Kein Krieg im Irak in unserem Namen
Friedensschiff - Genesis einer wahnwitzigen Idee
Aus dem Tagebuch von Pfarrer Hans Mörtter
Dezember 2002
Gespräch mit dem Sänger Gerd Köster und dem Künstler Cornel Wachter über das „Schweigen in Deutschland“. Ich will mich nicht damit abfinden, dass der Krieg gegen den Irak unausweichlich ist, weil George W. Bush das so will. Cornel Wachter will unbedingt etwas machen.
Ich bin glücklich über die Geburt meiner Tochter Johanna am 3. Dezember und arbeite bis Weihnachten wie verrückt, verspreche meiner Frau Sonja, dass wir „danach“ endlich wieder etwas mehr Zeit haben.
28. Dezember 2002
Mich lässt der drohende Krieg nicht los. Ich weiß um den Genozid an der irakischen Bevölkerung durch das Handelsembargo und die fatalen Folgen eines Krieges in jeder Hinsicht. Ich kann nicht zusehen, ertrage nicht das bundesdeutsche Schweigen, die wenige Hintergrundinformation. Es rumort in mir.
Endlich die Idee! In all den Begegnungen mit vielen, vielen Menschen, gerade auch in den Gottesdiensten der Advents- und Weihnachtszeit, habe ich erkannt: Alle Menschen, denen ich begegne, sind gegen den Krieg, glauben aber nicht, dass er noch aufzuhalten ist. Dagegen sind anscheinend fast alle – nur das Ventil, um das rauslassen zu können, ist verstopft. Der Protest gegen den sich anbahnenden Wahnsinn kann und kommt nicht raus. Eine allgemeine Lähmung. Also gibt es nur eins: Den Widerstand wecken, Menschen ermutigen. Und das geht nur mit einem eindeutigen Signal glaubwürdiger Menschen.
2. Januar 2003
Ich rufe Curt Hondrich an, ehemaliger Redakteur des WDR. Er ermutigt mich in meiner Idee. Ich fange an, Gas zu geben. Ich will so viele prominente Menschen wie möglich (Politiker wollte ich ausschließen) an einem guten Ort in Köln versammeln, um mit ihnen gemeinsam durch ihre bundesweite Medienwirksamkeit ein wirksames Signal zu setzten, das Hunderttausende von Menschen in allen Städten auf die Straße bringt. Eben ein lösendes Zeichen setzen, auf das irgendwie alle warten und das in Bewegung setzt. Als Pfarrer weiß ich, wie wichtig solch befreiende Signale sein können.
Ich telefoniere mit meinem Partner aus dem „Club der offenen Herzen“, einer Initiative, um sozial-solidarisches Denken zu fördern, zuerst das Menschensinfonieorchester (MSO), das bundesweit einzige Orchester von obdachlosen und nicht-obdachlosen Musikern finanziell auf eigene Bein zu stellen mit dem Anfangsresultat der ersten professionellen CD. Beide, Marc Tölle und Cornel Wachter, sind begeistert. Ich frage die Kabarettisten Wilfried Schmickler, Heinrich Pachl und den Sänger Gerd Köster, ob sie mitdenken. Curt Hondrich empfiehlt mir, zur Unterstützung die WDR-Redakteurin Gabi Gillen zu fragen, die auch direkt mit dabei ist.
5. Januar 2003
Erstes Treffen im argentinischen Café Sur in der Südstadt mit Cornel Wachter, seinem kleinen Sohn Julius, Gabi Gillen, Wilfried Schmickler, Gerd Köster und Klaus dem Geiger. Wir diskutieren, sind Feuer und Flamme. Es entsteht die Idee, ein Schiff als Veranstaltungsort zu mieten. Alle in einem Boot, auf einem Fluss! Wir sind begeistert von dem Gedanken. Aber welches Schiff und wie teuer wird das werden? Wir haben null Geld. Erst mal abchecken und Verbündete suchen. Wir vertagen uns.
7. Januar 2003
Cornel Wachter hat das Schiff geklärt. Einzige realistische Möglichkeit ist die MS-Enterprise (wir sind fasziniert von der Parallele zum Flugzeugträger gleichen Namens) –alle anderen verfügbaren Schiffe sind zu klein. Es ist ein direkt verfügbares Veranstaltungsschiff mit vorhandener Bühne und Technik.
Problem: Es kostet 6000,– €, dazu kommen die Kosten für Technik und Tontechniker. Zweifel tauchen auf, ob wir die Finanzierung schaffen könnten. Arbeitsauftrag: Herumfragen, wer für ein Programm dabei wäre, um Eintrittskarten zur Finanzierung verkaufen zu können. Welche Prominente können wir fragen – bundesweit, welche Zugänge gibt es?
