen Abgrund sehen zu müssen.

Da war auf der einen Seite der Redakteur Curt Hondrich, der erfolgreich war und funktionierte, irgendwo war aber der „kleine Curt“, der sich (noch) nicht bemerkbar machen konnte.

Der „kleine Curt“ war irgendwo versteckt. Der hat einfach keine Möglichkeit gehabt, zu weinen oder sonst irgend etwas zu machen, um sich zu betrauern, über das, was er an Verlusten erlitten hatte, Schmerz zu empfinden. Das war vor allem der durch den Krieg bedingte Verlust an elterlicher Zuwendung. Die Mütter waren mit ihren eigenen Ängsten oder mit dem Management des Überlebenskampfes beschäftigt. Der Vater war im Krieg oder wenn er als „unabkömmlich“ eingestuft war, dann war er zwar da, aber genauso wie die Mutter für das Kind emotional unerreichbar. Die Kinder blieben sich selbst überlassen. Was Kinder aber in Situationen von Gefahr und Bedrohung vor allem brauchen, ist Geborgenheit und Schutz. Und wenn die in lebensbedrohlichen Situationen fehlen, dann kommt es zu Traumatisierungen.

SO WIRKT DIE TRANSGENERATIONALE WEITERGABE VON KRIEGSTRAUMATISIERUNGEN

Wenn man den Schmerz über eine Verletzung nicht zulassen kann, wirkt die im Unterbewusstsein trotzdem weiter.

Wenn ich in mir etwas nicht zulassen darf, weil es aus irgendeinem Grund tabuisiert oder verboten ist oder mich gefährdet, bin ich immer in der Gefahr, andere zu bekämpfen, die genau das tun, was ich mir selbst verbiete. Ich projiziere meine eigenen Verbote auf andere. Denn was ich nicht tun darf, soll auch kein anderer dürfen.

Selbst bei einem so banalen Beispiel, wie „Rasen betreten verboten“. Sobald jemand auf den Rasen geht…

… jagt man den sofort runter. So funktioniert das. Und wenn das, was bei den Erwachsenen in ihrem Inneren verschlossen bleiben muss, weil sie sich davor fürchten oder damit nicht fertig werden, wenn das ohne Erklärungen, also sprachlos auf ihr Kind übertragen und dort sozusagen als Containment eingebettet wurde, dann hat man es dem Kind „introjiziert“. Ein Introjekt ist ein in sich abgeschlossenes Muster, das in das Kind implantiert worden ist. Dann gibt es da etwas, was in diesem Kind vorhanden ist und in ihm wirkt, das das Kind aber nicht versteht. So funktioniert eine Trauma-Entlastung, wenn die Eltern ihre Traumata nicht bewältigt und nicht therapiert haben. Diese Traumata werden in Form von Introjekten in den Kindern platziert.

So werden unbearbeitete Traumata von Generation zu Generation weitergegeben.

Genau. So funktioniert transgenerationale Weitergabe. Die Kinder tragen die Lasten ihrer Eltern, die sie nicht verstehen, aber tragen.

Entweder sie verteidigen den Rasen oder sie zerstören ihn.

Vereinfacht gesagt ist das so. Was die 68-er Generation gemacht hat und vor allem die RAF, war einerseits eine Befreiung, weil ein öffentlicher Diskurs über das Dritte Reich in Gang gesetzt wurde, gleichzeitig waren aber die damit verbundenen Aggressionen sehr wohl begründet in den Introjekten dieser jungen Menschen. Das spielt beides eine Rolle. Da kommt etwas nach oben und wird rationalisiert, damit man es packen kann. Es wird also nach außen in die Gesellschaft getragen, doch im Bauch findet sozusagen noch ein ganz anderer Kampf statt. Das ist der Kampf gegen die Eltern auf der einen und gegen die von ihnen ererbten Introjekte auf der anderen Seite. Dieser innere Kampf wird aber nicht ausgetragen. Rudi Dutschke, der bekannteste Wortführer der 68-er Studentenbewegung, war zu Hause lammfromm.

Klar. Die eigenen Eltern werden unter allen Umständen geschützt.

Genau. Die Kinder hatten während des Krieges entweder keine Eltern, weil sie evakuiert waren, oder nur inkomplette Familien. Bei denen, die Glück hatten, kam nach dem Krieg der Vater wieder nach Hause, da war die Familie wieder komplett.

Der Vater war aber nicht mehr der selbe.

Die Familie musste sich auf diesen veränderten Vater einstellen – und der Vater auf die veränderte, selbständig gewordene Mutter. Jetzt findet zwar eine andere Familienkonstellation statt, aber für das Kind ist das familiäre Dreieck, die Triangulierung, die das Kind braucht, wieder komplett. Und es wird einen Teufel tun, das in Frage zu stellen.

Wie der lammfromme Rudi Dutschke.

Rudi Dutschke geht auf die Straße, kämpft öffentlich gegen die Elterngeneration und zu Hause ist er der brave Sohn. Erst als die Eltern ihm Vorwürfe wegen seiner Aktionen machten und sie ablehnen, geht er nicht mehr nach Hause. Auch die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin ist von ihrem Vater sozusagen gedeckt worden. Sie hat stellvertretend für ihren Vater gehandelt. Das könnte man ein klassisches Introjekt nennen.

Gudrun Ensslins Vater war Pfarrer.

Der „fromme“ Pfarrer durfte und konnte nicht handeln, wie er vielleicht gerne gewollt hätte, nämlich seine ganze Wut und seinen Hass rauslassen. Er hat alles seiner Tochter introjiziert. Die hat dann gehandelt. Er hat dieses Handeln mit Sympathie begleitet. Bis zu einem gewissen Punkt. Als ihr Protest dann umkippte in pure Gewalt, konnte er ihr nicht mehr folgen. Nun verurteilte er, was er sich selbst verbieten musste.

Aber man kann dem Vater von Gudrun Ensslin nicht vorwerfen, dass er das bewusst gemacht hat.

Auf gar keinen Fall. Niemand macht das bewusst. Man kann den Eltern keinen Vorwurf machen. Sie sind vermutlich selbst mit Introjekten von ihren Eltern ausgestattet. Introjektionen, Abspaltungen, Verdrängungen, das sind Schutzmechanismen der Seele, um überleben zu können. Es ist gut, dass wir diese Mechanismen haben.

So werden die Traumatisierungen oft unbemerkt an die Generation der Kriegsenkel weitergegeben, das sind die Kinder der Kriegskinder.

