SOS - Interview mit Hans Mörtter

 

 

Seenotrettung ist unverzichtbar

Die große Zahl von afrikanischen Flüchtlingen, die Jahr für Jahr im Mittelmeer ertrinken, haben Pfarrer Hans Mörtter von Anfang an bewegt. Er hat dies immer wieder in Gottesdiensten und Aktionen thematisiert.

Da die staatlichen Institutionen der Masse der Flüchtenden nicht gerecht werden konnten, haben sich immer wieder NGOs eingeschaltet und sind mit ihren Booten ausgelaufen, um nach Booten in Seenot Ausschau zu halten. Lebensrettung auf See ist gesetzlich vorgeschrieben und auch von menschlicher Seite her eine Selbstverständlichkeit, wenn man dazu in der Lage ist. Die Boote und Mannschaften der NGOs erfüllen genau diese Voraussetzungen.

Doch etliche der Retter und Retterinnen wurden kriminalisiert, wie Elias Bierdel und Stefan Schmidt von der Cap Anamur im Jahr 2004, die erst 2010 frei gesprochen wurden. Andere folgten, wie Pia Klemp, die Kapitänin der Seawatch 3, und ihrer Crew, denen Haft und astronomische Geldstrafen drohten.

Das rief Pfarrer Hans Mörtter erneut auf den Plan, der eine medien- und publikumswirksame Aktion in die Wege leitete. Hans Mörtter und Pia Klemp traten öffentlich in der Kölner Philharmonie auf, wo sich 2019 viele Künstler und Künstlerinnen zu einer Benefizveranstaltung einfanden. Wegen des großen Erfolges wurde „SOS – Save Our Souls“ im Jahr 2020 in anderer Besetzung wiederholt. Im September 2022 geht es aufgrund der unveränderten Sachlage in die dritte Runde.

Dieses Interview entstand 2019 vor dem ersten Event in der Kölner Philharmonie und Hans Mörtter geht darin näher auf seine Beweggründe und die allgemeine Sachlage ein.
Text: Helga Fitzner

Herr Mörtter, was soll bei Veranstaltung SOS – Save Our Souls genau geschehen?

In der Kölner Philharmonie geht es grundsätzlich um die Solidarität mit der Seenotrettung. Wir wollen deutlich zeigen: „Wir sind hier! Wir sind anwesend! Wir spenden nicht nur, wir sind leibhaftig da und stehen für die Rettung von Menschen ein, die vom Ertrinken bedroht sind“. Das ist ein politisches Signal in die Gesellschaft hinein und nach Berlin zur Bundesregierung.

Aber die Seenotrettung ist doch angeblich kriminell.

Sterben lassen, ist kriminell. Man darf laut internationalem Seerecht keinen Menschen bewusst ertrinken lassen. Wenn ich jemanden in Seenot sehe, muss ich retten, sonst werde ich angeklagt. Es ist ein Verbrechen, das zu unterlassen. Das heißt ganz klar: Unsere Regierung, unser Europa, begeht ein Verbrechen, wenn es Menschen bewusst ertrinken lässt. Wenn wir das am 3. Oktober 2019 thematisieren, ist es mir nicht so wichtig, hohen Eintritt zu verlangen. Es gibt Leute, die sagen, dass die 15 Euro pro Karte zu wenig sind, aber an der Stelle geht es erst einmal nicht ums Geld, sondern um die praktizierte Solidarität. Die angeklagte Kapitänin Pia Klemp, die stellvertretend für viele Seenotretter:innen auf der Bühne stehen wird, soll merken, dass sie nicht alleine ist. Bei Sea Watch gehen viele Spenden ein, das ist sehr wichtig, aber es ist eine andere Energie, wenn etwas über ein Bankkonto kommt, als wenn Menschen tatsächlich anwesend sind. Wir haben richtig tolle Künstler und Künstlerinnen, die für sie auftreten, sich zu ihr bekennen, sich mit ihr die Bühne teilen und bis zu 2.200 Menschen im Publikum, die mit ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Präsenz zeigen: „Pia Klemp, du und deine Leute, ihr seid nicht allein! Wir stehen an eurer Seite, stärken euch den Rücken“. Das wollen wir sie spüren und sehen lassen. Die dort anwesenden Menschen stehen für Hunderttausende im Land, das ist das Besondere an dieser Geschichte. Es ist keine politische Kundgebung, keine richtige Benefiz-Veranstaltung und viel mehr als eine Solidaritätsgeschichte.

Ist die Anklage nicht völlig überzogen?

