Dialoge über Palästina

Pfarrer Hans Mörtter, Rupert Neudeck, Abdallah Frangi und
Avi Primor über die Lage vor ort

Der Nahostkonflikt betrifft alle drei der monotheistischen Weltreligionen und ist kein lokaler, sondern ein Weltkonflikt

Seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 ist das Heilige Land, das einstige Palästina, nicht dauerhaft zur Ruhe gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig und nahezu undurchschaubar. Das ist schwierig für Israel, die Palästinenser:innen und die Israel umgebenen Staaten, aber auch für Deutschland, das sich nach der Shoah für das Wohlergehen der Israelis verantwortlich fühlt.

Deshalb hat Pfarrer Hans Mörtter die Themenreihe „Palästina“ begonnen, in der Menschen zu Wort kommen, die sich seit langer Zeit für die Konfliktregion einsetzen. In einem Interview legt er zunächst die Beweggründe dar, unter anderem, warum er beide Seiten, auch die palästinensische, zu Wort kommen lassen will.

Der erste Talkgast zur Themenreihe war Rupert Neudeck, vormals Cap Anamur, der seit 2003 mit dem Grünhelme e. V. regelmäßig Konfliktgebiete bereiste und dort humanitäre Hilfe und Wiederaufbauarbeit leistete. Er setzte sich seit jahrzehntelang auch für Palästina ein.

Der zweite Talkgast war im September 2012 der palästinensische Diplomat Abdallah Frangi. Er lebt seit über 40 Jahren überwiegend in Deutschland und ist der persönliche Berater des palästinenischen Präsidenten Mahmud Abbas.

Als israelisch-jüdische Stimmen kommen der ehemalige Botschafter in Berlin Avi Primor zu Wort. Zum jetzigen Zeitpunkt geht es Hans Mörtter vornehmlich darum, zuzuhören und zu verstehen.

PROLOG: „DA GEHT ES NICHT UM PARTEINAHME, ES GEHT UM ZUKUNFT“

Vom 11. bis 24. Juni 2012 fand im Allerweltshaus die Foto-Ausstellung
„Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“ statt. Diese sollte ursprünglich in der Lutherkirche stattfinden und die Lutherkirche war als Ausstellungsort vom Presbyterium der Lutherkirche tatsächlich bereits beschlossen. Es gab im Vorfeld aber Einwände von jüdisch-christlichen Organisationen und schließlich dem Presbyterium der Evangelischen Gesamtgemeinde. Daher disponierten wir um. Die „Nakba“ fand daher im Allerweltshaus in Köln-Ehrenfeld statt.

 

Am 22. Juni 2012 lud begleitend die jüdisch-israelische Initiative Zochrot zu dem Gespräch „Ohne Erinnern keine Zukunft“ in die Kartäuserkirche ein.

 

Für den Talkgottesdienst am 17. Juni 2012 in der Lutherkirche konnten wir Rupert Neudeck, den ehemaligen Vorsitzenden von Cap Anamur, als Gesprächspartner gewinnen. Neudeck war seit 2002 in friedensstiftender Mission mit dem Grünhelme e.V. unterwegs und arbeitete auch im Westjordanland und in Gaza. Er berichtete von seinen Erfahrungen vor Ort. Wir glauben, dass das gute Ergänzungen zur Ausstellung waren.
Text: Hans Mörtter

ICH BLEIBE DER BRUDER ISRAELS

Helga Fitzner: Was ist denn so verstörend an dem Thema?

Hans Mörtter: Es geht um die Vertreibung der Palästinenser:innen, als 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Die Ausstellung zeigt, wie die Palästinenser:innen ihre Heimat verlassen mussten und zu einem Volk von Flüchtlingen wurden. Einige ihrer Dörfer sind dabei vernichtet worden, so dass sie nicht zurückkehren konnten.

Sie machen sich also der Israelkritik „schuldig“!?

Nein. Dabei geht es uns nicht im geringsten darum, zu behaupten: Guck mal, wie „böse“ die Israelis damals gewesen sind. Aber die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung ist ein historisches Faktum.

Was ist Ihr Anliegen?

Es geht darum, dass dieser Umstand anerkannt wird, damit irgendwann eine Versöhnung stattfinden kann. Es geht darum, dass diese Art von Geschichte sich nicht wiederholt. Es geht um Zukunft. Man kann im Falle Palästinas sicher um viele Detailfragen streiten, aber dass es eine Vertreibung gegeben hat, ist eine belegbare Tatsache. Das brachte Leid über die Menschen, die seit vielen Generationen dort gelebt hatten. Die mussten ihr Land, ihre Olivenbäume, ihre Familiengräber, alles zurücklassen. Das ist ein Trauma. Das stelle ich erst einmal fest. Dann frage ich, was heißt es denn heute, nach diesen Geschehnissen miteinander zu leben.

Sie weisen auch immer wieder darauf hin, dass vielen der Juden und Jüdinnen, die damals ins Heilige Land gekommen sind, von den Deutschen unaussprechliche Gräuel angetan worden waren.

Richtig. Beide Völker leiden, jedes auf seine Art, an einer kollektiven Traumatisierung. Die können nur ein gemeinsames Haus bewohnen, wenn sie das Trauma des anderen wenigstens anerkennen. Das ist auch eine große Herausforderung für die palästinensische Seite, die berechtigte Existenzangst des jüdisch-israelischen Volkes ernst zu nehmen.

Die Menschheit hat so eine Art angeborene Vernichtungsangst, zum Beispiel, vor Naturkatastrophen oder Meteorit-Einschlägen. Für das jüdische Volk ist aber innerhalb der erinnerbaren Geschichte eine Massenvernichtung unvorstellbaren Ausmaßes Realität geworden.

Ja. Deswegen sollten wir Deutschen vielleicht versuchen, behutsam Brücken zu bauen für eine gegenseitige Wahrnehmung. Für mich heißt das auf keinen Fall, indem ich von der palästinensischen Geschichte erzähle, dass ich ein Feind Israels wäre. Ich bleibe der Bruder Israels, durchaus auch der In-Der-Schuld-Stehende.

Was für Brücken sollen damit gebaut werden?

Ich glaube, dass wir neben der jüdischen auch die Geschichte der Palästinenser:innen kennen müssen, und zwar ohne Verurteilung des israelischen Volkes. Da geht es nicht um Parteinahme, denn die müssen ja miteinander leben. Es gibt keine Alternative dazu…

… doch, eine Mauer.

Eine Riesenmauer. Die ist der Albtraum, gerade für uns Deutsche. Was habe ich gegen die deutsche Mauer damals für einen Hass entwickelt. Ich als Pfarrer und Pazifist hatte Vorstellungen, dass ich Handgranaten werfe und das Ding in die Luft sprenge. Dieser Hass entsprang aber dem furchtbaren Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung. Die Mauer in Israel steht für Trennung von Wegen, von Menschen, von ganzen Dörfern und Gemeinschaften. Sie geht mitten durch Olivenhaine, die die Identität und die Wurzeln von palästinensischen Bauern sind. Aber wir müssen heraus aus einer Schuldzuweisung und angstbesetzten Diskussion. Ich muss erst einmal wahrnehmen. Mit dem Blick des anderen zu schauen, geht nur, wenn ich dem anderen mal zuhöre.

Die Beschäftigung mit dem Thema wird von bestimmten Gruppierungen als anti-israelische Haltung gewertet.

Anti-israelisch sind für mich die Faschist:innen. Da müssen wir extrem wachsam sein, weil der Faschismus sich gegen Juden, Muslime und moderne Christen *) gleichermaßen wendet. Wenn ich einen Menschen als Bruder liebe und ich sehe, dass er etwas tut, was schlimme Auswirkungen für ihn hat, oder wenn ich sehe, dass er in eine Sackgasse rennt, dann muss ich ihm das sagen, weil ich ihn liebe.

Wie stehen Sie zu den jüdischen Israelis?

Ein jüdischer Mensch ist für mich ein Mensch, dem ich gerne zuhöre und der ein willkommenes Gegenüber für mich ist. Ich sehe in ihm nicht zuerst ein Holocaust-Opfer oder den Nachfahren eines solchen. Er hat vielleicht einfach eine Weltsicht, die mich neugierig macht. Ich lerne gerne dazu. Für mich als Pfarrer ist er in erster Linie ein Mensch, der einen Glauben hat, mit dem ich sehr viel gemeinsam habe.

Jesus war Jude.

Jesus war Jude, fast sein ganzes Umfeld war jüdisch. Die jüdische Thora ist als Altes Testament auch unsere Bibel. – Das jüdische Volk ist im Laufe der Nachkriegsgeschichte auch zu unserem Partnervolk geworden. Wir sind dem Volk schuldig, ehrlich mit ihm zu sein und nicht den Politikern oder den militärischen Führern, die gerade vorübergehend an der Macht sind, nach dem Mund zu reden. In der israelischen Presse wird ja auch massiv die Siedlungspolitik des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Westjordanland kritisiert.

Wenn die israelische Presse diese Kritik äußert, ist das aber etwas anderes, als wenn das aus Deutschland kommt.

Das ist ein Unterschied. Aber ich finde, man muss es ihnen sagen. Die Israelis haben dann immer noch die Möglichkeit zu antworten: Das interessiert uns nicht. Das ist ihr Recht. Aber mein Recht ist es auch zu sagen mit großer Achtung: Leute, das ist fatal, das führt zu immer mehr Hass, zu immer mehr Verzweiflung. So gibt es keine Zukunft. Ich wünsche Euch aber Zukunft. Ich wünsche Euch Schalom und Salaam. Jerusalem ist die heilige Stadt von drei Weltreligionen. Das ist die große Herausforderung. Wenn wir es nicht schaffen, da in ein friedliches Miteinander-Leben zu kommen, wenn wir den Kindern und Jugendlichen nicht beibringen, dass das möglich ist, wenn wir „Alten“ das nicht schaffen, dann können wir diesen Planeten aufgeben.

„WIR KÖNNEN NICHT STELLVERTRETEND ABARBEITEN“

Die Fronten haben sich aber so verhärtet, dass oft der Grundsatz gilt: Wer pro-palästinensisch ist, ist automatisch anti-israelisch. Das ginge doch gar nicht anders.

Wieso das denn? Nee. (Lange Pause). Ich kritisiere die Politik der palästinensischen Hamas genauso, wenn sie Menschenleben fordert. Das geht nicht.

Israelische Siedlungen werden von Palästinensern fast regelmäßig mit Raketen beschossen.

Wo Waffen sind, werden sie meistens auch benutzt. Da ist manchmal schwer zu sagen, wer eigentlich schuld ist. Die Israelis geben der Hamas und der Fatah die Schuld, weil die die Juden ins Meer treiben wollten: Auch das ist historisch belegt. Die Kriege, die da stattgefunden haben, sind aber auch Zeichen einer Epoche und einer Entwicklung. Das berechtigte Anliegen des israelischen Volkes und der israelischen Politik sehe ich ganz klar, da habe ich auch überhaupt kein Recht, ihnen das abzusprechen. Wenn sie Gewalt anwenden müssen, weil es nicht anders geht, bedrückt mich das, aber das Recht dazu kann ich ihnen nicht absprechen. Aber wir müssen einfach weg von der Überzeugung, dass Krieg der einzige Weg ist, einen Konflikt zu lösen. Wir müssen – weltweit – alternative Lösungsmöglichkeiten finden.

Sie sprechen trotz Mauer und Zweistaatenlösung vom Zusammenleben.

Man redet von der Trennung, von der Zweistaatenlösung für Israel. Aber das ist auch schon wieder Schnee von gestern. Das wäre auch wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen sehr schwierig. Die einzige Möglichkeit wird ein Miteinander sein, aber dazu müssen sie ihre Wunden zeigen, sie müssen sich zuhören und sich vergeben können. Sie müssen sich achten lernen, Friedensrituale und Friedenszeremonien entwickeln, Versöhnungsrituale, für das, was ihnen auf beiden Seiten widerfahren ist. Da muss ich dem anderen aber auch zugestehen, dass da etwas passiert ist. Vielleicht hört man dann ein Bedauern, die Entschuldigung, dass man damals nicht anders hätte reagieren können.

Die Palästinenser baden jetzt auch ein Stück weit das aus, was Deutsche den Juden während des Zweiten Weltkriegs angetan haben.

Nachdem die europäischen Juden wegen der Shoah in den 1940-er Jahren ins Heilige Land strömten, sind viele Palästinenser als Folge der Vertreibung in die ganze Welt ausgewandert oder in Flüchtlingslagern gelandet. Die mussten aus ihren Dörfern und bäuerlichen Verbänden heraus. Es sind aber auch Ingenieure, Architekten, Musiker, Künstler daraus hervorgegangen. Die sind global geworden. Sie sind, wie die Juden, ein Volk, das über die ganze Welt verstreut lebt. Das müsste eigentlich verbinden, die Sehnsucht nach Heimat, zu einem Ort zu gehören. – Es wäre natürlich anmaßend zu sagen, dass wir jetzt diejenigen sind, die ihnen das wieder aufzeigen. Wir können aber nicht immer die eine Gruppe gegen die andere stigmatisieren. Das ist komplexer.

Palästinenser und Juden haben viel gemeinsam, sie kennen Vertreibung, Wurzellosigkeit.

Angstgefühle, Ohnmachtsgefühle, Verzweiflung.

Sie haben zum Themengottesdienst jemanden eingeladen, der sich vor Ort auskennt.

Rupert Neudeck ist mit seiner Grünhelme-Organisation im Westjordanland und Gaza aktiv und versucht dort, friedensstiftende Arbeit zu machen. Er erlebt dabei das Leid der Bevölkerung wegen des Mauerbaus und der Siedlungspolitik von Netanjahu. Rupert Neudeck engagiert sich da sehr für die palästinensischen Bauern und die Armen. Über die wissen wir so gut wie gar nichts.

Das Elend hat zu viel Hass auf palästinensischer Seite geführt.

Hass kann ich nur bekämpfen, indem ich anfange, zu erzählen und den Geschichten der Gegenseite zuzuhören.

Viele sagen, dass es dazu eines Wunders bedarf. Aber ein solches Wunder ist bereits geschehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich Deutsche und Israelis wieder die Hände reichen.

Eigentlich ist es absolut undenkbar, dass da wenigstens teilweise wieder so etwas wie Freundschaft entstehen konnte. Es widerspricht jeder Logik, dass das möglich ist. Die Kriegsgeschichte von Arabern und Juden ist dabei längst nicht so menschenvernichtend in dieser radikalen Ausschließlichkeit und in dem verheerenden Ausmaß wie die Shoah.

Wenn jetzt in Deutschland eine Ausstellung über die Vertreibung der Palästinenser stattfindet, erkennt man den Juden damit wirklich das ab, was ihnen von uns angetan worden ist, oder sind das zweierlei Schuhe.

Das sind zweierlei Schuhe. Wir können nicht stellvertretend abarbeiten oder aufrechnen. Es gibt eine faktische Bedrohung des israelischen Volkes, die sich auch nicht wegdiskutieren lässt. Aber die Faktoren, die dazu geführt haben, sind sehr vielschichtig und haben natürlich auch mit israelischer Politik zu tun, die kaum Diplomatie zulässt und auf sogenannte Vergeltungsschläge nicht verzichten will. Israel befindet sich seit der Staatsgründung 1948 im Kriegszustand. Was heißt das für die Menschen? Das muss man sich vorstellen, sich seit Generationen jeden Tag im Krieg zu befinden. Das macht doch etwas mit den Menschen, da ist auch im “Alltag“ immer eine unterschwellige Angst da. Wie wirkt sich das nach innen aus, in den Beziehungen, für eine Zukunftsfähigkeit? Da herrschen einfach Todeskreisläufe, die nach meiner Meinung damit zu tun haben, dass die Not des anderen nicht wahrgenommen wird. Die palästinensische Seite sieht nicht die Existenznot des jüdischen Volkes. Die israelische Politik dagegen sieht nicht die Not der Palästinenser, die in ihrem Land leben.

Neben dem Gespräch mit Rupert Neudeck wird auch die Solotänzerin Morgane de Toeuf auftreten. Was hat es mit ihr auf sich?

Das ist einfach eine junge klassische Tänzerin, die viele gute Ideen hat. Die hat sehr viel Empathie und ist sehr ausdrucksstark. Die wird mit unserem Kantor Thomas Frerichs zusammen ein Stück entwickeln und eine Tanzperformance zur Situation in Palästina aufführen. Sie versucht das künstlerisch sichtbar zu machen. Das finde ich auch wichtig, dass wir nicht nur reden, sondern durch diese künstlerische Freisetzung versuchen, Brücken zu bauen. Mit Kunst kann man anders in die Wirklichkeit einbrechen.

*) Trotz der fast ausschließlich männlichen Form sind im Geiste alle Frauen und Kinder immer mit eingeschlossen

Das Interview führte Helga Fitzner am 9. Mai 2012

 

FEIGHEIT IST EIN GROSSER VERRAT“

Hans Mörtter: Ich begrüße herzlich Herrn Rupert Neudeck in unserer Mitte. Herr Neudeck, Sie wurden 1939 in Danzig geboren und erlebten im frühen Kindesalter die Flucht. Ich habe erfahren, dass Ihre Familie versuchte, auf das Passagierschiff „Wilhelm Gustloff“ zu kommen. Sie waren aber zu spät und deswegen kamen Sie nicht mehr an Bord. (Die mit Flüchtlingen überfüllte Gustloff sank am 30. Januar 1945, nachdem sie von einem sowjetischen U-Boot torpediert worden war. Das forderte 9000 Menschenleben.) Sie und ihre Familie überlebten nach einer harten Flucht über den vereisten Landweg. Wir beschäftigen uns hier in der Gemeinde auch mit Kriegskindern. Aus dieser Erfahrung wissen wir, dass solche Erlebnisse prägend sind. Hat Sie das vielleicht zum weltweiten Menschenrechtskämpfer gemacht?

Rupert Neudeck: Ich weiß das nicht. Wir kamen eine Stunde zu spät auf die Gustloff. Ein Onkel hat meine Mutter deswegen schwer beschimpft: „Mein Gott, warum kommst du so spät, ich hatte doch Karten für das Schiff!“ Na ja, wir Neudecks haben eben den Satz von Gorbatschow umgedreht: „Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben!“ Ich stehe hier in der Lutherkirche, weil wir damals die Gustloff verpasst haben. So schön ist das Leben manchmal!

Beim 30. Jubiläum des Komitees Cap Anamur und Deutsche Notärzte e.V., dessen Mitbegründer Sie sind, haben Sie einen wunderschönen Satz gesagt: „Ich möchte nie mehr feige sein. Cap Anamur ist das schönste Ergebnis des deutschen Verlangens, niemals wieder feige, sondern immer mutig zu sein!“

Das ist mein Erbstück. Als Jahrgang 1939 gehöre ich noch halb zur Kriegsgeneration. Mir ist in der Folgezeit immer deutlicher geworden, wie furchtbar dieser Erbteil ist. Wir müssen es ablegen, feige zu sein und zu sagen: „“Ich war es nicht oder ich habe es nicht gesehen. Ich wusste davon nicht.“ Das ist alles kollektive und subjektive Feigheit. Da wir hier in einer Kirche sind und wir uns eben alle zugerufen haben, dass wir keine Angst haben müssen, ist Feigheit ein großer Verrat an dieser Furchtlosigkeit, die uns Jesus Christus versprochen hat. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass es heimliche Türen gibt, dass wir uns selbst austricksen und wieder in eine Feigheit hineingehen. Die sieht nach außen hin gut aus, wie zum Beispiel jetzt mit der Nakba-Ausstellung. Die wurde hier in der Lutherkirche verboten, weil ihr Israelfeindlichkeit unterstellt wird. Dabei hätte ich das hier so schön gefunden. Das ist immer ein Stück von überkommener Feigheit. Wir meinen, wir machen immer das Richtige, aber wir sind dann doch wieder feige. Wir müssen aufpassen und allen heimlichen Verführern zur Feigheit widerstehen. Ich habe das seit meiner Zeit mit Cap Anamur immer wieder erlebt. Man ist viel klüger, wenn man etwas nicht macht, man ist unglaublich klug, wenn man Dinge nicht macht! Man macht sich nicht die Hände schmutzig, man fällt nicht in ein Loch, man hat nie einen Misserfolg, man hat nie ein Scheitern. Nur, das ist nicht unser Auftrag hier, heute Morgen in der Kirche am 17. Juni, dem einstigen Tag der Deutschen Einheit. Unser Auftrag ist es, etwas zu tun auch auf die Gefahr hin, dass wir scheitern.