Wenn es sich um ein klassisches Introjekt handelt, das von den Eltern oder Großeltern platziert worden ist, dann ist das ein dunkler Fleck, den das Kind nicht begreifen kann. Ich spüre da etwas in mir, ich verstehe es aber nicht und deswegen habe ich Angst, daran zu rühren. Ich weiß ja nicht, was dann passiert. Also versuche ich das Fremde zu unterdrücken. Es bleibt aber und bestimmt unterbewusst mein Handeln weiter. Ich kann es ja nicht auslöschen. Ich habe bei einer Tagung neulich neben einer Psychoanalytikerin gesessen, die meinte: „Rühren Sie da nicht dran, dann passiert auch nichts“. Da bin ich in die Luft gegangen: Natürlich passiert etwas, laufend passiert etwas, es bestimmt unser Handeln. Wenn wir es nicht anpacken, passiert es immer weiter. Dass wir immer noch Krieg als Mittel für Konfliktlösungen empfinden und tatsächlich auch praktizieren, hat damit zu tun, dass wir nicht gelernt haben, mit Krieg fertig zu werden, weil er in uns ist. Von Generation zu Generation sind die Verletzungen, die durch die Kriege entstanden sind, weitergegeben worden. Und Gewalt als Mittel zum Zweck ist uns darum sehr vertraut.

Sie hatten uns damals ziemlich aufgewühlt, als Sie uns in unserem Themengottesdienst zur vergessenen Generation (2010) erklärten, dass die transgenerationale Weitergabe von Traumata in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) ohne Unterbrechung so geschehen ist.

Ja, das ist richtig. Jede Generation ist seitdem in irgendeiner Weise durch Krieg betroffen gewesen und hat diese schlimmen Erfahrungen oft unbearbeitet weitergegeben.

Wir hatten im Nachkriegsdeutschland rund 65 Jahre keinen Krieg auf unserem Boden. Kann es sein, dass die Generation der Kriegsenkel dadurch eine gute Chance hat, diesen Jahrhunderte währenden Kreislauf zu durchbrechen?

Sicher haben wir eine Chance. Nicht politisch. Politisch haben wir einen Schritt zurück gemacht. Krieg ist für uns wieder ein Mittel der Politik geworden, seit das Gleichgewicht des Schreckens zwischen Ost und West verschwunden ist. Dabei ist die gleiche Kapazität an atomarer Sprengkraft immer noch da.

Wir haben seitdem einen neuen Feind, den Islam.

Ja, der Islam ist jetzt der Feind, der den US-Amerikanern und ihren Verbündeten im Osten verloren gegangen ist. Genau so. Insofern stehen die politischen Chancen schlecht. Gesellschaftlich sehe ich aber eine Chance. Nachdem die Kriegskinder-Generation über 60 Jahre lang funktioniert hat und jetzt im Ruhestand ist, gibt es nichts mehr zu funktionieren. Nun begegnen sich auf einmal der alte Mensch und das verletzte Kind in ihm. Die Verletzungen brechen jetzt auf, weil im Alter die sogenannte Ich-Kontrolle nachlässt. Ich kann also nicht mehr so gut kontrollieren, was da in mir an Emotionen frei wird, und die Kraft, die Emotionen einfach weg zu drücken, lässt nach. Was dann oft hochsteigt, sind Erinnerungsbilder aus der Kindheit. Da beginnt bei vielen ein großes Erschrecken.

PSYCHISCHE VERLETZUNGEN KÖNNEN NICHT EINFACH AUSGELÖSCHT WERDEN

Kann man sich, wenn das einmal an die Oberfläche gelangt ist, dagegen wehren?

Nein, Sie können sich nicht dagegen wehren. Sie werden plötzlich von etwas bestürmt, von dem Sie dachten, es wäre gar nicht da. Aber Sie hatten es nicht vergessen. Bei den meisten wird das Bedürfnis groß, darüber zu reden. Dadurch hat seit ein paar Jahren ein gesellschaftlicher Diskurs über die Traumatisierung der Kriegskinder-Generation begonnen. Da in den europäischen Nachbarländern Ähnliches stattfindet, ist dieser Dialog wichtig auch für die Zukunft und für die Einheit Europas.

Es gibt auch Stimmen, die meinen, dass diese „leidige“ Diskussion doch endlich einmal aufhören müsse.

Nein. Die geht leider nicht vorbei. Wir haben es nun einmal, weil wir selber damit nicht fertig werden konnten, unseren Kindern weitergegeben – wohl bemerkt unbeabsichtigt und unbewusst – und nun geht es bei den Kindern weiter. Die sehen manchmal Bilder im Fernsehen, die etwas in ihnen auslösen, was sie gar nicht zurück verfolgen können. Wenn sie Glück haben, leben die Eltern und Großeltern noch und können erzählen. Deshalb ist die Traumaforschung mit der Generation der Kriegskinder, die wir fördern wollen, so dringlich, denn die Generation stirbt allmählich weg. Wir wissen von der psychosomatischen Medizin, dass sich Traumatisierungen auch auf die Organe auswirken können, so dass bei Traumatisierten z. B. Herzkrankheiten signifikant erhöht sind. Insofern hilft es, dass wir mit dieser Generation reden, und dass wir die Erfahrungen dieser Generation festhalten. Deswegen baut unser „Förderverein Kriegskinder für den Frieden“ ein Kriegskinder-Archiv auf, für das wir jetzt bei der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg eine Heimstatt gefunden haben und für das wir dringend Sponsoren brauchen.

Bekommt man die Traumata mit Erzählen denn „weg“?

Man kann sich nicht davon befreien. „Mach weg“, geht nicht. Psychische Verletzungen können nicht gelöscht werden wie eine Festplatte. Es sind Wunden in der Seele, die dauerhafte Narben hinterlassen, die im Gehirn nachweisbar sind. Man kann aber den Mut aufbringen, sich diese Narben anzuschauen. Es gibt Therapien, die den Patienten lernen lassen, mit den Verletzungen zu leben und zu akzeptieren, dass er ist, wie er ist. Er lernt sein Verhalten zu ändern, er lernt mit seinen Narben zu leben. Wenn der Therapeut den historischen Ort kennt, woher die Verletzung stammt, dann kann er das traumatisierende Ereignis lokalisieren und herleiten. Es bleibt aber ein Teil des Patienten, mit dem er leben und gesund werden kann. Das ist dann wie eine Narbe, die verheilt ist: Sie ist da, manchmal kann sie noch weh tun, aber man kann mit ihr leben.

