"Nous sommes Charlie"
Themengottesdienst am 11.01.2015
Zum Mord an den Karikaturisten von Charlie Hebdo - mit muslimischen Gästen
Am Vormittag des 7. Januar 2015 wurden in Paris zwölf Mitglieder des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ während einer Redaktionssitzung von mindestens zwei Attentätern ermordet. Der Grund soll Rache wegen islamkritischer Karikaturen gewesen sein. Die Täter waren Muslime und hatten freundlicherweise ihre Ausweispapiere im Fluchtwagen zurückgelassen. Aussagen können sie keine mehr machen, weil sie mittlerweile gestellt und erschossen wurden. Die wahren Hintergründe werden wir vielleicht nie erfahren.
Die Attentate und weitere Morde an Polizisten und Geiseln geben derzeit den fremdenfeindlichen Kräften Auftrieb, die an einer Spaltung der Gesellschaft interessiert sind. Wir trauern um alle gewaltsam Getöteten und mit deren Hinterbliebenen.
Die Muslimin Lale Akgün, die schon seit längerer Zeit mit der Lutherkirche verbunden ist, sprach während des Themengottesdienstes über ihre Einschätzung der Lage. Sie ist Psychologin und war u. a. als Integrationsbeauftragte tätig.
Hier geht es zum Mitschnitt der Improvisation von Text und Musik
mit Pfarrer Hans Mörtter und unserem Kantor Thomas Frerichs
Hans Mörtter
Lale Akgün war Bundestagsabgeordnete für die SPD. Aber es ist natürlich schwierig für eine etablierte Partei, so jemanden wie Lale auszuhalten (amüsiertes Gelächter). Sie denkt nämlich frei und sie redet frei. – Lale, geht es um Religion bei den Anschlägen in Paris? Was passiert da und warum passiert das? Warum gibt es junge Menschen, die so tödlich hassen?
Lale Akgün
Es geht um ganz vieles, es geht um Verzweiflung, es geht um Unwissenheit und es geht um Verführung. Verführung ist ein ganz wichtiges Stichwort. Ich bin überzeugt davon, dass die vielen jungen Terroristen von anderen, dem politischen Islam missbraucht und eingesetzt werden. Da man eine Ideologie haben muss, um etwas zu rechtfertigen, bietet sich Religion immer als Rechtfertigung an, auch für Gewalttaten. Gott ist die höchste Ebene, der man nichts mehr entgegenstellen kann. Und so wird im Namen Gottes gemordet.
Hans Mörtter
Wenn man die Herkunft der Attentäter auf die Redaktion von Charlie Hebdo berücksichtigt, sieht man, dass die alle aus prekären Verhältnissen stammen mit Armut und teilweiser Heimerfahrung, also eine lieblose Kindheit hatten. Dazu die Perspektivlosigkeit, was Ausbildung und Beruf angeht.
Lale Akgün
Ja, das ist richtig. Aber Perspektivlosigkeit ist noch keine Entschuldigung für Gewalt. Es gibt viele Kinder, die im Heim groß werden, aber da werden längst nicht alle gewalttätig. Ich habe hier in Köln lange in sozialen Brennpunkten gearbeitet, ich bin ja Diplom-Psychologin, und habe mit vielen prekären Familienverhältnissen zu tun gehabt. Es ging längst nicht allen Kindern gut, aber nicht alle Kinder waren empfänglich für Gewaltideologien. Perspektivlosigkeit kann mit ein Grund sein, aber es ist keine Entschuldigung. Natürlich sind Menschen, die aufgeklärt und gebildet sind, besser geschützt vor Rattenfängern, aber auch nicht immer. Es gibt auch gebildete Menschen, denken Sie nur an Atta, der 2001 den Anschlag auf das World Trade Center mit verübt hat, der war ein gebildeter Mensch. Wir versuchen im Nachhinein Erklärungen zu finden, warum Menschen so schreckliche Dinge tun, warum sie nicht ertragen können, dass andere Menschen eine andere Meinung haben. Mich macht es besonders traurig, dass gerade diejenigen, die versuchen dem Leben eine andere Perspektive abzugewinnen, mit ihrem Leben bezahlen müssen. Karikaturisten sind ganz besondere Menschen, sie sind Künstler, die künstlerisch das darstellen wollen, was das schönste Geschenk des Lebens ist: Das ist der Humor.