9. Januar 2003
Cornel, Marc, Gabi und ich haben begonnen, uns die Finger wund zu telefonieren, zu faxen und zu mailen. Wir stoßen auf Resonanz für unsere Idee. Aber nichts wirklich Klares. Deswegen die rettende Alternatividee: Wir inszenieren eine Lesungsreihe von „Stupid White Men“ von Michael Moore im Kontext des drohenden Krieges. Die Idee ist gut, aber Marc, Cornel und ich wollen nicht „ein bisschen“, sondern die „große Bewegung“. Wir vertagen uns, um weiter Mitstreiter*innen zu finden.
10. Januar 2003
Mittags ist die Stimmung fast am Nullpunkt. Wir kommen einfach nicht richtig weiter, stoßen auf keine nennenswerte Reaktion. Da, am späten Nachmittag: Zusage von Wonderwall! Das gibt Marc, Cornel und mir einen gewaltigen Schub. Wir drehen wieder auf. Ich frage bei Wolfgang Niedecken an, der sich noch bedeckt hält.
11. Januar 2003
Wir haben malocht wie die Bekloppten. Aber die Resonanz ist doch spärlich. Uns fehlen einfach persönliche Zugänge. Und anscheinend nimmt uns kaum jemand ernst. Die Stimmung kippt hin zur „kleinen Lösung“ der Lesungsreihe. Wir vertagen uns auf Montag, um noch weiter nach Unterstützung zu suchen.
13. Januar 2003
Marc Tölle, Cornel Wachter und ich haben fast rund um die Uhr telefoniert, gefaxt, gemailt. Positive Signale: Wir haben einige Zusagen und eventuelle Zusagen. Günter Grass will einen Text schreiben. Konstantin Wecker signalisiert nach einem langen Telefongespräch (in seinem Hotel im Irak) Bereitschaft zu kommen, weil er unsere Aktion für genau richtig und wichtig empfindet. Herbert Grönemeyer überlegt, ob er entweder nach Köln kommt oder am 15. Februar nach Berlin geht. Wir hoffen, er kommt. Wolfgang Niedecken will dazu kommen mit einem neuen Lied. Die Zusage der Gruppe Wonderwall liegt vor. Ein spannendes Bündnis, mit dem wir Generationen miteinander verknüpfen könnten. Erst ein einmal heiße, unsägliche Diskussionen über einen „Aufruf vom Friedensschiff“, die sich im Nachhinein als unwesentlich erweisen.
Unsere Nerven sind heißgekocht. Am Ende dann doch: Wir beschließen, das Schiff zu mieten und über einen solidarischen Eintritt (Vorverkauf) die ganze Aktion zu finanzieren.
15. Januar 2003
Wieder gemeinsamer Orga-Treff. Der Druck macht sich bemerkbar. Guttuend ist die Ruhe und positive Ausstrahlung von Klaus dem Geiger. Marc, Cornel und ich wollen keine Zeit mit zeitraubenden Diskussionen verplempern. Was wir nicht haben ist Zeit – dafür aber unglaubliche Energie. Wir geben Gas, wogegen die Formel 1 einfach langweilig ist. Langsam stabilisieren sich Zusagen und viele „Vielleichts“ und „Wahrscheinlichs“.
Große Enttäuschung: Konstantin Wecker, mit dem Cornel noch im Irak ein langes Telefongespräch geführt hatte, in dem er noch meinte, kommen zu können und zu wollen, muss absagen, da er wegen einem Konzert in München erst per Flieger frühestens am Ende unserer Aktion da sein könnte. Aber er verspricht uns, einen Text zu schreiben. – Wir bleiben voller Hoffnung und Kraft und geben den Vorverkauf zur Grundfinanzierung bei Köln-Ticket frei. Walter Jens sagt nach einem sehr schönen Telefongespräch zu, einen Text für uns zu schreiben.
17. Januar 2003
Die Pressemitteilungen sind alle raus und das Echo ist überwältigend. Sozusagen alle wollen kommen. Und noch einmal geben wir Gas, telefonieren, mailen, faxen.