Zuständige und Experten auf der ganzen Welt haben mir davon abgeraten, als wir zwischen 1979 und 1986 vietnamesische Bootsflüchtlinge an Bord der Cap Anamur nahmen. „Das sind alles nur Tropfen auf den heißen Stein“, sagten sie. Aber ich kann im Nachhinein sagen: „Wir haben 13.350 Tropfen auf den heißen Stein nach Deutschland gebracht, das waren lebende Vietnamesen! Wenn die nicht von uns gerettet worden wären, dann wären sie ertrunken!“

Das war auch der Beginn Ihrer Arbeit, einer Wahrnehmung von Menschen weltweit. Darauf sind viele andere gefolgt und viele Menschen sind aufmerksam geworden. Haben Sie wegen Ihres Engagements in Palästina, im Westjordanland und im Gazastreifen, eigentlich Sponsoren verloren?

Ich muss Ihnen und uns hier heute Morgen sagen: gar nicht! Deshalb ist auch die Situation in unserer Gesellschaft und in unserer Bevölkerung viel besser, als die da oben meinen. Wir haben in der Frage Palästina eine große Kluft zwischen der Meinung der großen Mehrheit der Bevölkerung und dem, was die Regierung und manchmal auch Journalisten meinen. Diese Kluft ist nicht gut, weil das bei einer funktionierenden, lebendigen Demokratie eigentlich nicht sein sollte. Deshalb beklage ich das. Wir sind in der Frage Palästina-Israel in der Bevölkerung schon so weit, dass wir ganz klar sagen können: „Wer ein gutes, klares Verhältnis aus seiner Vergangenheit als Freund Israels hat, gerade der ist ein Freund der Palästinenser.“ Warum nicht umgekehrt? Weil die Palästinenser darunter leiden, dass wir bei der Shoah sechs Millionen Juden ermordet haben. Darunter darf doch ein anderes Volk nicht leiden, und das schon 40 Jahre oder 60 Jahre.

„NACHBARN IST DAS ENTSCHEIDENDE WORT“

Sie zitieren in Ihrem Buch „Das unheilige Land“, dass die europäischen Juden Auschwitz nicht verwunden haben und deswegen nie richtig in Israel angekommen sind.

Aber Gott sei Dank: Die besten, die stärksten, die aufrichtigsten, die freimütigsten, die mutigsten Freunde der Palästinenser leben in Israel! Die jüdischen Frauen der Machsom-Watch-Bewegung stellen sich morgens in aller Frühe an einen Checkpoint und schreiben auf, was sie da sehen. Das ist diese ohnmächtige Methode von amnesty international, die wir alle kennen, dass man nur das tut, was man tun kann. Aber das wenigstens muss man tun! Seit die Frauen das aufschreiben, haben manche israelische Soldaten keine Lust mehr, irgendeine Schweinerei zu machen! Das ist ein großartiges Mittel!

Die „Rabbis For Peace“, eine Friedensgruppe von Rabbinern, würde es auch verdienen, jeden Tag in der „Tagesschau“ zu sein. Die machen Dinge, die wir fast für vergeblich halten! Es werden im Moment wieder ganz viele Häuser der Palästinenser von Bulldozern zerstört, weil sie diese ohne Baugenehmigung gebaut haben. Baugenehmigungen gibt es aber nicht. „Demolition Order“ ist ein Wort in Israel, das man jeden Tag in der Zeitung liest. Es ist ein ganz schreckliches Wort, denn es heißt Zerstörungsbefehl. Diese „Rabbis For Peace“ fahren sofort nach der Zerstörung hin und fangen an, das Haus wieder aufzubauen! Das ist der Ur-Impuls auch von Christen, das nicht einfach hinzunehmen! Auch wenn man nicht weiß, ob das Erfolg hat: immer wieder aufzubauen!

Die „Rabbiner für Frieden“ haben von unserem Kirchenkreis Köln-Mitte, zu dem unsere Gemeinde auch gehört, vor ein paar Jahren den Pfarrer-Georg-Fritze-Gedächtnispreis bekommen. Das ist unser Menschenrechtspreis, weil uns das ganz, ganz wichtig war.

Die besten Gruppen der israelischen Gesellschaft, die stehen auf der Seite von Menschenrechten und von Menschenwürde. Es dürfen Menschen nicht einfach eingesperrt werden, und das für 40 Jahre. Junge Menschen, die Kinder in Israel, die können manchmal das Mittelmeer sehen, aber sie können nicht dahin. – Diesen Impuls müssen wir aufnehmen, weil wir nicht mehr feige sein wollen, weil Menschen es verdienen, aus ihrer Gefangenschaft herausgeholt zu werden, wenn sie es mit eigener Kraft nicht mehr können.

In Tel Aviv gibt es zwei Professoren, einen arabischen und einen jüdischen, die ein Geschichtsbuch herausgegeben haben mit den beiden Narrativen, rechts die arabische Geschichte und Sichtweise und links die jüdische. Damit alle Menschen verstehen, was der andere denkt und empfindet. Die israelische Regierung unter Netanjahu hat dieses Buch verboten. Soviel ich weiß, darf das an den Schulen auch nicht mehr behandelt werden. Wegen der Nakba-Ausstellung gibt es massiven Druck auf das Allerweltshaus, das der Ausstellung einen Raum gegeben hat. Der Druck kommt vonseiten der Staatskanzlei, von der das Allerweltshaus finanzielle Unterstützung erhält. Wahrscheinlich geschieht das auch aus einer Hilflosigkeit und aus einer großen Angst heraus. Warum ist das Wissen um die Vertreibung und die Flucht von 750.000 Palästinensern im Jahr 1948 bei der Staatsgründung Israels so wichtig, dass wir das alle wissen und sehen sollten?

Weil wir uns selbst, anderen und unseren Kindern nie erlauben dürfen, dass Verbrechen, die im Namen unseres Volkes oder im Namen Israels erfolgt sind, vergessen werden. Im tiefsten Innern weiß Israel das natürlich auch. Es wird auf Dauer an einem friedlichen Auskommen mit den Nachbarn nicht vorbeikommen. Die Nachbarn kann man sich in der Geschichte nicht auswählen. Wir Deutschen wollten auch mal lieber nicht die Polen haben an der Ostseite unseres Landes, und die Franzosen wollten wir auch nicht. (Die uns übrigens genauso wenig.) Aber das geht nicht! Einer der größten, verehrungswürdigsten Juden, die aus Deutschland kamen, der große Lehrer Martin Buber, hat immer darauf beharrt, dass Juden und Palästinenser als gute Nachbarn nebeneinander wohnen, leben, arbeiten und Handel machen. Beide müssen davon profitieren, so dass ein Miteinander daraus wird. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es nicht an den Menschen dort liegt, dass die viel spontaner sind, als wir meinen! Ich habe zweimal selbst miterlebt, wie die „Physicians for Human Rights“, das ist eine jüdische Gruppe von Ärzten für Menschenrechte, am Sabbat eine Ambulanz in einem palästinensischen Dorf aufmachten. Das war während der Intifada und ich habe damals gedacht, dass das doch überhaupt nicht sein kann, bei diesen unglaublichen Verhältnissen von Feindschaft, von Waffen, von Befestigung und von Mauerbau! – Doch! Es ist möglich gewesen! Die jüdischen Ärzte kommen am Sabbatmorgen in eine frei geräumte Schule, packen ihre Medikamente und Instrumente aus und geben ambulante Behandlungen. Die Schlangen von Palästinensern wurden immer länger. Um 16:00 Uhr hat der Bürgermeister dieser kleinen Gemeinde bei Tulkarem gesagt: „Heute haben wir keine Politik gegeneinander gemacht, heute haben wir uns geholfen!“ Ich bin fest davon überzeugt, diese Menschen sind viel stärker in der Lage, ganz schnell umzuschalten, ganz schnell Feindschaft und Rache und alles das zu vergessen, wenn sie sehen, dass der andere genau so ein Mensch ist wie er selbst. Das ist möglich! Deshalb bin ich kein Pessimist in dieser Frage.

„DAS IST ALLES GEBORGT“

 

Heute gibt es diese riesige Mauer, die das Land durchzieht, an manchen Stellen mitten durch heilige Stätten mehrerer Religionen hindurch. Genau so schlimm ist das Begegnungsverbot. Die Palästinenser dürfen nicht raus, die Israelis nicht herein.

Diesen Vorwurf kann ich Israel nicht ersparen. Menschen auf beiden Seiten, die Versöhnung organisieren wollen, können das nicht mehr tun, weil sie sich nicht sehen und sprechen dürfen! Selbst eine so tolle Frau wie Sumaya Farhat-Naser, deren Buch „Thymian und Steine“ in diesem Jahr in Köln als „Ein Buch für die Stadt“ ausgewählt wurde. Sie ist christliche Palästinenserin, eine großartige Professorin an der Bir-Zait-Universität, die in der Nähe von Ramallah liegt. Sie hat ihr ganzes Leben lang nur für Versöhnung gearbeitet. Auch sie braucht eine Sondergenehmigung, um von der Universität in der West Bank nach Jerusalem zu kommen! Eine Sondergenehmigung zu bekommen, ist ein tagelanger bürokratischer, furchtbarer Prozess. Das ist einfach ein unglaublicher Skandal, weil so Versöhnung nicht kommen kann.

Wir wissen alle, dass das wichtigste Alter für Versöhnung die Kindheit ist. Man muss in der Kindheit und Jugend gelernt haben, dass man mit Menschen anderer Meinung sprechen und diskutieren muss. Dann kann man auch zusammen arbeiten. Der einzige Platz, wo sich jüdisch-israelische und palästinensische Schulklassen begegnen können, meine Damen und Herren und liebe Freunde hier in der Kirche, ist Deutschland. Oder Frankreich. Das heißt, die müssen beide erst mal einen verschiedenen Weg nehmen. Die jüdischen Israelis kommen über Tel Aviv ganz einfach raus. Die Palästinenser müssen über die Allenby-Bridge, die Grenze zu Jordanien; zwei oder drei Tage bis nach Amman und dann von Jordanien aus nach Europa fliegen. Was ist das für ein Umstand? Was lassen sich Menschen, was lassen sich Staaten, was lassen sich Völker und Regierungen einfallen, um Versöhnung so schwer zu machen? Nachbarn ist das entscheidende Wort! Ich hatte einen guten Freund im israelischen Außenministerium, dem ich immer berichten musste, wenn ich aus den besetzten Gebieten zurückkam. Er empfing mich immer mit einer Frage, die ich nie vergessen werde: „Herr Neudeck, wie geht es meinen palästinensischen Nachbarn?“ Manchmal sind Worte so unglaublich wichtig, das richtige Wort ist ganz wichtig. – Nachbarn -. Israel wird auf Dauer keinen Frieden und keine Sicherheit seiner Existenz haben ohne Auskommen mit den palästinensischen Nachbarn. Das ist das Geheimnis und dafür brauchen wir die Nakba-Ausstellung.

Damit das Gegeneinander zum Einander-Wahrnehmen wird. Dietrich Bonhoeffer war während des Dritten Reiches der einzige Christ, der sagte: „Wer nicht für die Juden schreit, der darf nicht mehr gregorianisch singen.“ Das würde ich ummünzen und sagen: „Wer nicht für die Palästinenser schreit, ist gegen die Juden!“

Das würde ich genau so sagen. Dieser Ansicht ist auch Wilhelm Goller von der Talitha-Kumi-Schule in Beit Jala. Die ist zur Zeit von Kaiser Wilhelm II von Diakonissinnen gegründet worden und zur Zeit die größte und wichtigste Schule für die Palästinenser mit über 1.000 Schülerinnen und Schülern. Mittlerweile hat sich die Gemengelage so verschoben, dass sie direkt an der Mauer liegt. Ich habe bei einem Besuch mitbekommen, dass der Zugang zur Schule für die Schülerinnen und Schüler aus Beit Jala, aus Beit Sahour und Bethlehem nicht mehr möglich war. Das geschah über Nacht, dass nur noch ein anderer Eingang möglich war. Ein Eingang wurde wegen einer illegalen Siedlung, die gebaut wurde, einfach zugemacht. Das ist ein Platz, an den man eigentlich alle Abgeordneten hinführen müsste, die Reisen nach Israel machen. Norbert Blüm hat mir mal erzählt, dass die Abgeordneten an allen Dollpunkten des Landes vorbei chauffiert werden. Man kann dieses besetzte Land auch so zu „sehen“ bekommen, dass man nichts sieht. Das war übrigens bei der Apartheid in Südafrika auch so, man konnte als Besucher durch das Land fahren und nichts sehen, musste nichts sehen. Wenn die Politiker das richtig ansehen würden, würden sie vielleicht erkennen, dass ein Abkommen für einen zweiten Staat Palästina gar nicht mehr möglich ist. Das Land ist zerhackt von jüdischen Schutzburgen und Schutzdörfern, die das Land total durcheinanderbringen. Man kann gar nicht mehr mit einem Federstrich festlegen, was der zweite Staat wäre. Das ist durch die letzten 30 Jahre auch durch unsere Lahmarschigkeit entstanden, weil wir nicht die Einhaltung des Völkerrechts verlangt haben.

Ich bin eigentlich mehr besorgt für Israel. Israel will einen jüdischen Staat in dieser geopolitischen und religionspolitischen Region haben. Den kann es aber auf Dauer nicht haben, wenn es nicht den zweiten Staat macht. Nur wenn der zweite Staat kommt, kann der erste existieren. Wenn sie einen gemeinsamen Staat hätten, davon träumen die Palästinenser sehr häufig, wären die Palästinenser in der Mehrheit. Das wäre dann kein jüdischer Staat Israel mehr. Deshalb ist die Situation so bedrängend. Alle Beobachter, die das mit offenem Herzen und mit einem Gefühl für Israel sehen, halten es für ganz gefährlich, wenn Israel diesen zweiten Staat nicht macht und stattdessen darauf setzt, dass die Palästinenser diese Schikane nicht mehr aushalten und alle laufen gehen. Dann fährt Israel gegen die Wand. Wir leben in einer politischen Welt, in der uns Deutschen über die „Tagesschau“ und über Präsidenten- und Kanzlerbesuche immer vorgemacht wird, dass da schon zwei Gemeinwesen existieren. Das ist ein Kinostück, was uns da vorgeführt wird! Man müsste im Grunde sagen: „Der sogenannte Präsident Abbas, die sogenannte Regierung Palästinas.“ Wir Deutsche haben in der Zeit der DDR mit Anführungszeichen große Erfahrungen gemacht. Wir mussten „DDR“ immer mit Anführungszeichen schreiben. Das ist alles geborgt. Denn es soll vermieden werden, dass wir den freien Blick darauf haben. Die Nakba-Ausstellung setzt den Blick darauf auch durch die Erinnerung. Palästina ist ein besetztes Land.

„DAS IST KLASSISCHE APARTHEID“

Ich fand das in Ihrem Buch sehr eindrücklich beschrieben. Es gibt einen palästinensischen Tourismusminister, der Touristen nach Bethlehem holen will, wo der Tourismus fast zum Erliegen gekommen ist. Sein Kollege, der israelische Tourismusminister, sorgt dafür, dass niemand nach Bethlehem kommt! Sie benutzen in dem Buch den Begriff „Apartheid“.

Ja, das tue ich. Das Wort Apartheid muss offiziell vermieden werden, weil es bei diesem Wort in der Weltpolitik und bei der UNO sofort einklickt: Apartheid darf nicht existieren, Apartheid muss abgeschafft werden! Das ist so wie Völkermord, da gibt es eine Konvention gegen Völkermord, das ist die große Errungenschaft der Neuzeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Seit 1948 gibt es eine Konvention, die bedeutet, wenn das Wort Völkermord im Weltsicherheitsrat fällt, muss die Weltgemeinschaft sofort etwas tun! So ähnlich ist das mit Apartheid. Deshalb muss dieses Wort, darf nicht, um Gottes Willen nicht, vorkommen. Der Erste, der es in einem Buch benutzt hat, war der ehemalige amerikanische Präsident Jimmy Carter, der sehr viele Besuche in dieser Region gemacht hat. Ein zweiter wichtiger Zeitzeuge, den wir alle schätzen gerade hier in dieser Kirche, war und ist der Erzbischof Tutu. Desmond Tutu stammt aus Südafrika und weiß aus eigener Erfahrung, aus eigenem Leid mit seinem Volk, was Apartheid ist. Dem kann man nichts vormachen und der hat nach mehreren Besuchen gesagt: „Das ist klassische Apartheid.“ Wenn Sie als Besucher oder Pilger da hingehen, werden sie das selber sehen. Das besetzte Palästina wird von großen, guten Asphaltstraßen, Autobahnen und Tunneln durchzogen. Die sind aber nur für jüdische Siedler, die Palästinenser dürfen die nicht benutzen. Wenn das keine klassische Apartheid ist, dann weiß ich nicht, was Apartheid ist.

Ihr palästinensisch-christlicher Freund Daoud Nasser sagt, dass Israel seine Seele verloren habe und sie zurückgewinnen müsse. Auch Rolf Verleger, ein ehemaliges Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, mahnt ein breites Umdenken an. Der sagt, Israel sollte von seiner Haltung der Stärke und seines alleinigen Sich-Verlassens auf militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Gewalt ablassen. Eine solche Politik mache jede Gesellschaft in ihrer Seele kaputt. Davon reden auch die Propheten Jesaja, Jeremia, Micha und all die anderen schon seit 2.300 Jahren. Wie kann Israel seine Seele wiedergewinnen?

Einmal, indem es wahrnimmt, was dort passiert. Viele in der israelischen Gesellschaft sehen gar nicht mehr, was hinter der Mauer ist. Manche wollen das auch nicht sehen, weil sie ahnen, was dann mit ihnen passiert. Wir haben unter den Soldaten jetzt eine zunehmende Bewegung, „Breaking the Silence“: Das Schweigen brechen! Das ist für die israelische Regierung eine sehr unangenehme Bewegung. Junge Besatzungssoldaten und -soldatinnen erzählen, was sie erlebt haben. Das Schicksal von Besatzungssoldaten ist immer ausweglos. Sie können sich nicht auf Menschenrechte und Völkerrecht zurückziehen, sondern bleiben diejenigen, die dafür sorgen müssen, dass die Einschließung, die Besatzung weiter existiert.

Auf Dauer – das meint eben Rolf Verleger, ein ganz wunderbarer, gläubiger Jude in Lübeck, der mal im Zentralrat der Juden war, kann diese Gesellschaft so nicht weiter existieren. Nach Erfahrung mit unserer Menschheitsgeschichte kann kein Staat auf Dauer nur mit militärischen Mitteln überleben. Ich betrauere auch die israelische Bevölkerung, die jungen Leute dort, die eigentlich nicht das machen können, was wir in einer freien Gesellschaft machen können.