Das klingt aber nicht sehr aussichtsreich.

Man kann mit den Kindern reden, damit sie die Verletzungen der Eltern und damit sich selbst verstehen lernen. Wenn sie das ererbte Ereignis einordnen können, haben sie die Möglichkeit, sie sich anders zu verhalten und besser mit sich zurecht zu kommen.

Das heißt, die Verletzung bleibt. Als Sie als Kind von den Tieffliegern bombardiert wurden, war der verlorene Schuh wichtiger als die Befindlichkeit des kleinen Jungen.

Das ist heute doch nicht anders. Denken Sie nur an den Kratzer am neuen Auto. Da ist die Sache wichtiger als die Person. Wir haben durch die Traumatisierungen doch vielfach unsere Fähigkeit zur Empathie eingebüßt, können nicht nachfühlen, was in anderen Menschen, insbesondere in Kindern vorgeht. Wir können aber durchaus nachempfinden, wenn das Auto eines anderen zu Schaden gekommen ist.

Aber Sie haben es doch irgendwie „geschafft“.

Ich kann mein Verhalten nur ändern, wenn ich meine „Macke“ kenne. Erst wenn ein Kriegstraumatisierter ein Verhältnis zu seinem Trauma bekommt, ist er zur Empathie fähig. Ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Gesundung ist, dass wir lernen unsere Verluste und unsere Verletzungen zu betrauern. Wenn wir nicht trauern, können wir nicht lernen, das zu Betrauernde zu „ver-schmerzen“. Der Verlust, die Verletzung bleiben uns erhalten, aber wir lernen mit dem Schmerz zu leben. Wenn wir das nicht tun, dann wissen wir nicht anders damit umzugehen, als in unserem Schmerz Krieg und Gewalt immer wieder neu entstehen zu lassen.

Sie waren im Mai 2010 bei einer Begegnung in Israel. Welche Erkenntnisse bringen Sie von da mit?

Die Traumatisierung der deutschen Kriegskinder und Holocaust-Opfer sind bedingt vergleichbar. Strukturell gesehen sind sie ähnlich, inhaltlich aber nicht. Bei beiden Gruppen handelt es sich um Verletzte, aber der psychohistorische Ort ist ein anderer. Die einen waren schutzlos dem Irrsinn des Bombenkrieges und der Vertreibung ausgeliefert. Die anderen wurden individuell gejagt, gequält und in permanenter Todesfurcht gehalten.

Der psychohistorische Ort ist der Ort, wo eine Traumatisierung ursprünglich herkommt. Habe ich richtig verstanden, dass bei Introjekten der psychohistorische Ort nicht bei mir zu finden ist, sondern in der Eltern- oder Großelterngeneration?

Ja, genau. Und bei denen ist es die historische und individual-geschichtliche Situation, in der die Traumatisierung stattgefunden hat.

Würde die Bearbeitung der Traumata Veränderungen bringen?

Das würde alles aufweichen. Denn wenn wir die transgenerationale Weitergabe der Kriegstraumatisierung stoppen, wäre eigentlich kein Krieg mehr notwendig. Dann wäre die Politik in Deutschland, in Afghanistan, im Irak, im Sudan, in Israel eine andere. Es wäre leichter vorstellbar, dass die Überbrückung politischer Gegensätze, dass Verständigung auch ohne Gewalt möglich ist.

Das Interview führte Helga Fitzner am 1. September 2010

 

Kleines Glossar von Fachausdrücken

Trauma
Die traumatische Realität überrennt die Abwehr des Ichs und seine adaptiven Ressourcen, bringt immer Hilflosigkeit, automatische Angst und eine Regression auf archaische Ich-Funktionen mit sich. Durch die Angst wird der seelische Schutzschild durchbrochen, der Organismus durch nicht zu bewältigende Quantitäten von Erregungen überflutet, wodurch das Ich in einen Zustand völliger Hilflosigkeit gerät. Das zufällige grausame Faktum bricht in das Leben der Menschen ein. Die biologische Kampf/Flucht-Reaktion ist blockiert und liefert den Menschen einem traumatischen, je nach Dauer progressiv sich zuspitzenden Zustand aus (Krystal 1988). Das hilflos überwältigte Ich gibt auf, Schmerz und Affektüberflutung werden blockiert, eine psychische Lähmung mit einer progressiven Blockade mentaler Funktionen tritt ein. Darin liegt auch die Ursache für später auftretende psychogene Amnesien.
(Definition nach Werner Bohleber, Psychoanalytiker in Frankfurt/M.)

Transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen
Die unbewusste und unbeabsichtigte Weitergabe von Traumatisierungen an die Kinder wird als transgenerationale Weitergabe bezeichnet. Es ist ein Mechanismus, der einsetzt, wenn eigene Traumatisierungen nicht erkannt und bearbeitet werden können. Im Falle von Kriegstraumatisierungen kann das ganze Generationen betreffen.

Introjekte
Das Wort Introjekt verweist auf einen Vorgang, auf introjizieren, es ist ein psychischer Vorgang, durch den etwas von außen nach innen genommen wird. Introjekte sind wie „ungebetene Gäste“, sagt der Psychoanalytiker Behland, d.h. sie kommen von außen, und man hat sie in den eigenen Innenräumen sitzen, ohne es gewollt zu haben. Introjekte verweisen auf ein Beziehungsgeschehen, und zwar auf eines mit zwei Beteiligten, die in einer Macht- und Abhängigkeitsbeziehung sind, wie die zwischen Kind und einer wichtigen erwachsenen Bezugsperson. Das Kind, das in dieser Konstellation wenig Handlungsspielraum hat, d.h. es kann sich nicht wehren und die Situation im Außen verändern, kann unverarbeitete, bedrängende, beängstigende Aspekte des anderen nur schlucken, d.h. nach innen nehmen. Je jünger das Kind und/oder je unfertiger und unabgegrenzter der psychische Apparat ist, um so eher werden in einer Situation der Abhängigkeit, bedrängende Aspekte des erwachsenen Gegenübers direkt in die Psyche aufgenommen und bilden dort jene Introjekte, womit psychische Inhalte gemeint sind, die wie Fremdkörper wirken, die das Subjekt behindern, lähmen und die eine vielfältige Symptomatik nach sich ziehen können.
(Definition nach Edda Uhlmann, Psychoanalytikerin in Hamburg)

Psychohistorie
Schon Sigmund Freud hat die Psychohistorie beschrieben. Unverarbeitete frühkindliche Traumata sind oft die Ursache von seelischen und körperlichen Problemen beim Erwachsenen. Deshalb werden historische Einflüsse aus der unmittelbaren oder ferneren Vergangenheit bei der Behandlung mit berücksichtigt. Dazu können zählen u. a. Erziehungskonzepte wie die von Johanna Haarer, die antiautoritäre Erziehung oder der Einfluss von Kriegs- oder längeren Friedenszeiten auf die Entwicklung eines Menschen sowie jegliche Art von gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Begebenheiten, die einen Menschen bzw. dessen Generation geprägt haben. Die Psychohistorie ist ein therapeutisches Mittel zum besseren Verstehen der Herkunft der Probleme des Patienten.