Die Pia steht mit zehn ihrer Crew-Mitglieder in Italien wegen angeblicher Schlepperei unter Anklage und wird mit 20 Jahren Haft und einer Strafe von 15.000 Euro pro gerettetem Menschenleben bedroht, Gesamtsumme um die 210 Millionen Euro, und die stehen einem riesigen juristischen Apparat gegenüber. Sie müssen selber alles aufbringen, um dagegenzuhalten. Es geht um internationales Seerecht, um italienisches Recht usw.

Das ist nicht das erste Mal, dass Sie sich für solche „Kriminellen“ einsetzen.

Ich habe das vor schon 10 Jahren bei Elias Bierdel erlebt, als der mit der Cap Anamur Leben rettete und unter Anklage gestellt wurde, das hat ihn sehr mitgenommen. Das ging über einen langen Zeitraum hin und her und war sehr strapaziös. Das frisst auch an der Seele. So eine breite Solidarität hat der Elias damals nicht erlebt. Ich freue mich auch darüber, dass wir diesen klaren Titel haben: SOS – Save Our Souls. Im Augenblick verlieren wir unsere Seelen, wenn wir das Ertrinken zulassen. Für mich sind das Helden und Heldinnen, die so etwas machen. Man fährt ja nicht so ohne Weiteres mit einem relativ kleinen Schiff im Meer herum und setzt sich dann in kleine Boote, um die Lei eute aus dem Wasser zu fischen oder zu sehen, wie sie vor den eigenen Augen ertrinken.

Was ist passiert, dass das, was Recht ist, keins mehr ist?

Dahinter steckt eine große europäische Angst. Dann die fehlgeleitete Einschätzung, dass unsere Lebensart es wert ist, dass andere dafür leiden oder sterben, dass sie in Armut leben und den Klimaveränderungen ausgesetzt sind, dass sie kein Recht auf sauberes Wasser haben usw. Wir sind zu einem großen Teil die Verursacher der Not in Afrika, z. B. durch Waffenexporte dorthin. Die haben ja Gründe, dass sie flüchten. Die Seenotretter:innen werden bezichtigt, dass sich durch ihre Einsätze noch mehr Menschen aufs Mittelmeer wagen…

… stellen wir uns einfach mal vor, dass es möglich wäre, dass tatsächlich nicht ein einziger Bootsflüchtling gerettet werden könnte, sie also dem sicheren Tod ausgesetzt wären, würden die es trotzdem wagen?

Die würden trotzdem kommen. Das haben sie ja immer gemacht. Die Italiener haben 2013 mit Mare nostrum angefangen, die Flüchtlinge zu retten und versuchten auch, die wirklichen Schlepper zu erwischen. Leider wurde die Aktion nach einem Jahr abgesetzt. Die Italiener merkten, dass die anderen europäischen Länder sie im Stich ließen und sie das nicht mehr allein bewerkstelligen konnten, inklusive der Aufnahme der Menschen.

Die Flüchtlinge sind trotzdem gekommen.

Wenn jemand sich in extremer Not und Ausweglosigkeit befindet und ihm klar ist, dass er keine Zukunft hat, weil in seinem Land Krieg, Verfolgung, Folter oder Dürre herrscht, dann flieht er, weil er für sich und seine Familie eine Zukunft sucht. Die wollen nicht sterben, die wollen leben und riskieren dafür ihr Leben. Es sterben schon Tausende auf dem Weg durch die Wüste, bevor sie noch am Meer angekommen sind, weil sie verdursten, Menschenhändlern, Organhändlern zum Opfer fallen. Sklaverei ist wieder im Vormarsch. Schon lange vor der Mittelmeerküste ereignen sich bereits Tragödien. Die Bootsfahrt ist der letzte Albtraum von vielen. Der Seenotrettung wird unterstellt, dass sie zu einer Massenflucht anregt und das entspricht nicht der Realität: Das ist gelogen!

Wie viele NGO Seenotrettungsschiffe sind eigentlich unterwegs?

Ich weiß es nicht. Es gibt wohl um die 12 Schiffe, die sich dort befinden, aber erst gestern wurde wieder eins beschlagnahmt.

Zwölf Schiffe im riesigen Mittelmeer?

Es geht um eine bestimmte Zone vor dem libyschen Küstenraum. Das ist die kürzeste Passage, alles andere ist noch viel gefährlicher. Doch irgendwann werden die Menschen auf die gefährlicheren Routen ausweichen müssen, dann werden wir noch mehr Ertrunkene haben.

Wie kann man denn die Fluchtursachen bekämpfen?