Ich will das an einem Beispiel erklären: Wir hatten vor 20 Jahren mal einen Anruf von einem jungen jüdischen Arzt, der bei Cap Anamur mitarbeiten wollte. Er hatte bislang nur Einsätze als Militärarzt in den besetzten Gebieten. Der hatte die Nase so voll, dass er jetzt endlich mal rausgehen wollte, um Menschen in Afrika, Asien oder in Lateinamerika zu helfen. – Ich habe gesagt, dass es etwas Schöneres für eine deutsche Organisation im Jahr 1988 nicht geben kann, als jemanden zu finden, der mit uns arbeiten will! Dann haben wir aber ernüchtert da gesessen: Unter den 15 Ländern, in denen wir damals waren, gab es keines, das man mit einem israelischen Pass betreten durfte! Als ich das dem damaligen deutschen Innenminister vortrug, sicherte der uns Hilfe zu. Er wollte dem jungen Arzt Rafi Kot für ein Jahr einen deutschen Pass ausstellen. Als er erfuhr, dass das selbst nach allen Regeln der Kunst illegal wäre, sah er davon ab. Wolfgang Schäuble gab den Fall aber an Außenminister Dietrich Genscher weiter, der seinen Staatssekretär nach Vietnam schickte, der dort einen legalen Arbeitsaufenthalt für Dr. Rafi Kot ermöglichte. Herr Schäuble hat trotz Aussichtslosigkeit zu seinem gegebenen Wort gestanden.

„ES IST KEIN LOKALER KONFLIKT, ES IST EIN WELTKONFLIKT“


Die Israelis bauen Mauern um sich herum, gehen oft keine Nachbarschaft mit den Palästinensern ein. Die Hamas trägt mit ihren Terroranschlägen eindeutig dazu bei. Der Friedensprozess, der unter dem israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin so hoffnungsvoll begann, wurde mit dem Attentat auf ihn empfindlich gestört. Er wurde nicht von einem Palästinenser, sondern von einem orthodoxen Juden umgebracht. Welche Chancen gibt es da jetzt noch?

Die schlimmste Tragödie, die es für den Friedens- und Versöhnungsprozess bisher gegeben hat, war der 4. November 1995, der Mord an dem israelischen Premierminister Yitzhak Rabin. Der war auf dem Wege dahin, alles richtig zu machen. Das war eine furchtbare Tragödie für Israel, Palästina und für die ganze Welt. Das Zweite ist: Die palästinensische Führung muss endlich verstehen, dass sie nicht Regierung ist, dass sie keinen Präsidenten und keinen Tourismusminister hat. Sie müsste jetzt ganz bescheiden und politisch klug sagen. „Das Land ist von der UNO geschenkt, und zwar in der geteilten Form von 1948.“ Wir müssen wieder zu diesen Ursprüngen zurückkommen und der UNO, und damit der Weltgemeinschaft, die Möglichkeit geben, die Dinge hier zu regeln. Das kann sich in verschiedenen Formen ausdrücken. Ein Freund von mir hat immer gesagt, dass Palästina das regierungsreichste Land der Erde ist. Es gibt nicht nur eine Regierung in Ramallah von der Fatah unter Präsident Mahmud Abbas, wir haben eine Regierung von der Hamas in Gaza und dann noch eine Regierung in Israel im Gefängnis. So viele Regierungen hat kein souveränes Land der Erde, aber die so genannten Autonomiegebiete sind auch noch kein souveränes Land. Wenn sich diese drei Regierungen in gutem Verständnis ihrer eigenen Situation einigen würden und diesen Auftrag, den sie nicht erfüllen können, weil sie keine Regierung sind an die UNO zurückgäben, dann, glaube ich, würde eine Situation der Klarheit in der Welt entstehen. Die Palästinenser müssen anfangen, aktiv zu werden. Der palästinensische Generalvertreter in Berlin darf sich jetzt ja Botschafter nennen und wird unter anderem auch die Nakba-Ausstellung im Allerweltshaus besuchen. Das ist ein gutes Zeichen, wenn Palästinenser politisch aktiv werden und nicht alles den anderen überlassen. Israel ist sehr aktiv für sein Volk und seine Sache, das muss man auch bewundernd sagen. Aber ich wünsche mir eine palästinensische Aktivität, die genau so um Popularität und Sympathie in der deutschen Bevölkerung wirbt.

Wer könnte denn Mediator zwischen den verschiedenen Gruppierungen unter den Palästinensern und zwischen Palästinensern und Israelis werden?

Martin Buber! – Der ist nun leider tot und das ist für unsere Zeiten, in denen wir im Aktualitätsterror ertrinken, ganz schwierig, jemanden noch mal hervorzuheben. Aber all seine Schriften sind in Deutsch erschienen. Er war ein deutscher Jude aus Heppenheim. In diesem Punkt wäre es gut, in der Geschichte etwas zurückzudrehen.

Aber in der Sicht auf Israel müssten wir mit der Zeit gehen. Ich habe Israel, Palästina vor 40 Jahren anders gesehen als heute und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass man diesen Zustand dort nicht so lassen kann. Ich glaube, dass ist auch die Erkenntnis von Vielen in der Welt, denn es ist kein lokaler Konflikt, es ist ein Weltkonflikt. Dieser Weltkonflikt muss gelöst werden, nur dann können wir Frieden haben. Deshalb wäre ein Martin Buber jetzt so wichtig.

In zwei Tagen kommt der palästinensische Botschafter, Salah Abdel-Shafi, nach Köln, habe ich erfahren. Ich kenne seinen Vater, den ich selbst noch vor fünf Jahren im Gazastreifen getroffen habe. Der erzählte von den guten Verhältnissen der Nachbarschaft in Hebron, wo er gewohnt hat und geboren ist, wo jüdische und arabische Bewohner einträglich zusammengelebt haben. Das war einmal möglich! Ich glaube, auf diese Menschen müssen wir uns zurückbesinnen. Wir warten in Israel auf einen neuen Rabin und in Palästina auf einen, der so ähnlich ist wie Willy Brandt und Charles de Gaulle zusammen!

So lange es den Konflikt in Palästina, so lange wird die muslimische Welt sagen, dass der Westen lügt, unglaubwürdig ist und permanent Völkerrecht bricht. Da sie sich nicht auf uns verlassen können, wehren sie sich. Das Fass, dessen Lunte schon brennt, ist so immens groß, dass es die ganze Welt auseinandersprengen kann!

Das alles Entscheidende ist, aus der Situation herauszukommen, in der wir uns immer wieder auf eine Seite stellen müssen. Ich fühle mich für beide Völker zuständig und beide Völker haben eine Botschaft an die ganze Welt. Ich habe in 33 Jahren unglaublich viele Konfliktzonen auf der Welt erlebt, aber irgendwann hat sich die Situation dort gebessert, manchmal sogar gelöst! Wenn ich nach Palästina komme, wenn ich da die Mauer schon sehe, die immer größer und heftiger und monströser wird, sehe ich, dass die Situation dort jedes Mal immer schlechter wird! Das ist die Hypothek. Nach allen menschlichen Erfahrungen, die wir miteinander machen und die wir auch in der Geschichte gemacht haben, wissen wir, dass der Stärkere in einer solchen Situation immer der ist, der zu mehr aufgefordert ist. Israel ist eindeutig eine Weltmacht geworden, das kann man ja jeden Tag erleben. Deshalb muss Israel versuchen, aus dieser Erstarrung, aus dieser totalen Fesselung und Verklammerung, seine eigenen wohlverstandenen Interessen für die Zukunft für sich und für Palästina wiederzufinden. Wenn das passiert, dann jubelt die ganze Welt und wir fallen uns alle in die Arme.

„JEDE MAUER IN DER MENSCHHEITSGESCHICHTE IST GEFALLEN“

Hier in Deutschland ist es schwierig, die israelische Politik zu kritisieren. So haben wir es zumindest in Bezug auf die Nakba-Ausstellung hier in Köln erlebt. Doch als Menschen, die wir das jüdische und das palästinensische Volk lieben, haben wir gar keine andere Wahl, als die israelische Regierungspolitik zu kritisieren, infrage zu stellen und für die Lösung des Konflikts einzutreten.

Das Entscheidende ist: Wir leben in einem weltpolitischen Umbruch, und wir sind alle Zeitzeugen davon. Der mächtigste Mann der Welt, Barack Obama, hat im Falle von Palästina-Israel bewiesen, dass er nicht mehr der Mächtigste ist. Er hat im Juni 2009 versprochen, Indikativ, Ausführungszeichen: „Es gibt einen Siedlungsstopp!“ Er hat nicht gesagt: „Wir bitten darum“. Er hat gesagt: „Es wird den geben!“ Er ist nicht in der Lage, den durchzusetzen! Deshalb ist es ein ganz großer weltpolitischer Wandel, die USA sind nicht mehr die einzige Supermacht, wir haben eine neue Situation mit Indien, China, Brasilien. Wir haben auch die EU, von der wir alle uns erhoffen, dass sie sich erholt. Deshalb ist die Rolle von Europa in diesem Konflikt sehr viel größer geworden, aber wir sind da noch nicht sehr weit, weil da auch noch heftige Feigheit grassiert. Feigheit, die nicht vor dem Feind ist, sondern vor dem Freund. Freunden muss man etwas zumuten können, sonst sind es ja keine Freunde. Ich bin sehr froh darüber, dass wir in Israel gleich nach den USA als das wichtigste und zuverlässigste Land der Welt gelten, in Bezug auf Israel. Das ist sehr gut, aber das müssen wir jetzt ausnutzen, damit diese schreckliche Wunde am Körper der Menschheit, damit diese schreckliche Wunde nicht nur vernarbt, sondern geheilt wird. Das, glaube ich, ist unser Auftrag in dieser Generation.

Also reden wir mutig! Ihr jüdischer Freund Uri Avnery hat ein Bekenntnis abgegeben: „Es gibt keine wirkliche Feindschaft zwischen Arabern und Israelis. Wenn das Eis einmal gebrochen ist, verbrüdern sie sich leicht und vollen Herzens.“

Das ist wahr! Er hat das immer wieder bewiesen dadurch, dass er vorangegangen ist, dass er gegen Verbote, gegen staatliche, gesetzliche Verbote, die palästinensische Führung getroffen hat, als das noch verboten war nach Israel-Gesetz. Er hat das immer wieder, Zeit seines Lebens, getan und ich bin ganz fest davon überzeugt, dass er mit seiner anderen Einschätzung recht hat, wenn er seinen palästinensischen Brüdern und Schwestern gesagt hat: „Die besten Verbündeten, die ihr überhaupt habt auf der Welt, ist unsere Friedensbewegung!“ Dass die nicht mehr so mächtig ist, darüber haben wir eben gesprochen, aber es ist dennoch eine wirkliche Kraft. Jedenfalls kräftiger als in Deutschland. Eine solche Nakba-Ausstellung würde Uri Avnery mitten in Tel Aviv machen.

So mache ich zum Schluss auf „Get the Wall“ aufmerksam. Das ist ein ganz hoffnungsvolles Unternehmen, ein sehr freches, demaskierendes: Wir Deutschen haben ja Erfahrung mit Mauern, die trennen, die töten und ersticken.

Die Idee ist von Rechtsanwalt Winfried Seibert, der heute auch hier ist. Jede Mauer in der Menschheitsgeschichte ist gefallen. Wir Deutschen wissen das am besten, weil keiner erwartet hat, dass sie fallen würde, aber dann ist sie plötzlich zusammengerumpelt. Die Bundesregierung hat jetzt schon Schwierigkeiten, Mauerstücke zu finden, die sie Staatsbesuchern als Präsent geben kann. Damit das nicht allen so passiert wie der Bundesregierung, gibt Winfried Seiberts Website die Möglichkeit, oben aus einem Ein-Kilometer-Fotorahmen der Mauer sich mit einem Mausklick ein Stück der israelischen Mauer jetzt schon zu sichern. (Anm. d. Red.: Die Webseite existiert nicht mehr). – Allein um auch Erich Honecker nicht recht zu geben, der gesagt hat, die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen! Das war eine große Dummheit von ihm, solche Dummheit sollte heute nicht mehr vorkommen!

Gut, wir setzen drauf! Ich komme zum Schluss mit dem Propheten Jesaja, im zweiten Kapitel. Er redet von dem Wandern der Völker zum heiligen Berg Zion, wo sie sich alle treffen, wir rufen auf Gottes Wort hin: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen! Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!“ Auf dass das auch Netanjahu hört! Denn diese Worte, das war der Sprengkeim zum Fall der Mauer in Berlin! Damit hat es angefangen.

 

Die Seligpreisungen, sie haben sehr viel zu tun mit unserer Erde, mit uns Menschen und dem Himmel und unserer Politik: Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden! – Ich bin froh, dass Rupert Neudeck ein Mensch ist, der immer hungert und immer dürstet, sich nicht zufrieden gibt, denn nur so kann Gerechtigkeit Fuß fassen auf dieser Erde, und wenn viele von uns sich dem anschließen. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Wenn wir nicht hinsehen und auch riskieren, darüber zu weinen, wütend zu werden und Schmerz zu empfinden, dann verpassen wir das Leben, unser eigenes nämlich, und das der anderen sowieso! Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Denn wer nur meint, dass das schon zu anstrengend im Kleinen wäre, und das Große dabei aufgibt, gibt sich selbst dabei auch auf. Also, stehen wir auf und gehen los! Vielen Dank, Rupert Neudeck!

Redigiert von Helga Fitzner

In dem Interview wurde keine gendergerechte Sprache verwendet, aber es ist klar, dass den beiden Gesprächspartnern immer alle betroffenen Menschen, natürlich auch Frauen und Kinder, am Herzen liegen.

Nachtrag: Rupert Neudeck verstarb am 31. Mai 2016.

Gespräch vom 23. September 2012

FRÜHER LEBTEN ARABER MIT JUDEN UND CHRISTEN ZUSAMMEN

Hans Mörtter: Herr Frangi, ich habe Ihr Buch „Der Gesandte“ gelesen (Besprechung siehe unten) und viel mehr erfahren und verstanden, als ich bis dahin über Palästina wusste. Sie beschreiben darin Ihren jahrzehntelangen Einsatz für Palästina und haben damit ein einzigartiges Insider-Dokument über den Nahostkonflikt geschaffen. Das Buch ist chronologisch geschrieben und beginnt mit Ihrer Kindheit. Da erzählen Sie: „In der Welt, die ich 1943 erblickte gab es keine Angst. Ich wuchs behütet auf, lebte unbefangen und wie im Paradies.“ Woran erinnern Sie sich?

Abdallah Frangi: Ich hatte als kleines Kind noch keinen Krieg erlebt. Wir lebten am Rande der Negev-Wüste und hatten alles im Überfluss. Wir besaßen Land, das wir von unseren Vorfahren geerbt hatten, und uns gehörten genügend Schafe, Pferde, Ziegen und Kamele. Wir haben das Land bebaut, aber nur so viel, wie wir zum Leben brauchten.

Ich erinnere mich an die 70-er und 80-Jahre, wo ich immer gehört und auch geglaubt hatte, dass die Araber keinen großen Verstand hätten und die Wüste erst von den Israelis grün gemacht worden wäre.

Viele Flächen waren schon vorher grün. Die Leute pflanzten, was sie zum Lebensunterhalt brauchten. Die Zahl der Menschen war damals noch nicht so groß, dass weite Flächen urbar gemacht werden mussten. – Aber man weiß heute, dass es schon zu Zeiten der Kanaaniter Olivenbäume in Palästina gab. Und wir freuen uns darüber, dass gerade der Olivenbaum später auch in anderen Ländern gepflanzt wurde.

Die Familienbande zwischen den Generationen beschreiben Sie als sehr eng. Ihre Mutter hat Sie Abdallah nach Ihrem Großvater mütterlicherseits benannt. Der war als Meuterer gegen die osmanische Herrschaft zum Tode verurteilt worden. Ihre Mutter wurde als kleines Mädchen dazu gezwungen zuzuschauen, wie ihr Vater mit einem Lkw zu Tode geschleift wurde. Ist da ein Gen Ihres Widerstand leistenden Großvaters auch in Ihnen?

Das ist durchaus möglich, eine direkte Rolle für meinen späteren politischen Einsatz hat aber mein Vater gespielt, der sich der Fremdherrschaft der Engländer widersetzte und dabei schwer verwundet wurde, so dass er eine Gehbehinderung zurück behielt. Zu ihm habe ich aufgeschaut, ihn habe ich gespürt. Er wurde nicht nur innerhalb der Familie, sondern allgemein von der Gemeinschaft respektiert. Er war immer hilfsbereit, nicht nur den Angehörigen unseres Stammes, sondern auch Fremden gegenüber. Diese Eigenschaften, Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit, hat er an uns weitergegeben. Ihm war wichtig, dass wir auf unseren Stolz achten und unsere Würde nie verlieren. Er war sehr religiös, hat uns ethische Werte vermittelt und darauf geachtet, dass wir niemandem weh tun. Wir sollten anderen nichts antun, was wir selber nicht angetan bekommen wollten.

Ihr Vater war ein besonders edler Mensch. Er war als Scheich so eine Art von Fürst und übte soziale und religiöse Toleranz aus.

Wir wurden so erzogen, alle drei monotheistischen Religionen in uns aufzunehmen und unseren Kindern Namen zu geben, die Verbindungen zu allen drei Religionen widerspiegelten. Wir sehen uns als das Volk, das ursprünglich in diesem Gebiet gelebt hat, angefangen von den Kanaanitern und auch den nachfolgenden Völkern. So ist das Zusammenleben mit Juden und Christen Bestandteil unserer Geschichte.

Sie erzählen in Ihrer Biografie auch davon, dass in den Gutenacht-Geschichten ihrer Mutter immer das Gute siegte. Nie gewann der Teufel die Oberhand. So wächst ein Kind in dem Glauben auf, dass das Böse auf Dauer keine Chance hat und man selbst schlechtesten Menschen ihre Bosheit nachsieht.

Meine Mutter hat sieben Jungen und drei Mädchen geboren. Sie war Analphabetin, aber sie war in der Lage, diese Geschichten und Märchen so zu erzählen, dass wir immer gespannt darauf warteten. Wer Glück hatte, saß auf ihrem Schoß, hatte seinen Kopf auf dem Schoß oder lehnte den Kopf an ihre Schulter. Diese Geschichten erzählte sie nicht zufällig, sie wollte uns Kindern damit etwas vermitteln. Ein Held war immer der Gute, der Mutige, der den Schwachen und Armen hilft, der gegen einen brutalen König rebelliert. Diese Märchen waren sehr schön und sie blieben irgendwie im Kopf, auch als ich älter wurde. 1948 änderte sich jedoch mein Leben, ich war fünf Jahre alt und meine Kindheit war jäh zu Ende. Wir wurden vertrieben, mussten fliehen und von nun an im Flüchtlingslager leben. Auch das Leben meiner Mutter, meiner ganzen Familie hatte sich so dramatisch verändert, dass es solche Erzählungen nicht mehr gab.

PLÄDOYER FÜR EINE GEWALTFREIE KONFLIKTLÖSUNG

Kommen wir zur Nakba, der Vertreibung von 760.000 Palästinensern, als 1948 der Staat Israel gegründet wurde.

Ja, Nakba, die „Katastrophe“ für uns Palästinenser, war eine Folge des Holocausts, der in Europa stattfand. Im arabischen Raum hat es keine Judenverfolgung oder Judenvernichtung gegeben. Palästina war nicht antijüdisch. Wir waren auch nicht antisemitisch, weil wir selbst und die meisten Menschen in den umliegenden arabischen Ländern auch Semiten sind. – Aber als man gesehen hat, dass die europäische Politik, allen voran England, Frankreich und Italien, in Palästina einen jüdischen Staat auf Kosten der Palästinenser gründen wollte, zeichnete sich zunehmend ab, dass das nicht friedlich und ohne Widerstand möglich sein konnte. Die Zionistische Bewegung hat sich mit England und Frankreich verbündet. Sie hatten das Geld und Unterstützung von außerhalb, die Armeen waren fortgeschrittener als unsere, so dass wir völlig unterlegen waren. Aber die Palästinenser wollten ihre Heimat nicht aufgeben, ohne sie verteidigt zu haben. So haben die Palästinenser versucht sich zu wehren, aber leider wurden sie damals von der arabischen Welt nicht unterstützt.