Zusammengestellt von Helga Fitzner

 

 

 

 

DER DREIßIGJÄHRIGE KRIEG PRÄGE DIE HALTUND DER DEUTSCHEN

Hans Mörtter: Ich weiß gar nicht mehr, wann genau Curt Hondrich und ich uns das erste Mal begegnet sind. Das muss über 20 Jahre her sein und lief irgendwie über gemeinsame Freunde. Durch unsere Aktivitäten kamen wir thematisch immer wieder miteinander in Berührung und über die Jahre ist Curt zu einem Freund und Berater für mich geworden. Curt Hondrich war u. a. Edelgestein des WDR. – Curt, ich freue mich sehr, dich heute hier begrüßen zu dürfen. Du wurdest 1939 kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Köln geboren und sprachst davon, wie du mit zwei Jahren schon geprägt wurdest: „Wir waren dabei, wir haben den feuerroten Himmel mitbekommen und wie die Fallschirmjäger vom Himmel fielen und in der Luft abgeschossen wurden.“ Das wird einfach so erzählt, als ob nichts wäre.

Curt Hondrich: Das sind die Bombennächte in Köln, die 1941 begannen und 1942 noch stärker wurden. Die Flächenbombardements dieser Stadt kennen wir alle, wir alle kennen die Fotos von der zerstörten Innenstadt, von der nur noch ungefähr zehn Prozent übrig war. Das war der Start in mein Leben. Der Krieg hat mich sozialisiert und die Angst meiner Eltern, die Angst der Erwachsenen um mich herum, in den Luftschutzkellern, wo niemand sich mehr verstecken konnte. Wenn die Erde wackelt, wenn es rundherum brennt, dann gibt es kein Verstecken mehr. Kinder sind sehr genaue Beobachter. Sie müssen nicht erzählt bekommen, was passiert. Sie sehen es. Vor allen Dingen sehen sie es an den Eltern. Was da passiert, prägt sie dann für ihr Leben. Angst ist ein fester Bestandteil meines Lebens geworden. Ich habe mein Leben lang, ohne es eigentlich zu wissen – später habe ich es dann gewusst – damit verbracht, diese Angst in Schach zu halten und ihr die Hoffnung entgegenzusetzen.

Deutschland ist nach wie vor ein kriegstraumatisiertes Land. Aber ein wenig sind wir schon aufgewacht, weil wir angefangen haben zu reden. So richtig los ging es bei uns mit dem Irakkrieg. Das war der Umbruch in unserer Gemeinde, wo unsere Senior:innen anfingen und sich trauten zu reden.

Allgemein ging es los beim Irakkrieg 1990/91, als im Ruhrgebiet Psychoanalytiker und Soziologen mit Erstaunen feststellten, dass auf einmal in den Läden richtiggehende Hamsterkäufe stattfanden und es Tage gab, an denen in den Läden dort nichts mehr zu bekommen war. Da haben die sich gefragt, was eigentlich los ist, und festgestellt, dass das entweder Leute waren, die aktiv am Krieg beteiligt waren oder Kriegskinder. Die versorgten sich mit Lebensmitteln, weil sie aus zunächst unerfindlichen Gründen Angst bekamen. Da ging es allmählich los, dass diese Generation wach geworden ist und zu reden anfing.

Während des ersten Irakkrieges haben wir weiße Laken als Friedenszeichen aus den Fenstern gehängt. Zu mir kamen Kinder, Grundschulkinder, die mir erzählten, dass wir aus dem Irak angegriffen werden. Was wir denn tun sollen, wo wir hingehen können, wenn die Raketen aus dem Irak in Deutschland und in Köln explodieren. Ich wunderte mich, woher die Kinder das hatten. Wo kam die Angst her, dass der Irak unter Saddam Hussein Deutschland mit Mittelstreckenraketen erreichen und bombardieren könnte. Diese Angst war da und die ist gesät worden.

Die war da. Natürlich. Es ist ein Phänomen, dass, anders als in anderen europäischen Ländern, in Deutschland eine sehr große Egozentrik vorhanden ist. Das ist deutlich geworden, als die Katastrophen in Fukushima geschahen, wo rundherum in den ausländischen Zeitungen berichtet wurde, wie die japanische Bevölkerung leidet. In Deutschland wurde Fukushima zum Anlass genommen, über die Atomkraft zu reden und darüber, dass wir die Kernkraftwerke abschalten müssen. Fukushima war für uns ein Grund, uns gefährdet zu fühlen. Da müssen wir uns die Frage stellen, was bei uns los ist, dass wir uns existentiell bedroht fühlen, wenn anderswo etwas geschieht. Das hat eine sehr lange Geschichte.

Curt, du weißt das. Mich beschäftigen sehr stark die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen. Wie gehen wir mit denen um? Mich bedrückt die Gefühllosigkeit gegenüber diesen Menschen und ihren Geschichten, die wir gerade in Deutschland doch kennen sollten. Und das führt uns zum Thema des heutigen Gottesdienstes: Wir wollen über die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen sprechen. Viele Kinder von Kriegstraumatisierten sind ohne Zärtlichkeit aufgewachsen. Ich habe erlebt, dass Töchter nach dem Tod ihrer Mütter diesen verzeihen konnten und damit selber wieder frei für ihr eigenes Leben wurden. Sie haben angefangen, die Erstarrung der Mütter zu verstehen, die der eigentliche Grund für die Gefühllosigkeit gegenüber den Kindern war. Du bist einer derjenigen, die darauf aufmerksam machen, dass die Kriegstraumatisierung ein wichtiges Thema ist und dass sie nicht erst im Zweiten Weltkrieg angefangen hat. Das große Drama Europas, insbesondere Deutschlands, ist der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648).