Dann morgens der Schlag: Der Motorschaden des Schiffes, das wir gemietet hatten, ist nicht behoben. Das Schiff kann nicht fahren. Und die Gästeliste ist immer noch nicht ausreichend. Zwischendurch tauchten Namen auf, die sich dann aber als Absage erwiesen. Dafür gibt es aber eine Fülle von Glückwünschen und Unterstützungsadressen wie vom Walzerkönig André Rieu, Marcel Wüst und Jan Ulrich, Eugen Drewermann, Georg Uecker, Christiane Hörbiger… Einige Künstler*innen wollen absagen mit der Begründung, das könne nur peinlich werden und man verliere seinen guten Ruf.
Cornel, Marc, ich und Klaus der Geiger bleiben gelassen und halten unsere Aktion nicht für gefährdet, wollen weiterarbeiten. Doch stattdessen eine unsägliche dreistündige Diskussion. Wolfgang Niedecken hat sich eingeschaltet und bringt’s auf den Punkt: „Wir haben den ‚point of no return’ überschritten. Andererseits ist der Maschinenschaden ein plausibler Grund, die Aktion abzusagen“. Cornel, Marc, ich und Klaus der Geiger halten dagegen, weil wir überzeugt sind, dass wir gut sind und dass es weitere Zusagen geben wird. Wir sind unerschütterlich davon überzeugt, dass wir unser Ziel, die Menschen in Deutschland aus ihrer Lethargie zu wecken, erreichen können. Es knallt gewaltig. Klaus zwischendurch: „Wisst ihr wirklich, um was es geht? Es geht um Krieg!“ Schließlich nach zermürbenden Stunden der Beschluss: Ja, wir ziehen es jetzt durch. Und wieder eine Nachtschicht bis 4 Uhr morgens.
18. Januar 2003
Letzter Orga-Check-Treff wegen Arbeitsaufteilung usw. Das kürzeste Treffen, das wir je hatten. Es läuft. Die letzte Nacht.
Ich hocke am Bett meiner neugeborenen Tochter. – Großer Gott, ich bin Vater geworden! – Dieser Krieg darf nicht stattfinden, nicht in unserem Namen…
Nachtrag im Sommer 2008
Über fünf Jahre ist das jetzt her. Die Homepage der Lutherkirche ist inzwischen in ein neues Redaktionssystem eingebunden und professionalisiert worden. Dazu gehört – ganz wichtig – die Dokumentation unserer Aktivitäten. Meine Redakteurin Helga Fitzner fragt nach dem Friedensschiff, „triezt“ mich, will wissen. Schließlich gebe ich ihr den Ordner, in dem ich die Unterlagen von damals gesammelt habe. Und was macht sie? Sie will ausgerechnet meine persönlichen Notizen veröffentlichen. „Weil das authentisch ist“, sagt sie. „Man vergisst doch so schnell. Durch diese Tagebucheinträge werden diese Monate, in denen so zäh um Frieden gerungen wurde, noch einmal anschaulich.“
Heute weiß ich: Ohne Johannas Geburt und die unfassbare Lebenskraft, die in diesem Vater-sein-dürfen liegt, hätte ich nie die Kraft zu dieser Aktion gehabt, die Energie, das gegen alle Widerstände durchzuziehen, quasi zwei Wochen lang rund um die Uhr. Den Irakkrieg konnten wir nicht verhindern, aber wir haben ein Zeichen gesetzt. Deshalb habe ich im Juli 2008 noch den folgenden Zusatz verfasst:
Fazit für den Abend des 19. Januar 2003
„Ziel erreicht!“ – Alle bundesweit relevanten Medien waren auf dem Schiff akkreditiert und vertreten. Wie wir es wollten: Die Tagesthemen berichteten ausführlich. Der Funke zündete. Bundesweit gingen schließlich die Menschen auf die Straße, das ohnmächtige Schweigen war gebrochen. Aus Hamburg, München, Berlin riefen mich Friedensinitiativen zwecks Erfahrungsaustausch an. Menschen waren endlich in Bewegung gekommen.
Wunderbar fand ich auch die Reaktion von Udo Lindenberg, seine e-Mail am Morgen danach um 1.59 Uhr:„natürlich unterschreibe ich das kölner signal. sorry, dass ich erst jetzt antworte, komme grad aus athen zurück wg. jobs. habe gehört von eurem start mit dem schiff am sonntag. suuuper. lass uns morgen kontakt aufnehmen, was ich machen kann. mit logisch, solidarischen grüssen. da darf kein krieg stattfinden. udo lindenberg“. Danach hatten wir eine Reihe von nächtlichen Telefon-Gesprächen in guter Vertrautheit, woraus vielleicht neuer Widerstand entstehen könnte. Ich freute mich, so unerwartet einen neuen Bündnispartner zu finden.
Fotoserie auf Arbeiterfotografie.com