Auch das hatte seine Vorgeschichte.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurden durch die Kolonialmächte England und Frankreich die arabischen Staaten künstlich geschaffen. Das Sykes-Picot-Abkommen hatte 1916 willkürliche Landesgrenzen gesetzt, dazu gehörten auch Palästina und Jordanien. So kam es seit 1920 immer wieder zu Aufständen seitens der Palästinenser gegen die jüdische Besiedlung. Aber viele der Regierungen der umliegenden Staaten haben die Siedlungspolitik der Kolonialmächte akzeptiert, weil ihnen diese Möglichkeit sicherer erschien und sie keine Macht verlieren wollten. Weltweit war man verwundert, wie es möglich war, dass 100.000 Juden die 100 Millionen Menschen im arabischen Umfeld besiegen konnten. Damals gab es keine richtige arabische Einheit, und die wirkliche Kontrolle über Palästina hatten die Engländer und die Franzosen übernommen. Diese Umstände haben dazu geführt, dass der Widerstand der Palästinenser erstickt wurde. Das führte 1948 zur Staatsgründung Israels. Die ersten arabischen Armeen, die nach Palästina kamen, um uns zu unterstützen, damit uns nicht noch mehr Land weggenommen wurde, stammten aus sieben arabischen Staaten, die zusammen aus lediglich 20.000 Soldaten bestanden. Darunter waren Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien und Saudi-Arabien. Dem gegenüber standen aber 65.000 gut ausgebildete und bewaffnete Kämpfer der Zionistischen Bewegung. Das führte dazu, dass die Vertreibung der Palästinenser systematisch und ohne effektive Gegenwehr stattfinden konnte.

Hier wird deutlich, dass die Führer der arabischen Länder die Lage unterschätzten und keinen vollen Einsatz gezeigt haben. Danach gab es immer wieder Revolutionen gegen den Einfluss der Europäer in den arabischen Staaten. Nach der Sueskrise 1956, als Ägypten von England, Frankreich und Israel überfallen wurde, hat man auf einmal gemerkt, dass es eine neue Entwicklung in dieser Region gab. Die USA hatten England und Frankreich aus dem Nahen Osten verdrängt. Im Laufe der Zeit, vor allem nach dem Juni-Krieg von 1967, wuchs der Einfluss der Zionistischen Bewegung in den USA und das ist bis zum heutigen Tag so geblieben. Die USA stehen einseitig auf Seiten der Israelis und das ist für uns Palästinenser und für den Frieden in dieser Region ein großes Problem. Durch diese Entwicklung hat sich der Hass und die Ablehnung gegen den Einfluss der Europäer und vor allem der USA verstärkt. In meinem Buch „Der Gesandte“ bin ich ausführlich auf diesen Punkt eingegangen und möchte mich an dieser Stelle bei meiner Frau bedanken, die mich dazu bewegt und auch unterstützt hat, dieses Buch zu schreiben. Ich habe versucht, nicht nur den Konflikt zu beschreiben, sondern auch für eine gewaltfreie Konfliktlösung zu plädieren. Allerdings gehörte ich nach dem Sechstagekrieg 1967 zu den ersten Kämpfern, die freiwillig nach Palästina gingen, um gegen die Besatzungsmacht Israel und für die Freiheit der Palästinenser zu kämpfen.

Dazu muss man sagen, dass Sie kein erfolgreicher Kämpfer waren, denn bevor es zum Schießen kam, wurden Sie schon verhaftet. Die israelischen Offiziere haben Sie im Laufe Ihrer Haft auch mit Überlebenden des Holocausts zusammengebracht.

Ja, genau. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich heute für eine Zweistaatenlösung einsetze, damit wir diesen Krieg nicht weiterführen müssen. Ich bin seit diesen Erlebnissen in jungen Jahren nicht mehr bereit, eine militärische Konfrontation zu unterstützen oder dafür zu plädieren. Aber auf der anderen Seite, werde ich keinen Millimeter von der Überzeugung abweichen, dass der Frieden im Nahen Osten nur stattfinden kann, wenn wir einen eigenständigen, lebensfähigen Palästinenserstaat neben dem israelischen Staat gründen. Für uns ist auch die Anerkennung der Nakba im Jahr 1948 wichtig. Die Vertreibung von über 760.000 Palästinensern und die Zerstörung von über 800 Dörfern, die wie vom Erdboden verschwunden sind, kann nicht einfach vergessen werden. Hier müssen wir eine Lösung finden.

„ABER DIE GRENZEN VON 1967 EXISTIEREN NICHT MEHR“

Das Schöne ist, dass es eine Gruppe jüdischer Israelis gibt, die nach den alten Dörfern sucht und nach ihren arabischen Namen fragt. Eine solche Initiative gibt es.

Es gibt Israelis, die in dieser Konfrontation Stellung für uns beziehen. Sie haben ihr Gewissen entdeckt, stehen auf unserer Seite und unterstützen uns. Aber die Mehrheit der Israelis steht zur Militär- und Siedlungspolitik von Sharon (Ariel Sharon war von 2001 bis 2006 israelischer Ministerpräsident) und jetzt von Netanjahu und Ehud Barak. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass die öffentliche Meinung überall in der Welt sich zugunsten der Bildung eines palästinensischen Staates ändert. Voraussetzung hierfür ist, dass Israel seine Grenzen festlegt, damit wir wissen, welche Gebiete genau zu Israel und welche den Palästinensern gehören. In dem Osloer Abkommen von 1993 haben wir uns damit einverstanden erklärt, die Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Damit stehen uns nur 23 Prozent vom historischen Palästina zu. Israel sollte 74 Prozent des Gebietes zugesprochen werden. Über die restlichen 3 Prozent, Jerusalem und Umgebung sollte später gemeinsam verhandelt werden. Aber die Grenzen von 1967 existieren in dieser Form nicht mehr. Durch die Mauer und den Neubau von jüdischen Siedlungen auf unserem Gebiet ist eine Grenzziehung, wie im Osloer Abkommen vereinbart, nicht mehr möglich. Wir wissen überhaupt nicht, wo wir einen Palästinenserstaat gründen sollten. Außerdem wurden durch die Mauer und die neuen Siedlungen weitere 10 Prozent unseres Landes einfach besetzt und Gebiete enteignet.

Mit der Unterzeichnung des Abkommens von Oslo fand ein Paradigmenwechsel statt. Die PLO war erstmalig dazu bereit, den Staat Israel und die Grenzen von 1967 anzuerkennen. Das war nicht immer so. Es hatte auch gewalttätige Flügel gegeben, die mit Terrorakten, Flugzeugentführungen und diesen schrecklichen Selbstmordattentaten glaubten, eine gewaltsame Lösung des Konflikts herbeiführen zu können. Das hat dem Ansehen der PLO insgesamt sehr geschadet.

Ja, es gab Palästinenser, die mit dem Oslo-Abkommen nicht einverstanden waren, vor allem, weil keine Fortschritte in der Umsetzung zu sehen waren und sich die Lebensbedingungen der Palästinenser immer mehr verschlechtert haben. So kam es auch, dass, als im Jahr 2006 unter internationaler Beobachtung die ersten demokratischen Wahlen zu einem palästinensischen Parlament abgehalten wurden, Hamas als Wahlsieger hervorging. Nun hätte die Weltgemeinschaft Hamas in die Pflicht nehmen müssen. Stattdessen kam es nach ihrem Wahlsieg zu einer Blockadepolitik im Gazastreifen, die dazu führte, dass 1.700.000 Menschen isoliert wurden, so dass sie bis heute in einem Gefängnis leben und nicht in der Lage sind, ein normales Leben zu führen. Wenn man isoliert ist, wenn man kein Brot und kaum Wasser hat, wenn man keine Elektrizität hat, wenn man nicht ein- und ausreisen kann, wenn so viele Menschen auf einer Fläche von 364 Quadratkilometer festgehalten werden, ist das ein Zustand, der insbesondere bei den jungen Menschen mehr Radikalität als friedliches Denken produziert.

Die Palästinenser waren gespalten. Es gab die PLO, die Fatah, die Hamas und den gewalttätigen Flügel der Al-Aqsa-Brigaden. Sie haben versucht zu vermitteln, aber das ist schwierig und die Friedensverhandlungen werden immer wieder gefährdet.

Das ist nicht verwunderlich. Wir haben 1993 das Osloer Abkommen unterschrieben, den Staat Israel anerkannt und sollten 1998 einen Palästinenserstaat proklamieren. Leider haben wir keinen Partner auf der anderen Seite. Die Friedensbewegung in Israel erlahmte nach dem gewaltsamen Tod des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, der 1995 von einem jüdischen Fanatiker ermordet wurde. Heute, 19 Jahre nach dem Abkommen, haben wir immer noch keinen Partner auf der israelischen Seite. Es gibt eine Strömung, die von Benjamin Netanjahu und dem israelischen Außenminister Avigdor Lieberman betrieben wird, die dem entgegenwirkt. Sie intensivieren die Siedlungspolitik derart, dass heute in der West Bank, wo ein lebensfähiger Palästinenserstaat entstehen sollte, bis heute 300.000 bis 350.000 neue jüdische Siedler leben und die Mauer ein weiteres Hindernis darstellt, da sie auf palästinensischem Gebiet errichtet wurde. Die Mauer trennt Palästinenser von Palästinensern, Palästinenser von ihrem Land, palästinensische Familien voneinander. Die jüdischen Siedlungen aber haben ihre eigenen Straßen, die wir Palästinenser nicht benutzen dürfen. Der vertraglich garantierte und von der Weltgemeinschaft unterstützte Palästinenserstaat wird erstickt, bevor er entstehen kann. Weil wir mit Verhandlungen nichts erreicht haben, wurde der Boden für eine Radikalisierung geschaffen.

Jetzt sind die Jungen dran.

Genau. Aber die meinen natürlich, dass die Israelis nur die Sprache der Gewalt verstehen und sie deshalb gewaltsamen Widerstand leisten müssen. Daher glaube ich, die Militärs in Israel schüren bewusst eine bewaffnete Gegenwehr. Das gibt ihnen die Möglichkeit, gewaltsam gegen uns vorzugehen. Und da wir in jeder Hinsicht unterlegen sind und verlieren würden, wären sie in der Lage, alles zu zerstören, was wir von 1994 bis 2000 in der West Bank und im Gazastreifen aufgebaut haben. Im Jahre 2006 hat der ehemalige Ministerpräsident Sharon einen einseitigen Rückzug aus dem Gazastreifen vorgenommen, mit der Absicht, die Siedlungen in der Westbank auszuweiten. Das hat er auch getan.

Ja, und die Fatah natürlich, deren gemäßigte Mitglieder der militanten Hamas überlassen wurden.

Nicht überlassen. Das war eine Konfrontation, und das ist ein schwarzer Punkt in der Geschichte der Palästinenser. Wir Palästinenser haben gegeneinander gekämpft und in diesen Jahren einen Bruderkrieg geführt. Die Hamas hat mit militärischen Mitteln und mit militärischer Stärke den Gazastreifen übernommen und regiert seit 2007 dort. Wir müssen unbedingt einen Versöhnungsprozess betreiben, um die Einheit der Palästinenser wiederherzustellen, damit wir eine gemeinsame Sprache sprechen, gemeinsame Ziele anstreben und Politik so betreiben, dass die Weltgemeinschaft auf unserer Seite bleibt und sich weiterhin für einen Palästinenserstaat einsetzt. Die jetzige Entwicklung in den palästinensischen Gebieten ist sehr gefährlich. Auch die Entwicklung in dem Rest der arabischen Staaten verläuft anders, als wir erwartet haben, der Ausgang ist unabsehbar. Man redet von Demokratie, aber ich habe Angst um diese Demokratie.

FRIEDLICHE LÖSUNGEN VERSUS WAFFENLIEFERUNGEN

Andererseits, wenn in Palästina „normale“ Verhältnisse bestehen würden, könnten – das ist meine persönliche Meinung – Ministerpräsident Netanjahu und einige seiner Mitstreiter wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt werden.

Die Friedensbemühungen haben allgemein nicht viel Rückhalt. Als Rabin soweit war, den Frieden zwischen unseren Völkern zu akzeptieren, wurden die Gegendemonstrationen so massiv, dass sein Haus belagert wurde. Das geschah mit Unterstützung von Sharon, Netanjahu und der Likud-Partei. Es bestehen durchaus Zweifel daran, dass Rabin „nur“ von einem verrückten Juden aus dem Jemen ermordet wurde. Vermutlich stand eine organisierte Gruppe hinter ihm, die auch im Staat Israel Einfluss hat. Leider haben diejenigen, die heute Israel regieren, die Friedenspolitik Rabins abgeschafft.

Ihr Mentor, der PLO-Chef Jassir Arafat, soll über den Tod Rabins damals sehr bestürzt gewesen sein.

Ich saß damals mit Arafat und ungefähr 35 Leuten der PLO-Führung zusammen, als die Nachricht eintraf, dass Rabin ermordet worden war. Arafat hat vor allen Leuten geweint wie ein Kind. Ein Palästinenser hat sich aufgeregt: „Warum weinst du um Rabin?“ Arafat antwortete: „Du verstehst nicht. Wir haben unseren Partner für den Frieden verloren, und die Zeit wird zeigen, dass wir keinen Partner in Israel haben werden, der seine Rolle weiterhin spielen kann.“ Der Tod von Rabin war leider ein dramatischer Wendepunkt. Unsere Hoffnung ist jetzt, die Unterstützung der Europäer zu bekommen, damit wir noch eine Chance für den Frieden haben. Im Jahr 2009 hatten wir schon einmal große Hoffnung. Da hat der amerikanische Präsident Obama zwei wichtige politische Aussagen gemacht, die ich nie vergesse: „Die Siedlungspolitik gefährdet den Frieden in dieser Region und muss gestoppt werden, und die Palästinenser müssen einen Palästinenserstaat haben.“ Das hat er in der Universität in Kairo und vor der UNO gesagt. Nun muss er auch zeigen, dass er zu seinem Wort steht, dann bekommt er Respekt und hat seinen Friedensnobelpreis zu Recht bekommen.

Sie waren eng befreundet mit dem von mir sehr verehrten jüdischen Dichter Erich Fried, dessen Schriften mich in meiner rebellischen und erotischen Jugendzeit begleitet haben. Der hat in einem Gedicht geschrieben: „Höre Israel, als wir verfolgt wurden, war ich einer von euch. Wie kann ich das bleiben, wenn ihr Verfolger werdet?“ – Durch Ihr ganzes Leben hindurch zieht sich Mord und Gewalt. Sie selber standen auf der Todesliste von Abu Nidal und haben Glück gehabt, Ihre Freunde alle nicht. Abu Dschihad wurde in Tunis feige mit 70 Schüssen ermordet. Sie sagen selber, was für ein Hass dahinterstehen muss, einen Menschen mit 70 Schüssen zu zerfetzen. Sie haben auch immer wieder die Massaker in Flüchtlingslagern, die Angriffe, die Unverhältnismäßigkeit der militärischen Gewalt gegen ihr Volk erlebt. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Die Geschichte dieses Konflikts ist durchsetzt von Augenblicken der Hoffnung, in denen wir uns vor Freude kaum fassen konnten. Und von Phasen nackten Entsetzens, die alle seelischen Kräfte aufzuzehren drohten. Wer da nicht kapituliert, muss mit einem schier unmenschlichen Durchhaltevermögen gesegnet sein.“ Hatten Sie das? Woher nahmen und nehmen Sie die Kraft, nicht zu verzweifeln?

Natürlich heute, wenn man die Entwicklung in Israel sieht, hat man keine Hoffnung. Aber die Hoffnung darf man nicht verlieren, sie muss weiter in den Herzen und Köpfen der Menschen existieren, damit wir einfach die Fähigkeit besitzen, die Zukunft zugunsten des Friedens zu ändern. Wenn wir darauf beharren, dann werden wir es schaffen und Leute motivieren, in Israel das Gleiche zu tun – auch wenn das heute nicht so aussieht, wie ich es hoffe und mir erwünsche. Aber es gibt viele Juden, die uns unterstützen. Ungefähr 20 Prozent der Mitglieder in den Menschenrechtsorganisationen in Palästina sind Juden. Sie lehnen es ab, dass die Palästinenser weiterhin besetzt und verfolgt werden und setzen sich für die palästinensischen Gefangenen ein. Wir haben heute 5.000 Menschen in den israelischen Gefängnissen, die zum Teil seit 30 bis 40 Jahre im Gefängnis sitzen. Aber auch wir Palästinenser sind verpflichtet, den Versöhnungsprozess zwischen der Hamas und Fatah voranzubringen.

Die Weltgemeinschaft ist aber auch gefordert.

Ja, es ist sehr wichtig, dass zum Beispiel die Europäische Union sich an ihre eigene Charta hält, die sie im Jahr 2010 geschrieben hat. Darin ist von Menschenrechten, von Menschenwürde, von Freiheit und von Gerechtigkeit die Rede. Diese Charta sollte auch für die palästinensischen Gebiete gelten. Die Europäer sind aufgefordert, keine Waffen in diese Region zu exportieren. Denn man kann nicht friedliche Lösungen verlangen und gleichzeitig Waffen liefern, egal ob das jetzt U-Boote, Raketen oder Flugzeuge sind. Nein. Die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges hat uns doch gelehrt, dass man mit Waffen keine Gerechtigkeit und keinen Frieden schaffen kann.

Ich möchte aber noch zwei andere Punkte erwähnen, um die Hoffnung auf Frieden zu stärken: Als 1982 Sharon den Libanon überfallen hatte, um die PLO zu vertreiben, da waren 400.000 Israelis auf der Straße – gegen Sharon. Das ist ein gutes Zeichen und zeigt, dass es Menschen gibt, die diese Politik des Krieges nicht haben wollen. Auch noch nach diesem Krieg im Libanon haben die Falangisten mit Unterstützung der israelischen Armee die Massaker in Sabra und Schatila begangen. Das waren grauenhafte Bilder. Bemerkenswert hierbei ist, dass der Erste, der darüber geschrieben hat, ein israelischer Journalist, nämlich Amnon Kapeliouk, war.

Wir halten hier gerade einen Gottesdienst ab. Ich glaube nicht, dass Gott nur eine Sprache spricht oder nur eine Gruppe geschaffen hat, in deren Auftrag er arbeitet. Ich glaube aber, dass die meisten Zionisten, die behaupten, dass Gott ihnen das Land gegeben hat, gar nicht an Gott glauben. Aber sie glauben fest daran, dass Gott ihnen das Land geschenkt hat. Das ist paradox und das kann deshalb nicht lange andauern. Ich werde weiterhin aktiv für die Einheit der Palästinenser arbeiten. Ich will zeigen, dass wir ein fleißiges und ein friedliches Volk sind und dass wir einen Staat Palästina neben dem Staat Israel gründen möchten. Dafür wollen wir hart arbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir zum Schluss von vielen Menschen überall in der Welt unterstützt werden. Dann wird der Tag kommen, an dem viele Israelis einsehen, dass die jetzige Politik der israelischen Regierung keine Zukunft hat und die Sicherheit Israels nicht garantiert.

Wir müssten gegenüber der Militär- und Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu viel deutlicher Position für die Palästinenser beziehen, weil diese Politik den Wahnsinn und den Terror nur forciert. Wir müssten auch über die Verhängung von Sanktionen gegenüber der israelischen Regierung von europäischer Seite aus nachdenken. Das wäre aber ein schwerer Tabubruch und man würde direkt wieder als Israel-feindlich gelten. Ich denke, dass es an der Zeit ist, dass wir Deutsche da viel konsequenter an die Politik in den 1980er-Jahren von Hans-Jürgen Wischnewski anknüpfen. Es sollte unsere Sache sein, mutig nach dem Frieden zu greifen, auch wenn das einen gewaltigen Konflikt mit der israelischen Regierung bedeutet, auch wenn wir in ein schiefes Licht geraten würden.