Fluchtursachen kann ich nur bekämpfen, wenn ich dafür sorge, dass Menschen in ihren Ländern, in ihrem Kontext eine Chance auf Zukunft haben: Wasser, Nahrung, Bildung, Arbeit, Unabhängigkeit, Selbständigkeit… Das alles ist vielen verloren gegangen, weil wir ihre Rohstoffe für unsere Smartphones und andere Technik brauchen. Auch ihr Land wird mehr und mehr unter internationalen Konzernen aufgeteilt.

Man müsste den Afrikaner:innen nur die Chance lassen, sich selbst zu organisieren. 

Es gibt in Afrika ungeheuer viele gebildete und intelligente Menschen, Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Wirtschaftswissenschaftler: Da ist ein Riesenpotential an Männern und Frauen, mit denen man zusammenarbeiten könnte, die auch selber für ihr Land sorgen könnten und uns gar nicht brauchen. Wir müssen sie nur in Ruhe lassen oder sie an der Stelle stärken, an der sie unsere Unterstützung brauchen. Wir müssten ein Interesse daran haben, dass es Afrika gut geht und es nicht darauf reduzieren, billiger Rohstofflieferant oder Absatzmarkt für uns zu sein und sie in sklavenähnlicher Abhängigkeit von uns zu halten. Aus dieser von uns geschaffenen Not fliehen die Menschen, und wohin: zu uns.

Aha! Aber die Seenotretter:innen sind alles schuld!?

Das wird irgendwie behauptet. Da sieht man mal, wie billig das ist. Mir hat mal jemand gesagt, dass die Flüchtlinge selber schuld seien, die wüssten doch, in welche Gefahr sie sich begäben: „Die sind verantwortlich für ihr eigenes Ertrinken. Jeder Mensch ist für sein eigenes Schicksal verantwortlich“. Damit kann man jegliche Mitverantwortung bequem zurückweisen.

Doch jede:r Gerettete ist der Beweis dafür, dass die unrecht haben und jede:r Gerettete ist auch eine Anklage: Wenn es nach dir gegangen wäre, hättest du mich ertrinken lassen. Wenn man bedenkt, dass allein Pia Klemp und ihre Crews 14.000 Menschen gerettet haben…

… die wären sonst tot. Jeder dieser Menschen hat einen Vornamen, einen Nachnamen, eine Mutter, eine Familie. Er/sie hat Sehnsucht, Liebe und Hoffnung. Manchmal sind wir uns gar nicht bewusst, wie kostbar ein einzelner Mensch ist. Wir reden immer über Zahlen, wenn z. B. 358 Menschen ertrunken sind. Das sind 358 Individuen.

Viele schätzen sie nicht, weil sie sie für traumatisierte Hungerleider halten.

Es sind Menschen!

 

Pia Klemp beschreibt in ihrem Roman „Lass uns mit den Toten tanzen“,  dass die Protagonistin gar nicht weiß, ob sie die von ihr Geretteten überhaupt mögen würde.

Muss sie ja nicht. Sie muss die Leute nicht mögen, hier geht es erst einmal um Rettung. Was dann anschließend ist, steht auf einem anderen Blatt. Ob sie überhaupt die Berechtigung für Asyl erfüllen, kommt danach. Die Retter:innen wissen nicht, ob ein Geretteter in irgendeinem europäischen Land eine Zukunft haben wird oder was sonst mit ihm ist.

Wenn man sich vorstellt, welche enorme Verantwortung die Seenotretter:innen auf sich nehmen, fällt das schon schwer, weil das einfach richtig groß ist. Doch wenn man es mal verkleinert und mit der Verantwortung pflegender Angehöriger oder alleinerziehender Elternteile vergleicht, kommt man dem vielleicht näher. Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie sich entschieden, Notfallseelsorger zu werden? Sie haben damals gesagt, es machen zu müssen, weil Sie in der Lage sind, es tun zu können.

Da war damals ein Moment erreicht, wo ich tätig werden musste. Notfallseelsorge und Seenotrettung haben vielleicht ein paar Ähnlichkeiten. Ich erlebe seelisch Ertrinkende in ganz schlimmen oder bedrohlichen Situationen. Immer wenn da etwas gelungen ist, so anstrengend das auch gewesen sein mag, erfüllt das auch mit Glück. Auch wenn man total erschöpft ist und lieber mal schlafen möchte. Wenn ich es nicht machen würde, wüsste ich nicht, was für eine Bereicherung das ist. Denn die Begegnung mit dem Existentiellen, dem Sterben, der Hoffnung auf eine Zukunft, das Leben wieder zu finden, macht einen innerlich reicher. Ich glaube schon, dass ich dadurch stärker und souveräner geworden bin und habe auch ganz viel für mich selbst gewonnen. Die eigene Persönlichkeitsentwicklung beschleunigt sich dadurch.