Hans Mörtter
Die Satire hält uns den Spiegel vor. Aber Menschen, die nicht über sich selbst lachen können, die haben ja keinen Humor. Trotzdem, wie kommt es, dass junge Menschen in den Nahen Osten in ein Ausbildungslager von Al Kaida gehen und sich zu Selbstmordattentätern oder tödlichen Kämpfern ausbilden lassen. Wo sind die Wurzeln davon? Wieso funktioniert das? Es ist zwar nicht die große Masse…
Lale Akgün
… es ist nicht die große Masse, es können aber auch ganz wenige unseren Alltag terrorisieren. Ich habe mir gestern überlegt, was passieren würde, wenn bei uns jemand die so genannten „weichen Ziele“ angreifen würde, ein Kaufhaus, eine Schule. Das würde uns in Angst und Schrecken versetzen und Entfremdung verursachen. Mir hatte nach 9/11 eine Freundin erzählt, dass sie die Straßenseite wechselte, als sie ein paar dunkelhäutige Männer auf sich zukommen sah. Die Saat der Angst geht auf und bringt Entfremdung in die Gesellschaft. Heute wird ja viel über den Ursprung des islamischen Terrors diskutiert. Da kann man an jedem Zeitpunkt anfangen, man kann, wenn man will, bis zu den Kreuzzügen zurückgehen. Das alles sind Erklärungsversuche, woher dieser Hass kommt. Bei allen Erklärungsversuchen müssen wir klarstellen – und ich sage das als bekennende Muslimin – dass sich diese Menschen auf den Islam berufen. Wir als Muslime und Musliminnen müssen uns mit dieser Frage auseinandersetzen. Wir dürfen nicht so tun, als hätte das alles nichts mit uns zu tun. Es ist unsere Pflicht und unsere Aufgabe zu sagen, es gibt eben Menschen, die den Koran ganz anders interpretieren, als wir es tun, die vielleicht verführt werden von bestimmten Ideologen, ihn gewaltsam auszulegen. Wir liberalen Muslime müssen dafür sorgen, dass wir uns mit unserer Sichtweise – nämlich der Sichtweise des friedlichen Islam – in der Gesellschaft eine größere Stimme verschaffen und noch viel mehr Muslime von unserer Sichtweise überzeugen. Meine große Befürchtung ist, dass solche Anschläge eine Entfremdung bringen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Deswegen bin ich sehr glücklich, heute hier sein zu dürfen, denn das zeigt mir, dass wir zusammenstehen, dass die Menschen, die gläubig sind und an einen liebenden und liebenswerten Gott glauben, dass die beieinander stehen. Und mir sind Christen und Christinnen, die an einen liebenden Gott glauben, natürlich viel näher als irgendwelche islamistischen Terroristen. (Applaus).
Hans Mörtter
Es ist mir auch sehr wichtig, dass wir seit circa zwei Jahren Seite an Seite stehen, im Hören aufeinander, und auch im Stellung-Beziehen in unserer Zeit und unserer Gesellschaft, um damit andere Signale zu setzen. Es sind nicht nur Mörder, Attentäter und Terroristen, die mit dem Islam argumentieren, da gibt es im Libanon Christen, die Massaker begangen haben. In Sabra und Schatila waren palästinensische Flüchtlingslager, die von der israelischen Armee bewacht wurden mit Panzern und Scheinwerfern. Da haben Christen unter den Palästinensern im Jahr 1982 ein Blutbad angerichtet und Kinder, Frauen und Männer mit Maschinengewehren ermordet. Das geschah im Namen des christlichen Gottes. Oder der chilenische Diktator Pinochet, ein Katholik, der sein eigenes Volk ermorden ließ, junge hoffnungsvolle Menschen. Das ist vorbei, aber für mich ist das noch nicht lange her. Dann Elisabeth Käsemann, die Tochter des bekannten Theologen Ernst Käsemann, die 1977 während der Militärdiktatur in Argentinien gefoltert und ermordet wurde. Die Verantwortlichen wurden erst vor wenigen Jahren verurteilt. Es ist nicht die Frage nach einer bestimmten Religion. Denn auch im christlichen und im jüdischen Glauben heißt es, „Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn“. Gleichzeitig aber „Du sollst nicht töten“. Wir müssen nur lernen, mit unseren Schriften umzugehen, sie zu verstehen, sie in den Kontext zu setzen und sie miteinander zu lesen und neu zu lesen. Ich glaube, das ist es.