Ich hoffe erst einmal, dass man in Deutschland in der Lage sein wird, die israelische Politik zu kritisieren, ohne als Antisemit beschimpft zu werden. Wenn man die Menschenrechtsverletzungen der Israelis kritisiert, dann hat man als Deutscher, der von seiner Geschichte gelernt hat, auch das Recht, für die Menschenrechte einzustehen, egal von wem sie missbraucht werden. Ich glaube auch, dass die bisherige Politik der Palästinenser, die von Jassir Arafat und auch die von Mahmud Abbas, dazu beigetragen hat, dass radikale Gruppen wie Al Qaida in vielen islamischen Ländern keine große Zustimmung haben. Wenn wir es schaffen, einen unabhängigen Palästinenserstaat zu schaffen, dann könnte der Einfluss auf die gesamte Umgebung in Syrien, im Libanon, im Irak, und ich wage sogar zu sagen, in Afghanistan, ein stabilisierender sein.

Es gibt viele Menschen, die sich mit Palästina verbunden fühlen, nicht nur weil sie sich für die Freiheit der Palästinenser einsetzen, sondern weil Palästina ein Symbol des Christentums, des Islams und des Judentums ist. Das ist die Geschichte von allen drei Religionen, und wenn wir für einen Frieden zwischen Israel und Palästina sorgen und diese zwei Staaten miteinander die Zukunft gestalten, dann können wir miteinander reden und auch wirtschaftlich zusammenarbeiten. Denn beide Völker sind so miteinander verflochten, dass es sehr schwer ist, sie zu trennen. Wenn wir Palästinenser die Chance zu unserer Eigenständigkeit, unserer Freiheit und unseren Entscheidungen bekommen, dann wird auch Israel davon profitieren und dann wird auch die radikale Politik Israels in dieser Region nicht mehr Fuß fassen können.

Die Zukunft unserer Erde, unser aller Zukunft entscheidet sich, glaube ich, im Nahen Osten. Als Schlusssatz möchte ich einfach nur sagen: Herr Frangi und Frau Frangi, dass es Sie beide gibt, das ist ein großes Geschenk an uns Menschen, weil sie beide eng verschworen nie aufhören, den Frieden und die Begegnung zu suchen. Also ich ziehe einfach meinen Hut und verneige mich von Herzen vor Ihnen. Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Frangi.

Redigiert von Helga Fitzner


„DER GESANDTE“ VON ABDALLAH FRANGI –
„Mein Leben für Palästina – Hinter den Kulissen der Nahost-Politik“ erschienen im Heyne Verlag, 2011

 

„Was hat dich da hoch-getrieben? Was hast du da oben zu suchen? Bete ich nicht schon genug für dich?“ (*1) Abdallah Frangis Mutter war über die Unbändigkeit ihres fünften Kindes nicht sehr erfreut. Er war mal wieder die Stangen eines Beduinenzeltes heraufgeklettert und hatte sich beim Herunterrutschen verletzt. Frangi war der Spross eines einflussreichen und wohlhabenden Beduinenscheichs und wuchs in der Nähe von Beersheva am nördlichen Rand der Negev-Wüste auf. Sein Vater war ein umsichtiger und großzügiger Großgrundbesitzer, baute Obst, Gemüse und Getreide an und hielt Schafe und Kamele. „In der Welt, deren Licht ich 1943 erblickte, gab es keine Angst. Ich lebte im Paradies“ (*2), erinnert sich Frangi. Er war fünf Jahre alt, als diese Welt unterging. 1948 wurde der Staat Israel gegründet.

Es begann die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Der kleine Abdallah kannte die Hintergründe nicht, aber eines Tages entschloss sich sein Vater zur Flucht nach Gaza. Frangi beschreibt Gaza als einen Käfig, der 40 Kilometer lang und 10 Kilometer breit ist. Der Knabe Abdallah, der ein privilegiertes Leben und die Weite der Plantagen gewohnt war, erlebte das Chaos und die Enge des Flüchtlingsdaseins. Sein ältester Bruder Mohammed hatte sich einer geheimen Widerstandsorganisation angeschlossen, für die Abdallah als Zwölfjähriger schon kleinere Botengänge übernahm: „Ich entdeckte in diesem Durcheinander die Politik als Ersatz für die verlorene Weite der alten Heimat und das Gefühl der Freiheit, das damit verbunden gewesen ist“. (*3) Mit 16 Jahren wird auch Abdallah in die Gruppe aufgenommen, die sich inzwischen einen Namen gegeben hat: al Fatah.

Gaza beschreibt Frangi weiterhin als ein großes Labor, in dem Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kultur zusammengeschmolzen wurden zu etwas, was es in der Geschichte vorher noch nicht gab: eine gemeinsame palästinensische Identität. Es gab auch eine charismatische Person, die dieses heterogene Konglomerat von Menschen zusammenhalten konnte: Jassir Arafat, Gründungsmitglied der Fatah, späterer Vorsitzender der PLO, der zum Vorbild und Mentor des jungen Abdallah wird. Frangi klettert fortan zwar keine Zeltstangen mehr herauf, aber die politische Karriereleiter, und er wird sich beim Herabrutschen oft genug weh tun. Gegner werden ihm nach dem Leben trachten und er wird viele Mitstreiter auf seinem Weg verlieren.

Anfang der 60-er Jahre geht Frangi nach Deutschland, um Medizin zu studieren. Er ist sehr angetan von der Gastfreundlichkeit der Deutschen; vor allem die Vertriebenen aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg sympathisieren mit den jungen Palästinensern. Frangi findet väterliche Lehrer, darunter einen Germanistikprofessor, der ihm Bücher über den Nationalsozialismus und die Judenverfolgung zu lesen gibt. „Ich las sie alle, und meine Irritation wuchs. Von den Leiden der Juden war bei uns … nie die Rede gewesen“. (*4) Zu der Zeit lebten etwa 25.000 Palästinenser in Deutschland. Frangi leistet seinen Anteil daran, sie in den studentischen und Arbeiterorganisationen GUPS und GUPA zu vereinen. Das Medizinstudium bleibt zunehmend auf der Strecke, bis nicht mehr daran zu denken ist, dass Frangi es jemals abschließen wird, aber er ist daran beteiligt, wichtige Interessenvertretungen der Palästinenser in Deutschland zu schaffen.

Der Sechstagekrieg 1967, bei dem den Israelis erhebliche Landgewinne gelingen, bedeutet eine zusätzliche Härte für die Palästinenser, deren Hoffnungen auf Autonomie dadurch auf unbestimmte Zeit verschoben scheinen. Frangi und ein paar andere junge Hitzköpfe kehren nach Palästina zurück, um sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Das Unternehmen gerät für Frangi und seine Freunde zum Fiasko. Ohne eine ausreichende militärische Grundausbildung oder andere einschlägige Erfahrungen, überqueren sie eines Tages als „opferbereite Kämpfer“ den Jordan, um auf das gut ausgerüstete israelische Militär Anschläge zu verüben. Palästina befreien sie an diesem Tag nicht, aber sie werden, bevor sie auch nur eine Aktion durchführen können, von den Israelis gefangen genommen. Diese geben sich überraschend viel Mühe mit ihnen. In etlichen Verhören wollen sie über Frangis Motivation Auskunft erhalten, wollen wissen, warum er das komfortable Leben in Deutschland aufgegeben habe und warum er nicht lieber als ausgebildeter Arzt in seine Heimat zurückgekehrt wäre. Frangi und seine Mitkämpfer beharren auf ihrer Position. Nach zwei Monaten werden sie in ein anderes Gefängnis verlegt. Sie werden nicht mehr von Offizieren verhört, sondern es finden Gesprächsgruppen statt, in denen Juden über ihre Verfolgung und den Holocaust erzählen und ihre Gründe und Hoffnungen darlegen, die sie mit dem Staat Israel verbinden. Das löst auch die Zungen der jungen Palästinenser, die nun ihrerseits ihre Lebensgeschichten und Beweggründe preisgeben. Frangi kann Empathie für die Juden und ihr Schicksal entwickeln, ohne dabei seine eigene Herkunft und Position zu verraten.

Die Israelis lassen ihn laufen und zwei Dinge werden ihn für immer begleiten. Er hat gelernt, zwischen Militärpolitik und den Menschen zu unterscheiden. Deshalb schwört er der Gewalt ab und verschreibt sich der Diplomatie. Innerhalb von palästinensischen Kreisen wird auch noch Jahrzehnte später ein gewisses Misstrauen gegen ihn bestehen, angeblich mit den Israelis zu kooperieren, weil er so sang- und klanglos entlassen wurde. „Wenn ich ehrlich war, stellte sich mir die Frage, welche Absicht ich jetzt überhaupt hatte – als vermeintliches Sicherheitsrisiko, als gescheiterter Freiheitskämpfer, als erfolgloser Student? … Wo gehöre ich hin?“ (*5).

Frangi kehrt danach nach Deutschland zurück, um sich künftig auf diplomatischem Weg für die palästinensische Sache einzusetzen. 1967 übernimmt Jassir Arafat den Vorsitz der PLO, der sich die Fatah angliedert, ohne sich ihr unterzuordnen. Die PLO ist zu dieser Zeit noch gewaltbereit und wird als terroristische Organisation eingestuft, weshalb Frangi seine Familie in Gaza nicht besuchen darf. 1972 entwickelt sich für Frangi zum Jubel- und zum Schreckensjahr. Er heiratet seine deutsche Freundin Benita und wird Vater eines Sohnes. Im gleichen Jahr nimmt während der Olympischen Spiele in München eine palästinensische Terrorgruppe israelische Sportler als Geiseln. Der Befreiungsversuch endet für 17 Menschen tödlich. Abdallah Frangi und viele andere Palästinenser werden ausgewiesen. Erst zwei Jahre später, nachdem die Klärung der Hintergründe so weit fortgeschritten ist, dass er als unbeteiligt eingestuft wird, kann er nach Deutschland zurückkehren. Arafat hatte für die Zwischenzeit u. a. in Algier einen Posten für ihn. Dort ist er einem Briefbombenanschlag ausgesetzt, bei dem ein Freund schwer verletzt wird. Die Zeit im unfreiwillig gewählten Exil ist eine Belastungsprobe für die Ehe, die die junge Liebe aber besteht. Abdallah Frangi und seine Frau sind seit nunmehr 40 Jahren verheiratet.

Mehr als einmal gerät Frangi in Lebensgefahr, gerade weil er den Dialog sucht. Als er im Dezember 1980 in der Sendung „Pro und Contra“ auftritt, gerät er auf die Todesliste des militanten Palästinensers Abu Nidal, weil der damalige israelische Außen- und Verteidigungsminister Moshe Dajan per Satellit der Sendung zugeschaltet war. Das Attentat, das keine zwei Wochen später auf Frangi verübt wird, wird nur durch einen Zufall vereitelt.

Erfolge und Rückschläge reihen sich auch in den folgenden Jahrzehnten aneinander. Frangi bleibt seiner Politik des diplomatischen Umgangs mit dem Nahostkonflikt treu. Sein politischer Aufstieg und Einfluss dürfte auf seine Beharrlichkeit und seinen steten Einsatz zurückzuführen sein. 1974 wird er zum offiziellen Vertreter der PLO in Deutschland ernannt. Von 1993 bis 2005 ist er General-Delegierter Palästinas in Berlin, zwischen 2007 und 2009 außenpolitischer Sprecher der Fatah. Heute fungiert er als persönlicher Berater des palästinensischen Präsidenten Abbas.

In der zweiten Hälfte des Buches findet er deutliche Worte gegen die Militärpolitik Israels, die sich seit dem Attentat von 1995 auf den israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin durch einen ultraorthodoxen Juden verschärft hat. Er hat seinem Mentor Jassir Arafat trotz einiger Fehlentscheidungen die Treue gehalten. Abschließend schreibt Frangi über Arafat: „Er hat uns die Vision einer Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis hinterlassen, deren Verwirklichung Präsident Abbas allen Widerständen zum Trotz weiterhin unbeirrt anstrebt. Nichts wäre dem Frieden auf der Welt zuträglicher als das… Eine Lösung dieses Konflikts würde in allen muslimischen Ländern die Kräfte der Vernunft und des Friedens stärken. Vieles deutet darauf hin, dass wir uns diesem Ziel unaufhaltsam nähern, jetzt, da die arabischen Völker sich im Aufbruch befinden“. (*6)

Text: Helga Fitzner im September 2012
Auf Frauensprache habe ich verzichtet, um den Lesefluss nicht zu behindern. Frauen und Kinder sind aber immer mitgedacht, weil sie ja auch mitbetroffen sind.

Zitate mit freundlicher Genehmigung von Abdallah Frangi und dem Heyne Verlag

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*1 Der Gesandte, Heyne Verlag München 2011
ISBN 978-3-453-19354-3, S. 25
*2. S. 19
*3. S. 41
*4. S. 93
*5 S. 125
*6 S. 423



ZUKUNFTSOPTIONEN IN NAHOST UND DIE HERAUSFORDERUNG EINER MUTIGEN DEUTSCHEN POLITIK

Der israelische Politiker Avi Primor und der palästinensische Diplomat Abdallah Frangi stellten am 27. November 2013 ihre Konzepte vor
Moderation: Pfarrer Hans Mörtter


In dem lebhaften und von gegenseitigem Respekt getragenen Gespräch gingen die beiden Diplomaten insbesondere auf die israelische Siedlungspolitik, das gegenseitige Sicherheitsbedürfnis und die Bedeutung der Verträge von Oslo ein. Sie sprachen über die Befindlichkeit ihrer Völker, deren prekäre Lage sie sehr deutlich machten. Neben der geschichtlichen Entwicklung wurden auch konkrete Lösungen zum Abbau der illegalen Siedlungen im Westjordanland diskutiert und wie die USA und die EU dabei helfen können, dass eine Zweistaatenlösung Realität werden kann.


Einführung von Hans Mörtter und Vorstellung der Gäste

Ich freue mich, dass Sie hier so zahlreich erschienen sind zu einem – in meinen Augen – besonderen Abend. Lieber Professor Dr. Avi Primor und lieber Abdallah Frangi: Es ist uns eine große Ehre, dass Sie heute Abend bei uns in Köln sind. Israel und Palästina sind eine Herausforderung für die ganze Welt, aber auch eine große Verheißung. Ich steige einfach mal mit dem alten Propheten Jesaja ein, bei dem es im zweiten Kapitel, Verse 1 – 4 heißt.: „Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amos, geschaut hat über Juda und Jerusalem. In fernen Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn fest gegründet sein, der höchste Gipfel der Berge und erhoben über die Hügel; und alle Nationen werden zu ihm strömen. Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn, zum Haus des Gottes Jakobs, damit er uns in seinen Wegen unterweise und wir auf seinen Pfaden gehen. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem. Und er wird für Recht sorgen zwischen den Nationen und vielen Völkern Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben, und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen.“ Das verstehe ich als Überschrift für unseren Abend.

Sie beide haben am 15. November 2013 zu gleichen Teilen den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis in Osnabrück verliehen bekommen. Das macht Sie beide aus, Abdallah Frangi und Avi Primor: Sie sind Humanisten, Brückenbauer, Grenzüberschreiter und Friedensarbeiter der feinen und mutigen Art. Sie gehören zu den, wie ich finde, wenigen Weisen unserer Erde, die wir um der Zukunft willen brauchen. In der Begründung für die Preisverleihung des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises hat die Jury geschrieben: „Beide zeichnet aus, dass sie trotz vieler Rückschläge und der sich aktuell zuspitzenden Situation in Nahost weiterhin für den Dialog, die Verständigung und für das Suchen nach einer gemeinsamen friedlichen Lösung eintreten.“

Avi Primor, Ihre Mutter stammt aus Deutschland und verlor während der Shoa ihre gesamte Familie. Sie selbst emigrierte schon 1932 nach Palästina, wo sie 1935 Sie zur Welt brachte. 1961 traten Sie in den diplomatischen Dienst ein, und später waren Sie von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Ursprünglich wollten Sie gar nicht nach Deutschland und vor allem wollten Sie nicht die deutsche Sprache lernen nach der fürchterlichen Geschichte, die Juden und Deutsche gemeinsam haben. Trotzdem setzten Sie sich dann nachhaltig für den deutsch-israelischen Dialog ein. Seit 2004 leiten Sie das von Ihnen gegründete trilaterale Zentrum für Europäische Studien in Tel Aviv, den Zusammenschluss einer israelischen, einer palästinensischen und einer jordanischen Universität, die Studenten aus der Krisenregion Zusammenarbeit und Verständigung ermöglichen soll. Sie haben mir gerade erzählt, dass Ihre neue Assistentin Anna Rau ist, die Tochter unseres ehemaligen Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten, die in Tel Aviv Arabisch gelernt und den Islam studiert hat und jetzt als Deutsche die arabische Kultur erforscht und kennt. Wenn das nicht schon praktizierte Zukunft ist.

Herr Frangi, wir hatten im September 2012 einen Talkgottesdienst mit Ihnen und da entstand so eine Art Liebe miteinander, eine tiefe Chemie. Wir freuen uns mit Ihnen, dass Ihnen der Friedenspreis genau an Ihrem 70. Geburtstag verliehen wurde, weil auch Sie diese Anerkennung so sehr verdienen. Sie wurden 1943 als Sohn eines wohlhabenden Beduinenscheichs geboren. Bei der Staatsgründung Israels im Jahr 1948, die die Palästinenser Nakba, Katastrophe, nennen, verlor Ihre Familie ihre Ländereien und musste als Flüchtlinge in Gaza leben. Mit 16 wurden Sie Mitglied der Fatah. PLO-Chef Jassir Arafat ernannte Sie 1974 zum offiziellen Vertreter der PLO in Deutschland. Von 1993 bis 2005 waren Sie der Generaldelegierte Palästinas in Berlin. Heute sind Sie der persönliche Berater des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, wirken also weiter, versuchen Brücken zu bauen. Daniel Cohn-Bendit, der nannte Sie liebevoll „ein germanisierter Palästinenser“, und Jassir Arafat nannte Sie und Ihre Freunde die „deutsche Bande“. Jetzt steige ich gleich mal ein mit der Frage, die uns doch alle irgendwie bewegt: Der verstorbene PLO-Führer Jassir Arafat ist exhumiert und seine Leiche untersucht worden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er mit Polonium vergiftet worden ist. Herr Primor, wie ist da Ihre Einschätzung, wer ein Interesse an der Ermordung Arafats gehabt haben könnte und welche Kräfte da wirkten.

DER TOD JASSIR ARAFATS

Avi Primor
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Jassir Arafat in einem Krankenhaus in Paris gestorben ist. Wieso hat man damals nichts entdeckt, als er behandelt wurde und unmittelbar nach seinem Sterben? Wenn man die Israelis beschuldigt, beschuldigt man eigentlich den damaligen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, der bekannt für seinen Hass gegen Arafat war. Aber die Situation war schon derartig verändert, dass ich überhaupt keinen politischen Vorteil in Arafats Ermordung sehen kann, ganz abgesehen von moralischen Fragen. Dann erzählt man uns, dass es innerhalb des palästinensischen Lagers Leute gegeben hätte, die ein Interesse an seinem Tod gehabt hätten – ich weiß das nicht. Das ist immer so im Nahen Osten, da gibt es überall immer Verschwörungstheorien. Bei Arafat soll es um sein Erbe und um Geld gegangen sein. Wie Sie sehen, weiß ich nichts, und deshalb habe ich Ihnen eine lange Antwort gegeben. (Amüsement im Publikum)

Hans Mörtter
Herr Frangi, Sie waren ein enger Freund von Jassir Arafat, wie ist Ihr Eindruck?