Gewalt und wie auf Gewalt reagiert wird, ist ein entwicklungsgeschichtliches Thema der Menschheit. Dass Gewalt wieder Gewalt hervorruft, war in den urmenschlichen Horden schon so. Aber in den modernen Kriegen hat das Formen angenommen, die kaum noch zu verkraften sind. Trauma wird definiert als ein psychisches Geschehen oder ein Geschehen außerhalb von mir, das so gewaltig ist, dass ich keine innere Abwehr mehr dagegen habe und dass dieses Geschehen mich dann überrollt. Das ist die Traumatisierung, ich bin diesem Geschehen schutzlos ausgeliefert und habe keine andere Möglichkeit mehr, als das zu verdrängen – und zum Glück sind wir so eingerichtet, dass das geht. Es gibt eine psychogene Amnesie, die uns bestimmte Geschehnisse einfach vergessen lässt. Damit sind sie für unser Bewusstsein und die Bewältigung unseres Alltages vergessen. Das ist ein überlebenswichtiger Schutzmechanismus, aber die Geschehnisse sind trotzdem noch vorhanden, wirken unterschwellig und bestimmen unser Verhalten. Der Dreißigjährige Krieg hat vorwiegend auf deutschem Boden stattgefunden, denn die anderen Beteiligten, wie die Schweden, Polen und Franzosen, kamen von außen nach Deutschland herein. Da muss man sich mal klar machen, dass der Jahrzehnte währende Krieg damals in Deutschland fünfzig Prozent der Bevölkerung umgebracht hat, in einigen Regionen sogar zwei Drittel.

Es gibt keinen Gott. Es gibt keinen Sinn, war die Botschaft.

Es gab gar nichts, Hans. Das Ganze allerdings im Namen Gottes, nämlich der verschiedenen Konfessionen, der Katholiken und der Protestanten. Das war der Dreißigjährige Krieg und der hat das Urtrauma in diesem Land hier verursacht. Seitdem sind wir gezeichnet. Für den Sozialphilosophen Norbert Elias steht fest, dass der Dreißigjährige Krieg „permanente Spuren im Habitus der Deutschen“ hinterlassen hat. Nun hat es nach dem Dreißigjährigen Krieg immer wieder Scharmützel zwischen den Königs- und Herzogtümern in Deutschland gegeben. Dann gab es den großen Napoleonischen Krieg, dann gab es die deutsch-französischen Kriege, dann gab es den Ersten Weltkrieg. Das heißt, dass zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Ersten Weltkrieg jede Generation einen Krieg erlebt hat. Die Traumatisierungen, die damals aus Unkenntnis nicht thematisiert werden konnten, stapelten sich eine auf die andere und wurden weitergereicht von Generation zu Generation, so dass wir durch unsere Vorfahren so zu sagen „wohl vorbereitet“ in den Ersten und später in den Zweiten Weltkrieg gezogen sind.

Zum Ersten Weltkrieg empfehle ich das Buch „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ des australischen Historikers Christopher Clark. Das ist ein sehr spannendes, gut geschriebenes Buch, das einen nicht los lässt. Es räumt mit vielen Vorurteilen auf und zeigt die Komplexität des damaligen Geschehens. Clark glaubt, dass sich das, in abgeänderter Form, jederzeit wiederholen kann. Erschreckend war im Juli 1914, dass alle beteiligten Länder von der Unausweichlichkeit eines kommenden Krieges ausgingen. Kein einziger wollte wirklich diesen großen Krieg. Gleichzeitig saß in den Köpfen fest, dass er in ein paar Jahren so und so kommen würde: Also machen wir es jetzt. Da kommen wir günstiger weg. Wenn wir noch ein paar Jahre warten, sind die anderen noch stärker, dann fließt noch mehr Blut.


ÜBER DIE (NICHT)-BEWÄLTIGUNG VON SCHAM

Curt Hondrich: Es ist inzwischen historisch gesichert, dass das bei allen beteiligten Nationen in Europa so war. Die Deutschen haben dann den Entschluss gefasst: Jetzt machen wir los, vielleicht verschafft uns das einen Vorteil. Die Deutschen haben dann diesen Krieg begonnen. Das ist unzweifelhaft. Aber die Idee der Kriegsbereitschaft und der Unausweichlichkeit dieses Krieges, die war in allen Köpfen und in allen Ländern. Das war in einer Zeit, in der es Reichtum gab. Es lag nicht daran, dass irgendwo Mangel herrschte und aus wirtschaftlichen Gründen ein Krieg herbeigeführt werden sollte, sondern die Nationen waren gut saturiert. Es gab keinen existentiellen Grund dafür. Es war ein Krieg, der auf eine merkwürdige Weise unausweichlich war. Wenn man nun diese traumatische Traditionskette sieht, die es bei uns gegeben hat, und weiß, dass Traumata vor allem ein Anlass sind, sich zu schämen, versteht man, dass zum Beispiel vergewaltigte Frauen meist nicht damit an die Öffentlichkeit gehen, weil sie sich schämen. Dieser Schamvorbehalt, verbunden mit dem Trauma, macht es so schwierig, die Geschichte öffentlich zu verhandeln. Über Scham spricht man nicht. Über Scham geht man hinweg und es gibt sehr viele Strategien, mit Scham umzugehen. Eine Strategie ist, nach außen zu gehen und eine Dominanz anderen gegenüber zu zeigen. Das hat ganz stringent nach dem Ersten Weltkrieg begonnen. Da war die Beschämung der Deutschen ganz groß, denn sie hatten auf das große Kaiserreich gesetzt und auf dessen Wohlstand, und nach dem Krieg brach alles zusammen, worauf sie gehofft hatten. Das betraf vor allem die jungen Männer mit 16, 17 Jahren, die mit fliegenden Fahnen in den Krieg marschiert sind. Das war eine vaterländische Tat und kein Mensch hat daran gedacht, dass ihm was passieren könnte, und alle hielten sich für unverwundbar. Sie sind in diesen Krieg gegangen und gestorben wie die elenden Ratten. Die sind abgeknallt worden, vergiftet worden, bombardiert worden. Es hat eine Feindpropaganda gegeben, wie es sie vorher noch nie gegeben hatte, in der der Feind, der Gegner entmenschlicht und deswegen zum beliebigen Objekt wurde. All das hat sie zerstört. Diese Deutschen kommen geschlagen aus diesem Krieg zurück, hungrig, verwundet, verletzt und vor allen Dingen gedemütigt. Danach wurde der Versailler Vertrag beschlossen, der dem Ganzen noch einmal politisch eins daraufsetzte und die Deutschen demütigte. Die durften den Vertrag ja nicht mal mit aushandeln, sie durften nur anschließend unterschreiben. Das führte dazu, dass dieses Land gekränkt war bis in die Knochen.