Lale Akgün
Das kann ich unterstreichen. Wir „säkularen“ und demokratischen Gläubigen, – damit meine ich diejenigen, die die Trennung zwischen Religion und Politik und den Rechtsstaat akzeptieren und ganz wichtig: die Menschenrechte respektieren – wir müssen zusammenhalten und gegenüber den radikalen Kräften zusammenstehen. Bei jeder Religion ist es wie bei einer Medizin, es kommt auf die Dosis an. Wenn man die Dosis übertreibt, dann kann die Wirkung tödlich sein. Deswegen muss man immer wieder das Leben in den Mittelpunkt des Glaubens stellen. Das Leben, und sich verändernde Lebensweisen, müssen im Mittelpunkt des Denkens stehen. Damit muss sich auch Theologie dem Neuen anpassen, das heißt, ändern dürfen. Man kann nicht stur nur an Traditionen festhalten wollen und man darf nicht einer höheren Macht dienen wollen, koste es, was es wolle. Es ist so absurd, dass die Selbstmordattentäter meinen, sie würden durch ihre Taten Gott dienen. Der Glaube darf nie Menschenleben kosten. Er darf auch nicht dazu instrumentalisiert werden, andere auszuschließen. Es geht ja im Kleinen los, dass man Andersgläubige verachtet oder sich von ihnen entfernt oder Mauern baut, wo keine sein sollten. Immer nach dem Motto: wir sind anders, wir dürfen uns mit den anderen nicht gemein machen. Diese Sichtweise ist falsch, falsch, falsch. Man kann das nicht oft genug wiederholen. Wir sind alle Gottes Kinder. Wir müssen das Gemeinsame schon im Alltag suchen, indem wir einander besuchen und zusammen das Brot brechen. Das sind wichtige Dinge. Je fremder man sich fühlt, desto weniger kann man aufeinander zugehen. Wenn ich hier heraus gehe nach der gemeinsamen Taufe, werde ich eine andere sein. Das Taufkind hat mich wieder ein Stück verändert. Es ist wichtig, das zu verstehen, damit wir unsere Gesellschaft zum Guten führen können. (Applaus).
Hans Mörtter
Seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo geistert sehr viel durchs Internet. Zum Beispiel die Gegenüberstellung, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen, überfremdet zu werden. Allein das Wort Überfremdung, was für ein Schwachsinn. Im jüdischen und im christlichen Glauben ist der Fremde immer der, bei dem das Gastrecht heilig ist. Sei mir willkommen. Durch die Begegnung mir dir werde ich bereichert. Danke, dass du mein Gast bist.
Lale Akgün
Genau das ist es. Man kann überfremdet werden, wenn man das Fremde als fremd stehen lässt. Wenn man sich kennen lernt, ist der andere nicht mehr fremd und dann kann man auch nicht mehr überfremdet werden.
Hans Mörtter
Noch mal zur Gegenüberstellung. Es gibt in Deutschland 2400 Moscheen. Manche sind so klein mitten im Wohngebiet, dass man sie kaum sieht. Was das Christliche angeht, stehen dem 45.000 Kirchen gegenüber. Wie kann denn da einer auf die Idee kommen, Angst vor einer Übermacht zu haben. Angst kann nur der haben, der nicht weiß, wer er selbst ist. Der kann dem anderen ja auch nicht begegnen.
Lale Akgün
Das Wort Identität wird im Moment ein bisschen überstrapaziert. Ich glaube, dass man erst einmal sich selbst kennen muss, in sich selbst ruhen muss, um anderen die Chance geben, einander kennen zu lernen. Dieser Dialog macht uns eigentlich zu dem, was wir „social human beings“ nennen. Wir sind soziale Wesen, wir brauchen einander. Ich nehme die Angst der Menschen sehr ernst, ich bin Psychologin. Ich weiß, was Angst bedeutet. Angst ist etwas ganz Schreckliches, weil sie die Seele trifft und jede Hoffnung nimmt. Deswegen müssen wir diese Angst abbauen. Das geht nur, wenn wir die Mauern abtragen. Stück für Stück. Ich habe Angst vor dem Fremden, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet. Wenn ich über meinen Schatten springe und meine Tür öffne und der Fremde kann eintreten, dann sehen wir beide, wie viel wir an Gemeinsamkeit haben, viel mehr als Trennendes. Ich habe die Sure 5, Vers 48, die ich gerade vorgetragen habe, mit Bedacht ausgesucht. Ich glaube, dass jeder seinen Glaubensweg gehen kann und soll, aber es gibt im Prinzip nur einen Weg zu Gott. Wenn man das verstanden hat, dass es viele kleine Pfade sind, die wir Religion nennen, die aber auf den einen, großen Weg zu Gott führen, dann hat man das Trennende im Glauben überwunden. Wenn man aber denkt, dass es nur den einen richtigen Weg zu Gott gibt und dass die eigene Religion diesen Weg gepachtet hat, und die anderen sind auf dem Holzweg, dann kann es in einer multireligiösen Gesellschaft nicht gut gehen. Deswegen müssen wir diese Botschaft hinaustragen, dass es nur den einen Gott gibt. Und dass wir ein Stück des Weges gemeinsam gehen werden. Diesen Weg können wir beschreiten, wenn wir unsere Herzen öffnen (müssen). In Klammern „müssen“, weil wir unseren Kindern das Leben sehr schwer machen können, wenn wir ihnen nicht eine bessere Welt überlassen. Ich möchte, dass in 20, 25 Jahren in der Südstadt Frieden herrscht. Wenn wir jetzt unsere Herzen verhärten, wird es immer schwieriger statt besser.