Abdallah Frangi
Ich war die ganze Zeit in Paris, als Arafat im Krankenhaus war und wir haben auch mit den Ärzten gesprochen. Für uns Palästinenser stellte sich die Frage, ob Arafat vergiftet wurde, aber wir bekamen von den Ärzten keine klare Antwort. 98 % der Palästinenser würden sagen, dass Sharon dahintersteckte. Er war es, der bei einer Pressekonferenz, als das Mikrofon noch an war, mit dem damaligen Verteidigungsminister Shaul Mofas besprach, dass Arafat beseitigt werden müsse. Darüber haben die Medien damals berichtet. Die jetzigen Untersuchungen ergaben zwar vorhandene Plutoniumfunde im Körper von Arafat, aber keinen eindeutigen Nachweis, dass dies auch die Todesursache war. Was Sharon angeht, vertrete ich den Standpunkt, dass er sehr oft versucht hat, Arafat umzubringen. Aber zurück zum Thema des heutigen Abends, das ja lautet Brücken zu bauen. Ich kann mir das grundsätzlich mit den Israelis vorstellen, aber mit Sharon war es unvorstellbar, Brücken zu bauen.


„OSLO WAR NICHT NUR RICHTIG, SONDERN UNENTBEHRLICH“

Hans Mörtter
Hier sitzt ja jemand, der zu den Brückenbauern gehört. Avi Primor, das Abkommen von Oslo 1993 und der Folgevertrag Oslo II 1994 waren auf der einen Seite ein Durchbruch, weil die gegenseitige Anerkennung des Existenzrechts unterzeichnet wurde. Insgesamt aber, vor allem dann mit Oslo II und der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin 1995, war das auch ein Rückschritt. Seitdem haben es sich alle israelischen Ministerpräsidenten zum Ziel gemacht, die Westbank zu zersiedeln. Sie hebelten damit den auf einen Zeitraum von fünf Jahren geplanten Stufenplan für ein Friedensabkommen völlig aus. Wie ist Ihre Einschätzung? Ist Oslo gescheitert und vorbei?

Avi Primor
Vorbei ist es nicht, weil es keine Alternative dazu gibt. Es steckt in der Sackgasse, das stimmt schon. Die Kräfte, die eigentlich die Oberhand in der israelischen Regierung haben, wollen langfristig das Westjordanland annektieren. Sie bauen dort Siedlungen, damit die Entstehung eines Palästinenserstaates unmöglich wird. Das alles stimmt. Aber ohne die Osloer Vereinbarungen wäre es heute viel schlimmer. Erstens gibt es die Anerkennung eines Palästinenserstaates, einer palästinensischen Nation, was man sich in Israel früher gar nicht vorstellen konnte. Es hat sich schon viel verändert. Die Tatsache, dass es eine palästinensische Regierung gibt, selbst wenn sie nicht unabhängig ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, und ich würde sagen, 95 Prozent der Israelis verstehen das. Heute ist es selbstverständlich über Palästinenser, einen Palästinenserstaat und eine Zweistaatenlösung zu sprechen, auch wenn das für viele israelische Politiker nur Lippenbekenntnisse sind, aber das wird dann zur Realität in der Bevölkerung. Es wird ein Teil der Alltagspolitik auch in Israel. Wenn François Hollande zum Staatsbesuch nach Israel kommt, hält der derzeitige israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Rede und spricht von seiner Unterstützung der Zweistaatenlösung. Ich bin fest davon überzeugt, dass er daran nicht glaubt. Aber warum sagt er das? Weil er weiß, dass er es sagen muss, und nicht nur für die Franzosen, sondern für die israelischen Zuhörer. Obwohl wir in der Sackgasse stecken, ist so vieles vorangekommen und unumkehrbar geworden. Oslo war nicht nur richtig, sondern sogar unentbehrlich.

Abdallah Frangi
Ich finde, das Osloer Abkommen war der Beginn einer neuen Beziehung zwischen Israel, der PLO und den Palästinensern. Die PLO hat zum ersten Mal Israel anerkannt in den Grenzen von 1967, und Israel hat die PLO als die einzige legitime Vertretung Palästinas anerkannt. Dieser Erfolg ist Jassir Arafat, Shimon Peres und Yitzhak Rabin zuzuschreiben, die dafür auch den Friedensnobelpreis bekommen haben. Die Entwicklung ist jetzt aber so, dass innerhalb Israels die Rechten die Wahlen gewonnen und das Sagen haben. Ihre Politik ist so aggressiv, dass inzwischen über 350.000 Siedler in der Westbank und 200.000 in Ostjerusalem leben. Die jüdischen Siedlungen zerstückeln die palästinensischen Autonomiegebiete und verhindern einen lebensfähigen Palästinenserstaat, wenn er dann entsteht. Aber viele Staaten, die UNO und der Weltsicherheitsrat – und das ist sehr wichtig für uns – haben eine deutliche Haltung: Diese Siedlungen sind illegal und werden von der Welt nicht akzeptiert. Das ist ein wichtiger Punkt. Auch die Mehrheit in Israel glaubt an die Zweistaatenlösung, das haben Umfragen ergeben.

Wir haben im Osloer Abkommen vier, fünf Punkte ausgeklammert – und das war vielleicht ein Fehler damals –, die wichtigsten Fragen eigentlich: die Grenzen von beiden Staaten, die Siedlungen, Ostjerusalem, die Frage der Wasserversorgung und die Sicherheit von beiden Seiten. Die Erklärung des Nahost-Quartetts im Jahr 2012, das sich damit beschäftigt, ist eindeutig: Sie sind für die Zweistaatenlösung, sie sind zum ersten Mal für die Sicherheit der Israelis, aber auch der Palästinenser. Vorher hat man nie die Palästinenser erwähnt, und jetzt ist es eindeutig, dass die Welt inzwischen einsieht, dass die Sicherheit Israels nur garantiert werden kann, wenn die Palästinenser auch Garantien für ihre Sicherheit bekommen. Die Westbank heute und der Gazastreifen stellen ein Viertel des historischen Palästinas dar, und wenn die Palästinenser bereit sind, Israel die restlichen drei Viertel anzuerkennen, ist das eine Verhandlungsbasis, auch wenn nicht alle Palästinenser und viele Araber damit nicht einverstanden wären. Aber dann hätten wir eine Grundlage, um über die Zukunft zu reden. Der amerikanische Außenminister John Kerry arbeitet daran, dass man da in neun Monaten zu einer Verständigung kommt.

Avi Primor
Natürlich können auch Deutschland und die EU Einfluss nehmen, aber ich glaube, nur die Amerikaner können etwas durchsetzen, sollten sie es wollen. Jetzt besteht die Frage, wollen es die Amerikaner? Es gibt die bedingungslose Unterstützung der Amerikaner jeglicher israelischer Regierungen und jeglicher israelischer Politik, ob sie aggressiv ist oder konstruktiv wie in Oslo, immer unterstützen sie bedingungslos die israelische Politik mit aller Macht und mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Doch das war nicht immer so. Diese amerikanische Unterstützung begann erst 19 Jahre nach der Entstehung Israels. Man sagt zum Beispiel, dass die Amerikaner ihr Vetorecht im Weltsicherheitsrat immer in Anspruch nehmen, um Israel zu schützen – das begann aber erst nach 1967. Bis dahin gab es schon eine Macht, die ihr Vetorecht in Anspruch genommen hat, um uns zu schützen, das waren die Franzosen, nicht die Amerikaner. Und ganz, ganz, ganz am Anfang war das die Sowjetunion, das hat man alles schon vergessen. Die Amerikaner haben damit erst 1967 begonnen, als sie ihre Weltanschauung, den Nahen Osten betreffend, total gewandelt haben. Bis dahin waren wir eine Last für sie. Ab 1967 haben sie sich entschieden, dass Israel eine strategische Unterstützung Amerikas im Nahen Osten ist. Nun komme ich endlich zum Punkt: 1969, also zwei Jahre, nachdem die Amerikaner begonnen haben, uns total zu unterstützen, hat der damalige amerikanische Außenminister William P. Rogers, eine beachtliche Rede gehalten, in der er einen Friedensplan für den Nahen Osten unterbreitet hat. Er hat gesagt, Israel muss alle besetzten Gebiete zurückgeben, alle. Er hat nicht gesagt 90 Prozent, 95 Prozent, er hat gesagt alle, und dass man selbstverständlich in diesen besetzten Gebieten keine Siedlungen bauen darf. Dann gab es natürlich auch andere Forderungen, die Palästinenser und die arabische Welt muss Israel anerkennen und es muss Frieden, Kooperation und Sicherheit geben. Das ist also nichts Neues, aber es wird seit 44 Jahren nicht in die Tat umgesetzt.

Hans Mörtter
Die EU-Kommission hat im Januar dieses Jahres Richtlinien verabschiedet, dass Einrichtungen der Europäischen Union keine Finanzierungen, Kredite, Stipendien oder Preise an israelische Unternehmen vergeben dürfen, wenn diese auch in der Westbank, in Ostjerusalem oder auf den Golanhöhen agieren. Die Unterzeichnung der 28 EU-Mitgliedstaaten steht immer noch aus, Ende November 2013. Dazu kommt, dass die Kommission des UN-Menschenrechtsrates auch im Januar 2013 Israel zum sofortigen bedingungslosen Abbau aller 52 israelischen Siedlungen aus den besetzten Gebieten aufgefordert hat, auch mit der Forderung eines Stopps aller Siedlungsaktivitäten. Der UN-Menschenrechtsrat drohte sogar mit der Einschaltung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, weil diese Siedlungen völkerrechtswidrig sind. Wie sehen Sie die Rolle der EU?

Avi Primor
In den 80er-Jahren und Anfang der 90er-Jahre war ich Botschafter bei der Europäischen Union in Brüssel. Was waren die Themen der Diskussionen in der Europäischen Kommission? Immer das Gleiche. Man ist über die israelische Politik verärgert, aber man tut nichts. Soll ich Ihnen eine Anekdote erzählen, die mich beeindruckt hat? Als ich Botschafter bei der EU war, hab ich den damaligen israelischen Außenminister, Yitzhak Shamir, der später Ministerpräsident geworden ist, in Brüssel empfangen. Es gab ein Treffen mit allen Außenministern der Europäischen Union und ich habe Shamir darauf hingewiesen, dass die Gespräche wegen des Siedlungsbaus schwierig werden. Da würde einer – Shamir – gegen 15 andere Stehen. Es ist genau so gelaufen, wie ich es erwartet hatte –, ein Außenminister nach dem anderen hat Shamir angegriffen und beschimpft. Ja, die haben sich gut gefühlt, sie waren alle Europäer gegen einen Israeli, das war sehr bequem. Shamir guckte dem Gesprächspartner immer in die Augen und machte so „Mh-hm!, aha!, ah ja!“, als hätte er ihm zugestimmt. Als er seine Rede hielt, hat er von ganz anderen Themen gesprochen. Auf dem Rückweg im Auto habe ich ihn gefragt: „Aber Sie haben alle Angriffe und Beschuldigungen überhaupt nicht erwidert?“ Da sagt er: „Wozu soll ich die erwidern? Die Europäer haben ein Vergnügen daran, uns anzugreifen. Was stört es uns? Wir können doch sowieso machen, was wir wollen. Warum muss ich mich mit denen streiten?“

Zurück zu diesem aktuellen Streit, von dem Sie sprachen, da geht es um die Wissenschafts- und Forschungsgemeinschaft der Europäischen Union. Wir sind seit 1995 Mitgliedsstaat und das ist für die israelische Wissenschafts- und Forschungsgemeinschaft unentbehrlich geworden. Nicht nur, weil so viel Geld in die israelische Forschung und israelische Universitätsinstitutionen aus Europa fließt. Es fließt doppelt so viel zu uns zurück, wie wir einzahlen. Dabei geht es um Milliarden. Die Wissenschafts- und Forschungsgemeinschaft in Israel kooperiert viel mehr mit Europa als mit Amerika und das ist dank dieses Projektes. Jetzt sagen die Europäer, dass diese Gelder nicht in die Siedlungen fließen dürfen, nicht in die besetzten Gebiete und nicht in die Gesellschaften, die in die Siedlungen investieren. Das höre ich seit dem ersten Tag, als wir diesen Vertrag unterschrieben haben. Warum haben die Europäer den Vertrag damals unterschrieben? Wissen Sie, wir sind das einzige, nicht-europäische Land weltweit, das Mitglied dieser Forschungsgemeinschaft der Europäischen Union ist. Es gibt nur noch ein Land, das nicht Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist und auch Mitglied dieses Vertrags ist, das ist die Schweiz. Aber uns kann man nicht mit der Schweiz vergleichen, die Schweizer sind Europäer und werden vielleicht irgendwann auch Mitgliedsstaat der Europäischen Union werden. Nur wir haben so ein Privileg. Jetzt verlangen die Europäer, dass ihre Gelder nicht in die Siedlungen und die besetzten Gebiete gehen, seit 1995. Jetzt plötzlich machen sie ernst damit. Bei uns versteht man das nicht, was wollen die von uns, das war doch immer in Ordnung. Wissen Sie, warum die Europäer heute so sind? Weil wir die Europäer derartig provozieren wie noch nie zuvor. Immer wieder, wenn ein Europäer nach Israel kommt, hört er, dass neue Siedlungen gebaut werden. Die Europäer bauen manches Mal Anlagen, um den Palästinensern Hilfe zu leisten, und dann kommt unsere Armee und baut sie wieder ab. Das ist wirklich reine Provokation. Wer macht das? Natürlich die Siedler, die auch die Palästinenser provozieren. Irgendwann haben die Europäer – wie sagt man das so schön? – die Schnauze voll davon. Aber ob das eine echte politische Bedeutung hat über dieses Symbol hinaus, weiß ich auch nicht.

Hans Mörtter
Herr Frangi, wie ist Ihre Einstellung dazu?

Abdallah Frangi
Ich glaube, es ist kein Zufall, dass nicht nur die Europäer, sondern auch die Amerikaner, ja die ganze Welt darüber redet und jetzt deutlicher Stellung bezieht. Es ist allgemein bekannt, dass diese Siedlungen völkerrechtswidrig sind. Die Provokationen der israelischen Regierung gegenüber der Weltgemeinschaft ist hinreichend bekannt. Obwohl die Beziehungen zwischen Angela Merkel und Benjamin Netanjahu ausgezeichnet sind, hat die deutsche Kanzlerin wiederholt geäußert, dass sie die Siedlungspolitik nicht akzeptiert. Netanjahu hat das total ignoriert und seitdem hat sich das Verhältnis stark abgekühlt. Ich glaube, Netanjahu bildet sich ein, dass er die Besatzungspolitik noch lange Zeit betreiben kann. Ich bin aber der Überzeugung, dass das auf die Dauer nicht gehen wird. Es gibt viele Palästinenser, die das nicht hinnehmen und auch mir den Vorwurf machen, dass es so keine Zweistaatenlösung mehr geben wird. Die Enttäuschung ist so groß, dass viele Palästinenser glauben, eine Zweistaaten-Lösung nicht mehr zu erleben. Ich jedoch bin weiterhin überzeugt, dass es dazu kommen wird, weil auch die USA und die europäischen Staaten ein Interesse an einem Frieden in dieser Region haben. Und zwar möglichst bald.

Momentan findet eine Entwicklung im gesamten arabischen Raum und in der islamischen Welt statt. Das ist sowohl für die Europäer als auch die Amerikaner von großer Bedeutung. Es gibt auch neue Entwicklungen in der Welt, die die Machtverhältnisse verändern. Die Amerikaner und die Europäer haben nicht mehr das alleinige Sagen in der Welt. Es gibt gravierende Veränderungen in Russland. Und China hat an Einfluss zugenommen. Das heißt, die israelische Siedlungspolitik in dieser Expansion, in dieser Ignoranz, schafft ihnen Feinde und das sogar unter den Freunden der Israelis. Shamir hat eine große Rolle dabei gespielt, als er 1991 während der Friedenskonferenz in Madrid geäußert hat: „Lasst die mal unterschreiben, wir werden in zehn Jahren die gesamte Westbank so besiedeln, dass es keine Möglichkeit für einen Palästinenserstaat gibt.“ Diese Arroganz ist hinfällig. Wir haben vor kurzem die Anerkennung von 138 Staaten der Welt für unseren Antrag zur Aufnahme in die UNO bekommen. Dadurch wurde bestätigt, dass wir als Volk existieren. Das ist wichtig und stärkt Präsident Abbas in seiner Haltung, sich weiter für den Frieden einzusetzen, obwohl 99 Prozent der Palästinenser diesen Verhandlungen keine Chance einräumen. Doch wir müssen uns an die getroffenen Vereinbarungen mit den Europäern und den Amerikanern halten. Das heißt, dass wir weiterhin verhandeln, bis diese Frist von neun Monaten abgelaufen ist. Präsident Abbas hat es nicht leicht, aber er bekommt durch seine ausgewogene Haltung Freunde, Unterstützung und Sympathie für einen Palästinenserstaat. Und das ist wichtig. Die öffentliche Meinung spielt eine sehr große Rolle bei der Schaffung unseres Staates. Denn inzwischen sprechen sich 74 Prozent der Europäer für die Zweistaatenlösung aus. Hier möchte ich festhalten, für die Israelis kann es keine Einstaatenlösung geben, denn wenn Israelis und Palästinenser in einem Staatsgebilde lebten, wären die Palästinenser mit der Zeit den Juden zahlenmäßig überlegen.

Zwischenruf eines Mannes aus dem Publikum ohne Mikrophon
Er empörte sich über die Lieferung von U-Booten der deutschen Rüstungsindustrie an die Israelis.

Abdallah Frangi
Bei all den negativen Nachrichten, die Sie vernehmen, verkennen Sie: Wir haben auf Bildung gesetzt und heute mehr Universitäten in diesen kleinen Fleckchen Palästinas als viele arabische Staaten. Es dringt immer mehr ins allgemeine Bewusstsein, dass wir als Volk existieren. Ich bin überzeugt davon, dass wir spätestens in drei, vier oder fünf Jahren einen palästinensischen Staat haben werden. Ich habe Verständnis für Ihre Argumentation, aber näher werde ich mich dazu nicht äußern.


DIE DEUTSCHE BEFANGENHEIT DEN JUDEN GEGENÜBER


Hans Mörtter

Avi Primor, Sie sind bekannt dafür, ein Kritiker der israelischen Regierungspolitik zu sein, und zwar mit sehr klaren Worten. Sie reden von den elenden Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen, sagen, dass die Besatzung an sich ein Fluch ist und dass gelegentlich – so auch ein Zitat von Ihnen – israelische Gesetzesinitiativen rassistisch sind. Im Januar 2013 konstatierten Sie, dass die Likud-Partei erheblich extremistischer geworden sei. Das sind ganz klare Worte.