Krieg war schon immer eine unglaubliche Abschlachterei. Die Menschen haben erlebt, dass sie keine Individuen mehr sind, sondern nur eine Fleischmasse. Sie wurden immer neu da hinein getrieben und haben ihre Identität verloren. Diejenigen, die zurück kamen, haben dann ihre Kinder erzogen.

Genau im Sinne von „Ein Junge weint nicht“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Das war die Pädagogik der Johanna Haarer, die damals das Buch geschrieben hat: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, das für eine ganze Generation von Müttern die Bibel war, nach der sie lebten. Die Kinder wurden so erzogen, dass die möglichst früh von der Mutter getrennt wurden, dass sie nur nach einem bestimmtem Zeitplan zur Mutter durften und die Mahlzeiten bekamen, und wenn das Kind schrie, dann ließ man es eben schreien. „Das stärkt die Lungen und macht das Kind nur stärker.“ Wir wissen natürlich heute, dass diese Art von Pädagogik genau das Gegenteil davon erreicht, starke und unabhängige Persönlichkeiten zu erziehen. Es werden schwache Menschen erzogen, die manipulierbar sind. Das ist auch ein Teil der Versuchungsgeschichte des deutschen Volkes. Die erste Versuchung war das Kaiserreich mit dem Bild des Deutschen, der den anderen überlegen ist, weil er der Tüchtigere war, und die zweite Versuchung war die durch die Nationalsozialisten. Deren Herrenmenschentum schien die Befreiung aus der Scham und die Befreiung aus dem Trauma.

Die brauchten andere, die sie beschämen konnten. In dem Fall waren das die Juden und die so genannten minderwertigen Rassen.

Insofern war das ein in sich schlüssiger Vorgang, der dann mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage Deutschlands – zum Glück der Niederlage Deutschland – einbrach. Danach gab es aber wieder die Beschämung. Und was ist gemacht worden? Es ist geschehen, was bei Scham eben gemacht wird, es wurde geschwiegen, es wurde nichts erzählt. Die Kriegsgeneration erzählte nichts, die Väter, die nach Hause kamen, waren auch zum großen Teil traumatisiert, entweder durch aktive Geschichten, die sie im Krieg als Täter gemacht hatten, oder aber durch die Schrecken, die sie passiv erlebt hatten. In jedem Fall waren sie massiv traumatisiert und haben nichts erzählt. Die Kriegskinder konnten auch nichts erzählen, weil sie von den Eltern nichts über den Krieg erfuhren, und ihre eigenen traumatischen Erfahrungen blieben in ihnen verschlossen und wurden der nächsten Generation verbal nicht weiter gegeben.

Dieses „Stell dich nicht so an“ höre ich bis heute. Den Menschen geht es schlecht, ich rede mit denen und habe eine Idee, wie sie aus dieser Situation heraus kommen, dann heißt es ganz schnell. Nee, nee ist schon gut, anderen geht es viel schlimmer. Ein tödlicher Satz: Anderen geht es viel schlimmer.

Das Schlimme ist, dass das durch so genannte Introjekte weitergegeben wird. Womit ich als Elternteil nicht fertig werde, das gebe ich unbeabsichtigt weiter an mein Kind und implantiere das so zu sagen in die Seele meines Kindes, das damit gar nichts anfangen kann. Es erlebt da etwas, was in ihm ist, das es sich aber nicht erklären kann, weil es das gar nicht selbst erlebt hat. Es ist also das fremde Erleben, das dieses Kind in sich trägt und mit dieser implantierten Verwundung der Eltern weiterleben muss. Das ist die Art und Weise, wie Traumata weitergegeben werden, ohne dass darüber gesprochen wird. Nonverbal. Diese Introjekte sind ein Vorgang, der in der Psychoanalyse sehr bekannt und inzwischen auch sehr gut beforscht ist. Das ist die Art und Weise, wie wir alle in der Kette der Traumatisierungen und der Kette der Beschämungen die Tradition forttragen, indem wir das an unsere Kinder weitergeben, was bei uns hängen geblieben ist und mit dem wir nicht fertig werden. Die Sache ist, dass in dem Moment, in dem wir darüber reden, und das ist jetzt der Fall, dann kann es öffentlich und auch in den Familien diskutiert werden.

Nach dem Krieg hatten wir die Adenauer-Gesellschaft, die ich noch sehr gut erlebt habe. Das war eine sehr restriktive Gesellschaft, die sich im Grunde genommen in ihrer Qualität – abgesehen von der Ideologie natürlich – aber in ihrer gesellschaftlichen Qualität vom Dritten Reich wenig unterschied. Es war der gleiche Commande, es war der gleiche harte Gehorsamsstil. Es war die Unfreiheit, die für den Einzelnen da war, weil er sich an die Regeln zu halten hatte. Ein Satz, der mir nie aus dem Kopf geht, der überall stand, war „Rasen betreten verboten“. (Amüsierte Unruhe in der Gemeinde). So war die Gesellschaft damals. Diese Gesellschaft war so geworden, weil sie die Ärmel hochkrempelte und wieder aufbaute, das muss man auch sehen, und die Kriegskindergeneration nahm so zu sagen die Stafette der Eltern in die Hand und konsolidierte das, was die Eltern wieder aufgebaut hatten und die junge Generation von heute hat mit einer fertigen Welt umzugehen, von der sie gar nicht weiß, was denn hier noch zu tun ist. Vieles von der Gewalt, die wir heute erleben, hat genau damit zu tun, dass im Grunde genommen nichts mehr aufzubauen, nichts mehr zu machen ist. Da ist nichts mehr zu konstruieren. Aber man kann ja destruieren, um wieder aufzubauen. Diese destruktiven Anteile, die heute vielfach beklagt werden, haben wahrscheinlich da ihren Grund.