Hans Mörtter
Für mich heißt das, das Gespräch zu suchen, die Begegnung. Wir haben in den letzten zwei Jahren ein paar Abende mit einem christlich-muslimischen Gesprächskreis veranstaltet und haben festgestellt, dass wir die Grundwerte miteinander teilen, dass wir sehr ähnlich ticken und dass die Gewänder und die Ausgestaltungen drumherum, das zu zelebrieren, auch eine ganz große Bandbreite haben von liberal bis traditionell. Aber der Nenner ist unglaublich stark. Es ist wichtig, gerade wenn ich die Pegida-Leute sehe, die in Dresden gefeiert haben: Das ist das Abendland, das ist unsere Kultur, skandierten sie, die konnten zum Teil aber die Weihnachtslieder gar nicht. Weil sie seit Ewigkeiten nicht mehr in die Kirche gehen, vielfach gar nicht getauft sind und mit dem christlich-jüdisch geprägten Abendland nichts mehr anfangen können. Sie haben das verloren.
Sie denken, dass sie bei Primark und anderen Billigläden ihre Identität kaufen könnten. Nein. Denn so verlieren wir sie. Ich bin jetzt auch sehr gespannt auf den Kölner Erzbischof Wölki, der gesagt hat, das Primark ein Verbrecherunternehmen ist. Ich habe im Weihnachtsgottesdienst gesagt: Das ist eine Filiale der Hölle, die hier eingerichtet worden ist. So wir aber im Gespräch miteinander unserer Werte wieder bewusst werden, was Menschsein ist und warum es heilig ist, dann können wir nicht zulassen, dass es solche Läden in unserer Stadt gibt. Da müssen wir reden mit allen, mit denen wir reden können. Die Begegnung muss viel größer werden. Und so finden wir unser Leben und auch Frieden und Gerechtigkeit wieder. Frieden und Gerechtigkeit bedingen sich ja.
Lale Akgün
Ich war letztes Jahr in Indien und habe dort in einer kleinen Stadt in der Nähe von Mumbai in einer Textilfabrik mitgearbeitet und auch mit den Menschen zusammen gewohnt. In ihren ganz, ganz kleinen Wohnungen, das kann man mit unserem Leben hier nicht vergleichen. Ich wollte sehen, unter welchen Bedingungen Kleidung dort produziert wird, die ich hier für billiges Geld kaufe. Wenn man das Leben dort gesehen hat, wird man kein Primark mehr betreten. Auch das war eine wichtige Begegnung. Wenn die Produktionsstätten so weit weg sind, in Indien, Bangladesch oder Vietnam, dann denkt der Konsument, die Klamotten würden morgens hier über Köln abgeworfen. So ist es aber nicht. Es sind Menschen, die unsere Gebrauchsgüter produzieren, und die ganz anders leben als wir. Auch das ist eine Frage der Aufklärung. Wenn ich nicht mit diesen Menschen gearbeitet hätte, hätte ich nicht erfahren können, unter welchen Bedingungen diese Textilien hergestellt werden. In einer solchen Situation versteht man besser, dass wir alle vor Gott gleich sind. Diese Menschen haben das Recht menschenwürdig zu leben, können es aber nur sehr bedingt. Sie haben mir ihre Türen geöffnet, es waren übrigens Hindu. Sie haben ihre 15 Quadratmeter Wohnung geöffnet, damit ich mit ihnen zusammen essen und wohnen konnte. Wir haben auch gemeinsam vor dem Altar Kerzen aufgestellt. Ich habe so viel Gemeinsamkeiten mit diesen Menschen dort entdecken können. Diese Erfahrung: wir sind alle Geschöpfe Gottes, wir sind alle gleich wert und gleich würdig. Das muss die Maxime sein für die nächsten Jahre. Ansonsten beuten wir die aus, die nicht die Chance haben, sich gegen ihre bestehenden Lebensbedingungen zu wehren.
Hans Mörtter
Danke, Lale.
Redigiert von Helga Fitzner, überprüft und ergänzt von Lale Akgün