Avi Primor
Wir haben auch unsere Extremisten, und ich habe schon vorher angedeutet, dass sie in der heutigen Regierung in Israel die Oberhand haben. Nicht die Mehrheit, aber die Oberhand. Aus zwei Gründen: Erstens, weil die Likud-Partei stark nach rechts gerutscht ist – nicht die Wähler! Die Wähler sind sehr unterschiedlich. Oft wählen sie aus historischen Gründen, aus emotionalen Gründen, nicht unbedingt politisch. Aber die Gewählten, die Abgeordneten, die Minister, da hat die Partei die mehr oder weniger Gemäßigten rausgeschmissen und die ganz extremistischen an die Hauptstellen gesetzt. Aber es gibt die Partner der Koalition, die anderen Parteien, die wirklich die Siedlerpartei sind, die religiösen Parteien. Und wie Herr Frangi es gesagt hat, die sagen klipp und klar, es kann keinen Palästinenserstaat geben. Es kann keinen Palästinenserstaat entstehen, weil das Land uns gehört. Nicht nur gehört es uns aus historischen Gründen und aus nationalen Gründen. Das ist eine göttliche Verheißung. Wir haben nicht einmal das Recht, darauf zu verzichten. Diese Leute, die gab es immer. Jedes Mal, wenn wir Land oder Siedlungen geräumt haben – als wir die ägyptischen Gebiete zurückgegeben haben, mit Jordanien eine Vereinbarung gefunden haben, den Gazastreifen geräumt haben – haben sie mit Bürgerkrieg gedroht. Wie Herr Frangi mit Recht gesagt hat, sind sie bewaffnet. Wenn sie von Bürgerkrieg sprechen, dann meinen sie nicht Steinewerfen. Denen ist es aber nie gelungen. Warum? Weil sie im kritischen Moment begriffen haben, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung nicht hinter ihnen steht, sondern ganz dagegen ist. Das war eigentlich der Grund. Als der damalige Ministerpräsident Menachem Begin die Sinai-Halbinsel und die Siedlungen auf ägyptischem Boden geräumt hat, war es klipp und klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur hinter ihm stand, sondern Druck auf ihn ausgeübt hatte, um das zu tun. Er wollte es gar nicht. – Die Art und Weise, wie Sharon den Gazastreifen geräumt hat, war wirklich verheerend, deswegen haben wir das Problem bis heute. Er hat das nicht im Einklang mit den Palästinensern gemacht, und das war der große Fehler. Er wollte es einseitig machen. Aber er hat es gemacht. Die Siedler haben mit einem Bürgerkrieg gedroht. Aber es ist dann klar geworden, dass die ganz große Mehrheit der israelischen Bevölkerung dahinter steht, und dann können die Extremisten keinen Bürgerkrieg entfesseln. Nicht gegen die ganz große Mehrheit der Bevölkerung.

Jetzt komme ich zurück zu der heutigen Situation. Da hat Herr Frangi auch wiederum zu Recht gesagt: Die meisten Israelis meinen, dass wir das Westjordanland räumen sollen, sie halten es sogar für wünschenswert für Israel, endlich die Besatzung loszuwerden. Diese Mehrheit gibt es seit mindestens 20 beziehungsweise 25 Jahren, man sieht das an den Meinungsumfragen, die zwischen 60 und 70 Prozent schwanken. Wenn es 30 Prozent gibt, die dagegen sind und bereit sind, einen Bürgerkrieg zu entfesseln, ist das schon ein sehr großes Problem. Klar, das ist keine Nebensächlichkeit, umso mehr jetzt, wo sie die Macht in der Regierung haben. Aber die Mehrheit steht nicht hinter denen. Nur – wo liegt das Problem? Wir brauchen Sicherheit. Wenn ich sage „wir“, meine ich nicht die Regierung. Ich meine die Bevölkerung, weil Israel im Krieg geboren ist und seitdem immer nur im Kriegszustand gelebt hat. Die Israelis wissen überhaupt nicht, was Frieden bedeutet. Die haben nie in Frieden gelebt. Wir leben wie auf einer Insel in der Mitte des Nahen Ostens. Wir haben überhaupt keinen Kontakt mit unserem Umfeld. Wir können nicht morgens ins Auto steigen und nach Amsterdam, Brüssel oder nach Paris fahren. Bei uns kann man von so etwas nur träumen. Selbst in die Länder, mit denen wir Frieden geschlossen haben, Ägypten und Jordanien – wer wird es wagen, dahin zu fahren? Man muss sich mit der Sicherheit immer auseinandersetzen, weil man den Frieden gar nicht versteht, man weiß gar nicht, was das bedeutet. Als Sadat nach Israel kam, 1977, und sich sehr, sehr sorgfältig auf diese Reise vorbereitet hat, wusste er, wie man die Herzen der Israelis erobert und hat in allen seinen Reden immer von der Sicherheit der Israelis gesprochen, als sei das sein Problem gewesen. Natürlich war das eine Heuchelei, aber eine sehr kluge Heuchelei, weil er damit die Herzen der Israelis erobert und sie dazu gebracht hat, dass die israelische Bevölkerung auf die eigene Regierung Druck ausgeübte, das zu tun, was Sadat verlangte und was die israelische Regierung ursprünglich nicht zugeben wollte. Er, Sadat, wollte alle seine Gebiete zurück, und er bestand darauf. Bis auf den letzten Zentimeter, hat er immer gesagt. Ich weiß nicht, wie man einen Zentimeter im Sand, in der Wüste misst, aber gut. All dies hat er bekommen, nicht, weil die Regierung es ursprünglich gewollt hat. Warum hat dann die israelische Regierung genau, aber genau bis auf den letzten Zentimeter das getan, was Sadat wollte? Weil die israelische Bevölkerung Druck auf die eigene Regierung ausgeübt hat. Das Gleiche geschah dann auch mit dem Gazastreifen, und wir haben von Ägypten und von Jordanien tatsächlich Sicherheit bekommen. Mit Ägypten und Jordanien funktioniert es, vom Gazastreifen aus werden wir mit Raketen beschossen. Jetzt fürchten die Israelis, wenn wir das Westjordanland räumen, wird uns das auch von dort passieren. Der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen ist schmerzlich, aber verträglich, weil der Gazastreifen für uns ein bisschen abseits liegt. Das Westjordanland liegt in der Mitte Israels. Die Reichweite der primitivsten Raketen der Hamas, wenn aus dem Westjordanland abgeschossen, treffen jede Stadt in Israel, den Flughafen, die Seehäfen, die hochtechnologische Industrie, auf der die israelische Wirtschaft beruht. Alles ist in der Reichweite der primitivsten Raketen. Das können wir uns nicht leisten. Die Regierung in Ramallah will uns Sicherheit gewährleisten und ist für die Mehrheit der israelischen Bevölkerung glaubwürdig. Nur hat sie die Mittel noch nicht zur Verfügung. Jetzt sagt Herr Frangi zu Recht, er versteht das, und da soll doch ein anderer die Sicherheit übernehmen und zwar für beide Seiten. Diese Sicherheit kann von den Völkern vor Ort nicht gewährleistet werden, deshalb wäre der Einsatz von Europäern oder Amerikanern wünschenswert. Es wird immer radikale Minderheiten geben, aber die Mehrheit der Bevölkerung auf beiden Seiten wollen den Frieden. Die Mehrheit muss man überzeugen. Wenn die Mehrheit entschieden ist, können wir alles durchsetzen, und dazu müssen wir die Sicherheitsfrage lösen.

Das sind die Tatsachen. – Aber lassen Sie mich eine Bemerkung zur Frage der U-Boote machen. Die U-Boote haben mit der palästinensischen Frage nichts zu tun, weil ein Angriff auf die Palästinenser mit U-Booten überhaupt keinen Sinn machen würde. Die U-Boote haben eine ganz andere Bedeutung. Sie schützten uns vor dem Irak, als Saddam Hussein uns aus einer Entfernung von 1000 Kilometern mit Raketen beschossen hat und alle dachten, dass er auch eine Atombombe herstellt. Chemische Waffen hat er auf jeden Fall gehabt –, und dann kam der Iran dazu, der immer wieder, immer wieder, verlautbaren ließ, sein Ziel wäre es, Israel zu vernichten. Sie versprechen uns die Vernichtung sogar, es ist eine Verheißung.

Saddam Hussein ist nicht mehr an der Macht, auch der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad nicht mehr. Aber der echte Herrscher des Irans ist immer noch da, das ist Ali Chamene’i. Weder Ahmadinedschad noch der amtierende Präsident Hassan Rohani sind die echten Herrscher, die sind die Vertreter fürs Ausland.

Chamene’i hat kürzlich vor rund fünftausend Menschen eine Rede gehalten, in der er uns Israelis die Vernichtung verspricht, weil wir Hunde seien, kranke Hunde, denen man sich nicht nähern dürfe. Das ist die Rede eines Staatsoberhauptes. Für die Israelis ist klar: Dazu braucht er Atomwaffen. Das ist der Grund für die Abschreckungsmaßnahmen der Israelis, damit die Iraner wissen, dass sie uns nicht unbestraft vernichten können. Dazu brauchen wir die U-Boote, weil die U-Boote die Mittel zur Verfügung haben zurückzuschlagen, den Iran zu treffen, selbst wenn Israel vernichtet würde. Das wird natürlich nie passieren. Aber das ist das Spiel, so wie im Kalten Krieg. Wer brauchte so viele Atomwaffen? Nur damit der andere in Grenzen gehalten wird. Das ist das Spiel der U-Boote. Ob man dem zustimmt oder nicht, aber mit der palästinensischen Frage hat das nichts zu tun.

Ob Frau Merkel Israel zu sehr unterstützt und die Palästinenser nicht genug, das ist eine wichtige Frage. Ich habe Frau Merkel kennengelernt, als ich Botschafter in Bonn und sie Umweltministerin war. Da hatte ich Gelegenheit, mit ihr zu plaudern und ich weiß eine Sache: Sie ist sich nicht nur der deutschen Nazivergangenheit bewusst, sondern auch sehr der DDR-Politik Israel betreffend. Die DDR war ein feindseliger Staat Israel gegenüber, erheblich schlimmer als alle anderen kommunistischen Länder. Obwohl sie nur die Politik der Sowjetunion in die Tat umgesetzt hat, hat sie sich viel mehr bemüht, uns Schaden anzutun als andere kommunistische Länder. Die DDR hat Israel als unabhängigen Staat auch nie anerkannt, was alle anderen kommunistischen Länder getan haben, die einen Teil der Zeit zumindest mit uns auch diplomatische Beziehungen aufgenommen haben – die DDR nie. Ich war überrascht, wie sehr sie sich dessen bewusst ist. Sie hat Israel und den Juden gegenüber ein Schuldgefühl, das ich für übertrieben halte. Ich habe im Jahr 2010 ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld“ – das stimmt auch. (Gelächter). Im Kapitel zum Thema „Deutsche und Israel“ werfe ich den Deutschen heute vor, dass sie immer noch befangen sind. Warum stört mich das? Das sollte mich doch gar nicht stören, das ist sehr gut für mich. Aber Israel und Deutschland haben sehr tiefgreifende Beziehungen in vielen Bereichen zueinander entwickelt. Deutschland ist ein unentbehrlicher Freund für Israel geworden – ich spreche jetzt aus dem israelischen Blickwinkel –, ein unentbehrlicher Partner, der wichtigste nach den Vereinigten Staaten. Diese Partnerschaft und Freundschaft wollen wir aufrechterhalten. Aber wie kann man eine Freundschaft aufrechterhalten, wenn man miteinander nicht ehrlich spricht? Wie kann man eine Freundschaft aufrechterhalten, wenn man glaubt, bestimmte Dinge nicht sagen zu dürfen? „Wenn ich das sage, da wird man mich als Antisemit betrachten, und Kritik darf ich nicht äußern.“ Das ist schädlich für uns und ich halte das für falsch. Wer ist es, der eine europäische Initiative oder eine europäische Unterstützung der amerikanischen Initiativen gegen Israel bremst? Das sind die Deutschen, weil sie befangen sind und sonst nichts. Nicht weil sie meinen, dass wir recht haben, überhaupt nicht. Die Analyse der Situation im Nahen Osten, die man in Berlin macht, ist genau dieselbe wie in Paris, London oder anderswo, aber die Befangenheit, die spielt die Hauptrolle.

Hans Mörtter
Wie sehen die Palästinenser die deutsche Politik?

Abdallah Frangi
Wir Palästinenser hatten von 1948 bis 1974 nicht einmal die Anerkennung, dass wir als Volk existieren. Wir besaßen noch nicht einmal einen richtigen Pass. Erst nach dem Osloer Abkommen, in dem sich Israel und die Palästinenser gegenseitig anerkannt haben, änderte sich auch die deutsche Politik uns gegenüber, so dass Deutschland das erste europäische Land war, das eine Vertretung in Jericho eröffnet hat. Alle anderen Europäer folgten diesem Beispiel. Und hier möchte ich hervorheben: Ein Drittel der Unterstützung von den Europäern für die Infrastruktur, die heute in der Westbank vorhanden ist, stammt aus Deutschland. Es werden uns Mittel zur Verfügung gestellt, die den Palästinensern die Möglichkeit des Aufbaus bieten. Ich möchte aber in keinem Fall das Gefühl vermitteln, damit die israelische Besatzungspolitik zu akzeptieren. Nein – wir kämpfen! Aber wir kämpfen nicht mehr mit der Waffe. Wir kämpfen mit der Unterstützung der Weltgemeinschaft, und die ist auf unserer Seite genau wie auch viele israelische Friedensaktivisten. Zwar haben wir zu Beginn der Auseinandersetzungen den bewaffneten Kampf geführt, mussten jedoch einsehen, dass wir Israel militärisch nicht besiegen können. Auch die Israelis haben versucht, uns abzuschaffen, uns mit militärischen Mitteln aus dieser Region zu vertreiben. Auch das ist nicht gelungen. Nun sind wir an dem Punkt angelangt, nach friedlichen Lösungen zu suchen. Wir haben erkannt, dass keiner von uns die Macht hat, die Entwicklung im Nahen Osten so zu ändern, wie wir es gerne hätten. Aber wir erleben einen Umbruch in dieser Region, die von außen beeinflusst wird. Hier betone ich: Ich bin nicht dafür, dass Israel Atomwaffen hat und U-Boote bekommt. Das bringt nur Unheil. Denn all die Mittel, die im Nahen Osten in Waffen investiert worden sind, hätten ausgereicht, die gesamte Wüste grün zu machen. Am liebsten wäre mir, wenn sämtliche Waffen, Atomwaffen und normale Waffen, einfach im Meer versenkt werden würden. (Applaus).

Es gibt viele Palästinenser, die den bewaffneten Kampf fortsetzen wollen, bis wir eines Tages Israel von der Landkarte weggewischt haben. Ich sage ganz offen: Das ist eine Illusion und ich möchte nicht hinter Illusionen herlaufen. Ich als Palästinenser möchte gerne ein normales Leben führen und dass die Kinder, die heute in Palästina und Israel leben, sicherer sind und nicht eines Tages als Nachbarn aufeinander schießen, sondern dass sie in Frieden, Freiheit und gegenseitigem Respekt miteinander reden. Wenn man diesen Wunsch aufgibt, dann gibt man sich selbst und auch jede Chance auf Zukunft in dieser Region auf.


„DIE ISRAELISCHE SICHERHEITSPOLITIK FRISST DIE ZUKUNFT ALLER UN DER REGION AUF“

Hans Mörtter
Der Fundamentalismus ist weltweit auf dem Vormarsch. Um so mehr müssen wir die Dummheit entlarven, dass Gewalt, Krieg und Töten eine Zukunft in sich trägt, sondern eine Verdammnis auf Generationen hin bedeutet. Wie geht man mit dem Fundamentalismus auf beiden Seiten um?

Abdallah Frangi
In Israel gab es einmal das Friedenscamp „Peace Now!“ Nach der Ermordung Rabins und seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens, existiert es nicht mehr. Diese Kraft ist leider nicht mehr vorhanden. Auf palästinensischer Seite haben wir das Problem, dass ein Teil der Bevölkerung nicht mehr an eine friedliche Lösung glaubt, wie auch die Hamas im Gazastreifen. Mit der Hamas haben wir praktisch einen Bruderkrieg geführt, weil sie die friedvolle Politik von Präsident Mahmud Abbas und Arafat vor ihm, nicht akzeptieren. Sie haben keine Hoffnung und glauben, dass wir Palästinenser keinen Erfolg aufweisen werden, wenn wir die Friedenspolitik fortführen. Aber nicht nur bei den Palästinensern, sondern auch bei den Israelis gibt es Gegner dieser Politik, die glauben, den Anspruch auf das ganze Land zu haben. Und diese Siedler errichten ihre Häuser auf palästinensischem Gebiet und sie werden von der israelischen Armee geschützt. Auf internationaler Ebene findet diese Aktion keine Zustimmung und es wächst die Unterstützung für einen Palästinenserstaat. Immer mehr Länder investieren bei uns, die USA, die Europäische Gemeinschaft, die Chinesen, die Russen. Wir sind darauf vorbereitet und haben bereits die Infrastruktur aufgebaut. Wir warten nur auf den Zeitpunkt, dass sich die israelische Armee aus der Westbank entfernt. Die Israelis wollen aber erst gehen, wenn sie Sicherheit haben. Wir betonen, die Sicherheit können nur die Amerikaner und die Europäer garantieren, indem sie ihre Streitkräfte dort hinbringen. So können die Israelis sicher sein, dass von der Westbank keine Angriffe auf Israel stattfinden, wenn ein Palästinenserstaat entsteht. Wir sagen auch weiterhin, dass wir nicht die Absicht haben, eine Armee in dem palästinensischen Gebiet aufzubauen. Wir wollen lediglich Sicherheitsorgane, damit wir Ordnung schaffen, aber wir brauchen keine Armee, wir wollen keine Panzer, wir wollen keine Flugzeuge, keine Raketen. Diese Politik wird jetzt von der Weltgemeinschaft unterstützt.

Hans Mörtter
Die umliegenden arabischen Staaten befinden sich auch im Umbruch.

Abdallah Frangi
Diese neue Entwicklung begann in Tunesien und weitete sich dann auch auf Ägypten aus, wo die Menschen auf die Straße gingen in der Hoffnung, dass sie ihre Regierung ändern und demokratische Institutionen schaffen könnten. Aber es entwickelte sich anders als erwartet. Es wurde eine islamische Ideologie verfolgt, die von der Mehrheit der Bevölkerung nicht getragen wurde. Natürlich wird die „Demokratie“ im arabischen Raum eine andere sein, als wir sie in Europa haben. Wenn man bedenkt, wie lange es in Europa gedauert hat, bis die Europäer diesen demokratischen Weg eingeschlagen haben. Bei uns findet eine andere Entwicklung als in Europa statt. Die Infrastruktur unserer Gesellschaft ist nicht so weit, dass man einen demokratischen Prozess umsetzen könnte. Es gibt Kräfte, die akzeptieren die Demokratie, wenn sie die Wahlen gewinnen. Wenn sie nicht gewinnen, werden sie Waffen einsetzen.

Israel heute ist ein Staat im Nahen Osten und nicht ein europäischer Staat, obwohl sie gute Beziehungen zu den Europäern, zu den Amerikanern haben und von hier ihre Unterstützung bekommen. Aber wenn Israel weiterhin existieren will, dann muss es sich arrangieren. Das heißt erst mal mit den Palästinensern und der gesamten arabischen Umgebung. Israel kann die arabische Welt nicht für sich gewinnen, wenn es weiterhin die Besatzungspolitik fortführt. Ich glaube, wenn wir unseren Staat haben, dann wird Israel Frieden mit der gesamten arabischen Welt bekommen. Dieses Angebot von Seiten der arabischen Staaten existiert bereits seit 2002. Aber solange die Palästinenser weiterhin besetzt, weiterhin unter Kontrolle der Armee leben, solange wird das Misstrauen in der Umgebung gefestigt, es wird wachsen und Motivation für die radikalen Kräfte sein, um Israel abzulehnen.