Die 1968-er Generation hat aus dieser Scham heraus den Aufbruch in die Schamlosigkeit betrieben. Die Kommune 1 war schamlos. Da wurde öffentlich gevögelt, das wurde zur Schau gestellt, man protzte auch damit, dass man das tat. Die freie Liebe wurde proklamiert. Es wurden Grenzen aller Art eingerissen, auch politische. Das war die Reaktion einer Jugend, die daran erstickte, die das nicht mehr aushielt. Diese Begrenzung, die durch die Scham entstanden und nicht aussprechbar war, die hielten sie nicht mehr aus und sind ins andere Extrem verfallen. Dann kam die antiautoritäre Erziehung, von der wir wissen, dass sie auch nicht das Gelbe vom Ei war, aber es war der Gegenschlag und der war offenbar nötig, um zu einer gewissen Befreiung zu gelangen. Aber über die Traumata wurde immer noch nicht gesprochen. Die Elterngeneration wurde angeklagt. Rudi Dutschke stand auf der Straße und klagte an, zu Hause war er ein ganz lieber Sohn. Er hat keinen Streit mit den Eltern provoziert. Erst als die Eltern kritisierten, was er tat, hat er das Elternhaus gemieden. Er ist nicht hin und hat den Streit zu Hause ausgefochten. Er ist nur weg geblieben und hat draußen die Elterngeneration als Abstraktum angegriffen, aber nicht die eigenen. Die Kinder, die traumatisiert sind und die nach dem Krieg zerstörte Familien vorfanden, und Kinder, die im Dreiecksverhältnis zwischen dem Elternpaar und sich selbst leben, sind daran interessiert, dass dieses Dreieck wieder zustande kommt. In dem Augenblick, wo ich dazwischen gehe und die Eltern kritisiere, zerstöre ich diese Triangulierung. Das genau durfte nicht passieren. Rudi Dutschke ist ein klassisches Beispiel dafür, wie das nicht passiert ist. Aber die Generation wurde angeklagt und befragt: Was habt ihr getan? Und das war wohl richtig so.

Ja, Curt, und das ist weitergegangen.Umgekehrt haben dann deren Kinder irgendwann die Nase wieder so voll, dass sie konservativ werden, also wiederum das Gegenteil. Wie fremdbestimmt wir uns im Grunde verhalten. Das entspricht doch gar nicht dem, wie wir angelegt sind. Danach zu fragen, kommen wir gar nicht mehr, weil ständig re-agiert wird, verteidigt wird oder angegriffen. Oder wiederholt wird. Unter anderem eben der Krieg. Der Mechanismus des Krieges wiederholt sich permanent, so lange wir dieses Denken nicht brechen, so lange wir nicht weiter darüber reden. Ich habe kürzlich eine Frau beerdigt, deren Tochter sehr darunter gelitten hat, dass sie ihre Mutter nie richtig kennen lernen konnte. Sie weiß bis heute nicht, was für ein Mensch ihre Mutter war, weil sie nicht an sie heran kam. Warum war sie so, warum hat sie uns nicht umarmen können? Wieso gab es keine Zärtlichkeit? Und wer bin ich? Bin ich überhaupt jemand? Dieses direkte Gegenüber war nie da, es war immer eine funktionale Beziehung. Jetzt bekam sie Angst, dass sie das nicht mehr klären kann. Aber wir kriegen das geklärt. Der erste Schritt war bei ihr auch zu sehen, wie verletzt ihre Mutter war. Schade, dass man das erst beim Sterben oder beim Tod feststellt und nicht vorher schon ansetzen kann.

Wir dürfen die Option Krieg nicht länger hinnehmen

Das ist die Verweigerung, Hans. Ich habe unlängst einen Lebensbericht eines Kriegsteilnehmers zugeschickt bekommen, das ist die Elterngeneration, der berichtet, dass sein Sohn von ihm fordert, dass er erzählt, was war. Dieser Bericht ist ein wunderbares Dokument dafür, wie sich jemand verweigert. Es geht nur darum, den Sohn mit seinen Fragen abzuwehren. Gar nicht darum, sich zu verteidigen, nur abzuwehren. Sondern ihm zu sagen, das geht dich nichts an, das ist doch nicht dein Leben. Was stellst du mir für Fragen? Das steht dir als Sohn nicht zu. Da kommen autoritäre Strukturen heraus, da kommt die Verweigerung des Redens heraus, da kommt die Verteidigung des Schweigens heraus, da kommt das Recht auf das eigene Leben und die eigene Biografie heraus, dass ich entscheide, was ich von meiner Biografie veröffentliche und was nicht. Ein sehr komplizierter Vorgang. Wenn dieser Mann stirbt, wird er einen Sohn am Grab haben, der die selbe Frage stellt, wie diese Tochter. Weil er sich verweigert hat. Er ist nicht zu knacken. Es geht nicht. Es sitzt so tief. An einer Stelle kommt mal ein Satz hoch, wo deutlich wird, dass er Täter war. Das ist die Verwundung, die in ihm ist und die er abkapselt und an die er niemanden heranlässt. Dafür schämt er sich. Das ist sehr schwer. Es gehört für die Elterngeneration sehr viel Größe dazu, zu reden und dazu zu stehen, was sie gemacht haben. Und es gehört sehr viel Empathie dazu, dass die Kindergeneration ohne Vorwurf einfach zur Kenntnis nimmt, dass das das Leben der Eltern war. Ich möchte nicht so leben, aber sie haben so gelebt. Und ich akzeptiere sie so, wie sie waren, mit ihrer Schuld, mit ihren Verletzungen, mit ihren Verhinderungen. So kann es zu so etwas wie einer Aussöhnung kommen. Das setzt Empathie voraus und die Schwierigkeit ist, dass Traumatisierte keine Empathie fühlen können, weil sie psychisch erstarrt sind. Sie können sich ganz schlecht bewegen. Hans, du hast vorhin von Flüchtlingen gesprochen. Das ist dasselbe Phänomen. Dass wir so schlecht Empathie mit den Flüchtlingen empfinden können, hat damit zu tun, dass wir verhärtet sind und uns nicht in die Situation der anderen hineinversetzen können, weil es für uns selbst riskant ist, denn da könnte bei uns was aufbrechen. Davor haben wir Angst. Das Dunkle in uns soll dunkel bleiben. Es soll unten bleiben. Doch im Alter – das ist der Grund, warum die Kriegskinder jetzt reden – wird die Ich-Kontrolle schwächer, und durch diese geschwächte Ich-Kontrolle steigen die Traumata hoch und werden wieder wirkmächtig. Sie kommen an die Oberfläche und man kann sie nicht mehr verhindern. In Altenheimen sehen sie Fälle von schrecklichen Ausbrüchen. Ein sehr gutes Beispiel ist das Buch von Katja Thimm „Vatertage“, in dem sie schildert, wie ihr Vater im Alter zusammenbricht. Beide hatten verabredet, dass sie ein Buch über ihn schreibt, aber er bringt es kaum fertig, das zu erzählen, was erzählt werden muss, damit das Buch zustande kommen kann. Dieses Dilemma macht sehr deutlich, wie Traumatisierte unfähig sind, erstens Empathie zu empfinden und zweitens sich zu öffnen und dieses Dunkle, das in ihnen ist, hochkommen zu lassen. Dazu möchte ich anmerken, dass nicht alle Deutschen im Zweiten Weltkrieg traumatisierende Erfahrungen machen mussten, 40 bis 45 % der Zivilbevölkerung hatte das Glück, auf so etwas wie einer Insel des Friedens zu wohnen.