Hans Mörtter
Mir ist aufgefallen, dass die Siedlungs- und militärische Sicherheitspolitik eine Angstphobie-Politik ist. Es ist eine Sicherheitsphobie: wir schützen uns um jeden Preis, und alle greifen uns an, und alle wollen uns vernichten. Diese Sicherheits- und Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten, frisst Unsummen von Steuergeldern in Israel auf. Das wirkte sich auf das Bruttosozialprodukt so fatal aus, dass 2011 die jungen Leute durch die Straße gegangen sind und damit ihren Unmut deutlich gemacht haben. Diese Politik zerstört auch die Wirtschaftskraft Palästinas in der Westbank. Sie ist um ca. 80 Prozent auf jetzt nur 20 Prozent gesunken aufgrund der restriktiven Besatzungspolitik. Die israelische Sicherheitspolitik frisst die Zukunft aller in der Region auf. Das ist mein Eindruck. – Aber ich möchte noch mal auf diese ganz neue Situation eingehen, nämlich dass jetzt neun Monate eine Kommission unter der Vermittlung von John Kerry, US-Außenminister, tagt. Es sind zwei Verhandlungskommissionen, das ist neu – die eine politische, die versucht, die Zweistaatenlösung zu definieren, wie sie umsetzbar ist, und eine zweite, eine Militärkommission, die genau das zum Thema hat: Wie definiert sich Sicherheit in Zukunft in Nahost? Das hat es so in dieser Weise, glaube ich, bis jetzt nicht gegeben. Der dritte Aspekt dabei ist, dass zum Schluss nicht die Regierungen, d.h. die Parteien, sondern das israelische und palästinensische Volk über das ausgehandelte Friedensabkommen abstimmen sollen. Man will also nicht den politischen Parteien die Zukunft der zwei Staaten Israel und Palästina überlassen.

Avi Primor
Deshalb hat man das so gemacht. Das rechte Lager hat diese Gesetzgebung erzwungen mit dem Gedanken, dass vielleicht die Regierung unter amerikanischem Druck den Palästinensern nachgeben wird, aber dann wird die Volksabstimmung dagegen votieren. So haben sie es gemeint.

Hans Mörtter
Okay, gut. Nur wendet sich das jetzt gegen sie. Die Menschen wollen Frieden.

Abdallah Frangi
Wir haben Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Israelis. Präsident Mahmud Abbas hat seine Bereitschaft für Verhandlungen gezeigt und sich 35 Mal in Jerusalem mit dem Ministerpräsidenten Ehud Olmert getroffen. Er hat auch versucht, diesen Aspekt zu berücksichtigen, um die Öffentlichkeit in Israel zu gewinnen und von seinen Absichten zu überzeugen. Aber die Realität sieht anders aus. Abbas lebt nicht in einem Vakuum, er lebt unter Menschen, die gedemütigt werden und sehen, wie jeden Tag neue Siedlungen entstehen, die schnell erweitert werden. Diese Siedler verfügen über das Wasser und über das Land und genießen den Schutz durch die Armee. Sie schaffen Fakten und die Palästinenser müssen sich damit abfinden. Deswegen können die Palästinenser nicht mehr diese Geduld aufbringen und ihrem Präsidenten sagen: „Ja, gut, du kannst mal diese Verhandlungen monatelang fortführen, du musst mal die Israelis überzeugen, dass wir für ihre Sicherheit garantieren. Aber so kann das nicht weiter gehen. Wir möchten auch eine Garantie haben, dass wir nicht von dem Land rausgeschmissen werden, das uns gehört.“ Denn das ist der Alltag der Palästinenser. Sie erleben jeden Tag, dass z. B. in Ostjerusalem, ihre Häuser von den Siedlern zerstört werden, die dann dort auf palästinensischem Boden ihre Wohnungen errichten . Diese Siedler werden von der israelischen Regierung unterstützt, bekommen sogar Baumaterial zur Verfügung gestellt, während ein Palästinenser noch nicht einmal die Genehmigung für die Renovierung seines Hauses erhält.

Die Situation im Westjordanland ist mit Ägypten nicht zu vergleichen. Ägypten ist ein einflussreicher Staat und Sadat konnte nach dem Friedensabkommen mit Israel eine Pufferzone einrichten. Zu diesem Zeitpunkt war der Sinai fast leer. Die Ägypter haben auch eine eigene Armee, sind ein eigenständiger Staat. Wir Palästinenser haben diese Möglichkeiten nicht und werden weiterhin unterdrückt, weiterhin besetzt, und haben nicht einmal die Möglichkeit, uns zu wehren. Auch wir möchten, dass die Israelis das Gefühl der Sicherheit bekommen, aber auch wir brauchen die Chance, als gleichberechtigte Partner mit ihnen reden zu können. Wir haben in diesem Punkt überhaupt nichts dagegen, wenn Amerikaner, Europäer oder andere die Sicherheit gewährleisten, im Gegenteil. Nur der jetzige Zustand, in dem wir leben, ist nicht mehr hinnehmbar und viele Palästinenser verlieren ihre Geduld. Aufgrund ihrer Geschichte, haben die Juden das Gefühl, dass sie verfolgt werden, und die Israelis behaupten: „Wir werden nie wieder zulassen, dass sich die Geschichte wiederholt und uns das gleiche wie in den 30er- und 40-er Jahren in Nazi-Deutschland widerfährt.“ Aber das wird nicht so kommen, der Weltsicherheitsrat könnte garantieren, dass ein Palästinenserstaat neben dem Staat Israel entsteht. Die arabischen Staaten haben auch die Bereitschaft, Israel in den Grenzen von 1967 anzuerkennen, wenn die Israelis einen Palästinenserstaat akzeptieren – in den Grenzen von 1967. Vor Kurzem haben auch die islamischen Länder das Gleiche, darunter auch Iran, ihre Unterschrift geleistet. Das heißt, Israel hat die Chance mit allen arabischen und islamischen Staaten Frieden zu schließen.

Hans Mörtter
Präsident Obama scheint aufgewacht zu sein, da ist Bewegung im Spiel. Wie müsste eine – unbefangene – deutsche Politik aussehen, die den Prozess den Friedensprozess beschleunigt?

Avi Primor
Bevor ich diese Frage beantworte, die wirklich die Hauptfrage jetzt ist, möchte ich mir zwei Bemerkungen erlauben: Zum einen, Herr Frangi, was Sie gesagt haben von den Verhandlungen zwischen Ihrer Regierung und unserem damaligen Ministerpräsidenten Olmert stimmt vollkommen, aber: Als Olmert Ihrem Präsidenten ein Angebot gemacht hat, hat er es abgelehnt. Wenn heute Netanjahu das selbe Angebot wie Olmert machen würde, hätte man es gerne akzeptiert. Ich weiß, dass man damals an Olmert nicht mehr geglaubt hat, weil er unter Korruptionsverdacht stand und man nicht wusste, wie lange er an der Macht bleibt. Die Tatsache ist geblieben, dass ein vernünftiges Angebot der israelischen Regierung von den Palästinensern abgelehnt wurde. Das kann man diskutieren, aber das ist Geschichte.

Abdallah Frangi
Bei Olmert war damals klar, dass er nicht mehr lange Ministerpräsident bleiben würde, das war sogar in israelischen Zeitungen zu lesen. Wie sollten wir einen Friedensvertrag mit einem Ministerpräsidenten unterschreiben, der vielleicht nach sechs Monaten weggeht oder der nicht in der Lage wäre, das noch umzusetzen, was er mit den Palästinensern vereinbart hat?

Avi Primor
Zweifellos. – Doch ich meine, hätte Olmert einen Friedensvertrag mit dem Präsidenten Abbas unterschrieben, dann hätte es seine Regierung unterstützt, da hätte es die Mehrheit der israelischen Bevölkerung bekommen, und dann wäre es nicht mehr zu ändern gewesen. Es gibt dafür ein Beispiel: Der ägyptische Präsident Sadat hat mit uns Frieden geschlossen, Mubarak hat ihn fortgesetzt, und dann kamen die Muslimbrüder, die so vehement gegen den Friedensprozess und gegen den Friedensvertrag waren – aber die haben ihn nicht abgeschafft, die haben ihn aufrechterhalten. Sie hätten vielleicht selber so einen Friedensvertrag nicht unterschreiben können, aber hat man einmal diesen Friedensvertrag, dann versteht doch jeder Ägypter, dass es nicht aus Liebe für Israel ist, dass Sadat Frieden geschlossen hat, sondern aus ägyptischem Interesse. So ist es mit Jordanien und könnte es mit Syrien sein. Ich glaube, hätten wir den Frieden mit Bashar al- Assad geschlossen – und wir waren ganz nahe dran –, dann hätte jede syrische Regierung diesen Frieden aufrechterhalten. Hätte Olmert den Frieden damals mit den Palästinensern geschlossen, wäre das vermutlich auch bestehen geblieben.

Hans Mörtter
Das ist nicht passiert.


TECHNISCHE VORAUSSETZUNGEN FÜR EINE RÄUMUNG DER SIEDLUNGEN



Avi Primor
Der Rest ist Geschichte. – Aber eine zweite Bemerkung wollte ich mir erlauben, weil die eine Grundbemerkung ist: Sie haben gesagt, Herr Frangi, mit Recht, dass die Siedlungen ein Hindernis für den Frieden sind, und die wachsen immer weiter und sie entwickeln sich natürlich mit Mitteln des Staates, wir haben nicht das eigene Geld, all das stimmt. Dann stellt man die Frage: Ist eine Zweistaatenlösung technisch überhaupt noch machbar? Sagen wir, die Amerikaner sind wirklich diesmal beharrlich und entschieden und es käme zu einer Räumung der Siedlungen: Da gibt es Präzedenzfälle wie die Räumung der Siedlungen auf ägyptischem Boden und auf dem Gazastreifen. Die Dimensionen sind die gleichen, aber schauen Sie sich einmal die echte Situation an. Es gibt heute im Westjordanland so etwa 350.000 Siedler. Das ist eine große Masse und die sind entschieden, beharrlich, militant und noch schlimmer. Wie räumt man so etwas? Gibt es eine israelische Regierung, selbst wenn sie den Willen dazu hat, die es tun kann? Ich sage Ihnen, ja und warum. Wir haben mit den Palästinensern schon längst vereinbart, dass wir den Palästinensern nicht alle Gebiete, die sie 1967 verloren haben, zurückgeben. Wir geben ihnen genauso viel Territorium zurück, wie sie verloren haben, aber nicht unbedingt alles dasselbe. Ein paar Prozente des Westjordanlandes sollte Israel annektieren dürfen und dafür den Palästinensern genauso viele Quadratkilometer aus dem Kernland Israel geben. Das Prinzip ist akzeptiert. Warum wollen wir diese paar Prozente, selbst Leute wie Olmert und andere? Weil das die paar Prozente sind, wo sich die großen Blöcke der Siedlungen befinden, und die schließen sich an das israelische Territorium an. Dort leben auch keine Palästinenser. Wenn wir diese drei Blöcke annektieren dürfen, dann haben wir damit Land für 260-, 270.000 Siedler annektiert, und dafür bekommen die Palästinenser genauso viel Land im Rahmen einer Vereinbarung von Landaustausch. Jetzt bleiben so etwa 70.000 Siedler in verstreuten Siedlungen überall im Westjordanland übrig. Auch da ist die Lage nicht so klipp und klar, wie man sie immer darstellt. Sind wirklich alle 70.000 beharrliche Fanatiker? Zumindest die Hälfte, wenn nicht mehr, sind nicht aus ideologischen Gründen da, sondern weil sie wirtschaftliche Vorteile bekommen haben. Der größte Siedlungsbauer in Israel war Sharon, der aus dem Budget von jedem Ministerium, das er bekleidet hat, Siedlungen gebaut hat – überall, immer. Wo hat er die Siedler gefunden? Er ging in die ärmsten Teile Israels, in die Vororte der Großstädte, wo Leute wirklich in Armut leben. Familien, die mit drei Kindern auf 25 Quadratmetern wohnten, waren gerne bereit, in eine Villa zu ziehen, die allerdings im Westjordanland lag. Wenn jemand seinen Lebensstandard so schnell auf einmal verbessern kann, warum nicht. Auf mindestens die Hälfte der Siedler trifft das zu. Diese Leute kann man sehr schnell überzeugen, wenn man ihnen Entschädigungen anbietet. Wenn sie zurück ins Kernland Israel können und bessere Lebensbedingungen garantiert bekommen, da kommen sie begeistert. Dann bleiben 30-, 40.000 überzeugte Fanatiker übrig, die zu allem bereit sind, wirkliche Faschisten. Trotzdem können wir räumen, wenn wir wollen, wie wir das in Ägypten und in dem Gazastreifen getan haben, und wir werden es wollen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung in Israel entschieden ist, und das ist wiederum die Frage der Sicherheit. Jetzt komme ich auf Obama zu sprechen.

Hans Mörtter
Obama und eine nicht mutige deutsche Politik.

Avi Primor
Ja, das gehört dazu. Anders als seine Vorgänger hat Obama sich fast sofort mit dem Nahen Osten beschäftigt, als er sein Amt erstmals übernommen hat. Nur hat er eine falsche Taktik angewandt: Er war sehr entschieden, er war sehr beharrlich, hat sich sehr bemüht, aber er hat nur auf die Siedlungen gesetzt. Er sah die Siedlungen als Hindernis im Friedensprozess an und konzentrierte sich darauf. Natürlich sind die Siedlungen das größte Hindernis, aber taktisch gesehen war es falsch, das so zu behandeln. Wenn er sagt, Moratorium auf Siedlungsbau, und unter Druck gibt Netanjahu nach, ja, dann gibt Netanjahu nach, aber nur zehn Monate lang. Jedes Kind in Israel weiß, dass man damit feilschen kann, dass man damit mogeln kann und dass man mogelt. Die richtige Taktik sollte sein, als ersten Punkt auf dem Verhandlungstisch die Frage der Grenzen zu setzen. Wo genau soll eigentlich die Grenze zwischen dem Staat Israel und dem zukünftigen Palästinenserstaat verlaufen? Wenn wir da eine Lösung finden können – und natürlich nur unter amerikanischem Druck, sonst werden wir nie eine Vereinbarung finden –, dann wird es keine Siedlungsfrage mehr geben, weil selbst die Fanatiker in Israel es nicht wagen werden, jenseits der Grenze Siedlungen zu bauen – das ist doch verlorenes Geld. Man sieht das am Gazastreifen, eine Grenze, die Israel auch anerkennt. Es gibt keinen Menschen in Israel, der jenseits der Grenze mitten im Gazastreifen Siedlungen bauen wollte, nicht mal der Verrückteste.

Hans Mörtter
Ja, aber das wäre ja auch schon Wahnsinn, weil es ist ein Gefängnis, ist ein Getto.

Avi Primor
Das ist eine ganz andere Frage, aber Sie haben vollkommen recht. Der Gazastreifen hat eine international anerkannte Grenze, die Palästinenser aber haben das nicht, und wir haben das auch nicht, weder die Ramallah-Regierung noch unsere Regierung hat eine international anerkannte Grenze. Wenn wir die Grenze hätten, dann wäre auch eine Lösung der Siedlungsfrage machbar. Ich gehe davon aus, dass Obama das verstanden hat und er das als Hauptpunkt in den Verhandlungen erzwingt. Das war Nummer eins. Nummer zwei: Er besteht darauf, dass die Verhandlungen geheim bleiben. Es sickert tatsächlich nichts durch. Sie sehen in den Medien gar nichts, wir sehen in den Medien gar nichts, die meisten Minister in der israelischen Regierung haben nicht die geringste Ahnung, was sich in den Verhandlungen abspielt. Es gibt nur einen Sprecher der Verhandlung, das ist der amerikanische Botschafter, und der hat natürlich die Anweisung, nicht zu sprechen. Die Amerikaner wollen nicht sprechen. Man weiß nicht, was passiert ist, also kann es keinen Druck von den Extremisten beider Seiten geben.

Hans Mörtter
Dann können die frei denken und verhandeln.

Avi Primor
Egal auf welcher Seite. Das ist der zweite Punkt, der mir den Eindruck gibt, dass es den Amerikanern diesmal tatsächlich ernst ist. Ein dritter Punkt ist, dass die Amerikaner an den Verhandlungen teilnehmen. Der amerikanische Botschafter nimmt an den Verhandlungen teil, das gab es bis heute noch nie. Und dann gibt es noch das, was Sie schon erwähnt haben: Parallel zu diesen politischen Verhandlungen gibt es auch geheime Verhandlungen in Sachen Sicherheit – mit palästinensischen, israelischen und amerikanischen Sicherheitsbehörden. Warum? Damit, wenn man in den politischen Verhandlungen eine Vereinbarung trifft, diese Vereinbarung mit Sicherheitsmaßnahmen, die überzeugend sind, flankiert werden kann, damit die Bevölkerung dann die politische Vereinbarung tatsächlich unterstützt und damit die Extremisten in der Minderheit bleiben, wie es mit Ägypten und Jordanien war. Ob das so sein wird oder nicht, weiß ich nicht. Wie lange die Amerikaner darauf beharren würden, weiß ich nicht. Nur bleibt die Frage der Sicherheit, und da bestehe ich darauf, dass Obama nicht in der Lage ist, aus innenpolitischen Gründen, die Sicherheitsfrage des Nahen Ostens alleine zu lösen, wenn er nicht zumindest Rückenwind von den Europäern bekommt. Und die Europäer werden es tun, wenn die Deutschen mitmachen, nicht wenn die Deutschen alleine bleiben.

Jetzt sage ich Ihnen noch ein Wort zur Befangenheit der Deutschen: Im Jahr 2006 wurden Truppen in den Südlibanon entsandt. Die Deutschen haben gezögert, weil da vielleicht deutsche Truppen auf israelische Truppen schießen könnten oder israelische auf deutsche, das können wir uns nicht leisten. Als man den israelischen Ministerpräsidenten dazu befragte, sah er keinen Unterschied zwischen deutschen oder französischen Truppen. Für ihn sind alles parlamentarische Demokratien, das sind alle unsere Freunde, warum sollen wir da einen Unterschied machen. In Israel gab es keine Befangenheit, in Deutschland gab es sie.

Abdallah Frangi
Zum Schluss möchte ich betonen, dass ich der Meinung bin, dass die Grenzen bereits feststehen. Es ist vom Weltsicherheitsrat zweifelsfrei beschlossen worden, dass die Westbank, Ostjerusalem und der Gazastreifen ganz klare Grenzen haben. Deswegen kann man nicht sagen, Gaza hat eine international anerkannte Grenze und die Westbank nicht. Auch in dem Osloer Abkommen sprechen beide Seiten von der Westbank und dem Gazastreifen als eine geographische Einheit. Wenn wir diese Grenzen noch einmal infrage stellen, dann wird es sehr schwer für die Palästinenser, weiterhin Verhandlungspartner zu bleiben. Ich glaube, die Amerikaner werden ihre Bemühungen intensivieren und sich weiterhin für eine friedliche Lösung einsetzen. Sie haben auch die Unterstützung der Europäischen Union, einschließlich der Deutschen. Die Europäer haben sich klar für die Zweistaatenlösung ausgesprochen und die Siedlungspolitik als illegal bezeichnet. Ich glaube, die deutsche Haltung heute hat sich geändert, und wenn die große Koalition kommt, dann wird eine bessere Politik in dem Nahen Osten eher möglich sein.

Hans Mörtter
Vielen Dank! Wir nehmen also mit auf den Weg, dass wir Deutschen erwachsen werden müssen gegenüber israelischer Politik, damit eine wirkliche Partnerschaft entstehen kann. Ich bedanke mich für diesen Abend und dass Sie beide gekommen sind.

Avi Primor
Ich möchte ganz kurz ein Schlusswort sagen: Herr Frangi und ich haben es nicht immer sehr leicht bei uns zu Hause. Die Extremisten sind zahlreich und, wie schon gesagt, zumindest militant, wenn nicht viel schlimmer. Ich glaube, dass Herr Frangi viel mehr Risiko eingeht als ich, und ich muss das nicht erklären und er weiß es für sich. Ich brauche Zivilcourage, er braucht viel mehr Courage als nur zivile. Aber eines will ich über ihn sagen: Was er weiß, ist, dass nur tote Fische immer mit dem Strom schwimmen. Er ist kein toter Fisch!

((Applaus))


Nachwort: In dem Gespräch wurde auf gendergerechte Sprache verzichtet, die wir nachträglich auch nicht eingeführt haben. Es ist aber klar, dass den Beteiligten alle Menschen, Männer, Frauen und Kinder am Herzen liegen.



mauerbilder von ra winfried seibert