Noch eine Anmerkung zu den Auswirkungen. Die grün-rote Regierung von Gerhard Schröder (1998 – 2005) wollten damals viele, und viele waren auch stolz, als Schröder eine deutsche Beteiligung am Irakeinsatz ablehnte. In dieser Zeit wurde auch unsere Flüchtlingsgesetzgebung überarbeitet und es entstanden die Hartz-IV-Gesetze. Der Grundgedanke, dass wir da was tun mussten, war richtig, aber die Umsetzung war in beiden Fällen menschenfeindlich. Sie kommt aus einer empathielosen Haltung heraus. Der Mensch wird als funktionaler Sachgegenstand betrachtet, er ist ein Problem, das gelöst werden muss. Der Mensch wird nicht als Mensch gesehen. Ich glaube, so lange wir das nicht begreifen, haben wir verloren. Da verlieren wir nämlich uns selbst.

Ich würde gerne noch eine aktuelle Vermutung äußern. Putin mit seinen Aktionen in der Ukraine scheint mir ein klassischer Fall für einen verletzten Menschen zu sein, für einen beleidigten und gedemütigten Menschen. Er hat dem Westen gegenüber sehr viel Vorleistungen erbracht und Vertrauen investiert, das enttäuscht worden ist. Er hat gesehen, wie eine Sowjetunion unterging, an der er hing und aus der er hervorkam. Das war seine Sozialisation. Nun steht er vor dem Problem, dass er sich als der Schwächling im Osten sehen muss, dem man vom Westen aus oktroyieren kann, was er zu tun hat und was nicht. Man erweitert die NATO bis an die Grenzen Russlands, was im Vertrag ausgeschlossen war, man will Raketen zur Terrorabwehr in Polen stationieren, was die Russen, nachdem sie dreimal vom Westen aus überfallen worden sind, nicht glauben können. Es ist ganz vieles da, was Putins Reaktionen sehr gut erklärt. Ich will damit nicht sagen, dass ich es gut heiße, was da passiert und was Putin tut, ich will nur mal verstehen. Wenn ich in einen Dialog gehe, muss ich versuchen, die Gegenseite erst einmal zu verstehen. Putin reagiert nun wie jemand, der seine Scham kompensiert, sie überwindet, indem er zur Aktion übergeht und damit zeigt, dass er nicht der Beschämte ist, sondern andere zu den Schwächeren macht. Er zeigt jetzt dem Westen, dass er tun kann, was er will und der Westen kann nichts machen. Das genau ist die Reaktion, wie ein Beschämter seine Scham los wird. Das passiert im Augenblick. Wenn wir das im Westen nicht verstehen und uns mit unserer Argumentation darauf einstellen, werden wir es schwer haben, diesen Konflikt so zu lösen, dass er zu einer Befriedung führt und nicht wieder zu einem neuen Kalten Krieg. Der würde anders aussehen als der vorige, aber es würde wieder eine Verhärtung zwischen Ost und West geben. Wenn wir nicht aufpassen, ist das ganz schnell passiert. Putin würde wieder als einer der tragenden Machthaber anerkannt. Wir müssen ganz deutlich sehen, dass wir in Europa zusammen leben, auch mit den Russen. Russland gehört zu einem großen Teil zu Europa. Die gehören zu uns, auch kulturell. Wenn wir wirklich Frieden wollen, wenn wir gegenseitige Vergebung wollen, müssen wir auf den anderen zugehen und versuchen, ihn zu verstehen. Dieses Verstehen scheint mir im Westen im Augenblick wenig verbreitet zu sein.

Wenn wir nicht miteinander reden, besteht die Gefahr, dass sich Krieg immer und immer wieder wiederholt, weil die, die durch den Krieg geschädigt sind und darunter leiden – und das ist das Perverse – diejenigen sind, die ihn wiederholen. Denn das ist das bewährte Verhaltensmuster. Gewalt kenne ich, sie gibt mir auch eine Form von Identität, also greife ich im Zweifelsfall darauf zurück. Man schätzt, dass es in Deutschland rund 13 Millionen Kriegskinder vom Zweiten Weltkrieg her gibt.

Die UNICEF hat mal geschätzt, dass aus den Kriegen allein in den 1980-er Jahren rund 10 Millionen kriegstraumatisierte Kinder hervorgegangen sind. Das sind „nur“ die betroffenen Kinder und nur in dem Zeitraum von 10 Jahren. Was für einen Wahnsinn produzieren wir da eigentlich? – Wir dürfen die Option Krieg nicht mehr hinnehmen. Das ist der Punkt. Das ist unser Erwachsen-Werden.

Es gibt Hoffnung. Ich kenne einen Fall aus Afghanistan, wo die Europäische Union zusammen mit der Caritas International ein flächendeckendes Therapieprogramm aufgelegt hat und in ganz Afghanistan therapeutische Angebote für Traumatisierte macht. Merkwürdigerweise ist das in dieser von Männern dominierten islamischen Gesellschaft so, dass dieses Programm bei den Frauen ansetzt. Die Frauen gehen in diese Therapien. Die Frauen sind diejenigen, die in der Familie die Beschämungen aufheben können, auch die Beschämungen der Männer. Es ist ein Programm, bei dem die Frauen nach der Therapie als Multiplikatoren in die Familien zurück gehen. Ich finde das wunderbar und das macht Hoffnung.

Lieber Curt, danke für dieses tiefschürfende Gespräch.

Redigiert von Helga Fitzner