Sie gehen davon aus, dass jede:r etwas tun könnte?

Das versuche ich in der Kölner Philharmonie auch hinzubekommen: Wir sind viele und wir sind eine große Kraft. Und jetzt schaut jede:r von uns: Was kann ich denn tun? Dazu muss ich auf kein Schiff gehen, mich aber fragen: Was kann ich insgesamt dafür tun, dass sich Einstellungen in unserem Land ändern?

Ich habe Thomas Scheible aus der Südstadt zum Talkgottesdienst eingeladen. Der ist seit Jahren auf der Sea Watch unterwegs. Wann immer er Zeit hat, fährt er raus, sofern die Sea Watch 3 ablegen darf. Der ist Bootsführer, er fährt eines der kleineren Boote, und er hat Wahnsinniges gesehen, aber das spornt ihn eher an, er lässt sich da nicht klein kriegen. Jede:r Gerettete treibt ihn an, noch mehr zu retten. Es gibt sicher auch Leute, die das einmal gemacht haben, und dann erkennen, dass sie das nicht schaffen. Da ist jeder Mensch anders gestrickt. Es ist gut, wenn sich jede:r da engagiert, wo er/sie kann. Seenotrettung besteht nicht nur aus den Crews der Schiffe, sondern auch aus allen, die organisieren, spenden und sich für die Seenotrettung einsetzen, wie die Seebrücke, ohne auf den Schiffen mitzufahren. Die sind auch ein ganz wichtiges Rückgrat. Wenn ich mich engagieren will, muss ich schauen, was und wie viel ich verkraften kann, was ich kann und was nicht, und dementsprechend meinen Platz finden. Das muss keiner alleine tragen, aber ich kann Teil eines bedeutsamen Ganzen werden.

Auch wenn ich in der Philharmonie für 18 Euro sitze.

Genau. Das auch. In der Philharmonie dabei zu sein, ist auch eine Art von Seenotrettung.

Wie kann es sein, dass diejenigen, die die Judikative und Exekutive inne haben, Gesetze erlassen oder befolgen, die internationalem Seerecht, Menschenrecht, jeglicher Ethik und jeglichem Humanismus widersprechen? Das sind gewählte Regierungen, das ist unsere EU, wir sind Friedensnobelpreisträger:innen, was ist da passiert?

Darauf habe ich auch keine richtige Antwort, wie man so seine Seele verlieren kann. Wie kann man derart seelenlos Politik machen und dann immer Sachgründe vorschieben? Ganz oben hat die Kostbarkeit des Lebens zu stehen. Wenn man das von einem spirituellen Standpunkt aus sieht: Das Leben ist heilig! Das des Menschen und das des Baumes ebenfalls. Aber wir industrialisieren alles. Wir haben die Tiere industrialisiert, wir fischen die Meere leer mit riesigen Fabrikschiffen, wir verbrennen die Wälder, um Soja für Tierfutter oder anderes anzubauen, wir beuten die Bodenschätze aus. Es findet eine totale Industrialisierung des Planeten und unseres Menschseins statt und in diesem Rahmen scheint es egal zu sein, dass da im Mittelmeer Tausende von Menschen ertrinken. Die werden als Hindernisse gesehen. Es wird alles seinem industriellen Verwertungszweck und Nutzen untergeordnet und dadurch geht uns unser Menschsein verloren.

Wenn wir das alles wissen und nichts tun, was macht das mit uns?

Dann tragen wir die Verantwortung dafür mit. Eindeutig.

Dann sind nicht nur alle Politiker:innen, alle Lobbyisten:innen, alle Anwälte:innen etc. verantwortlich, sondern auch diejenigen, die das widerstandslos geschehen…

… jeder einzelne von uns. Ich kann mir gut vorstellen, dass uns irgendwann unsere Kinder oder Enkelkinder fragen werden, warum wir damals geschwiegen haben. Warum habt ihr das alles zugelassen, warum habt ihr euch nicht gewehrt? So wie wir 1968er unsere Eltern gefragt haben, so werden unsere Nachkommen uns fragen. Und die werden gnadenlos fragen, weil das alles gnadenlos ist.

Diejenigen, die die NGOs massiv an der Seenotrettung hindern, sind für den Tod vieler Menschen hauptverantwortlich.

Ich versuche da zu differenzieren. Für mich gibt es nicht DIE Wirtschaft, DIE EU, sondern die bestehen aus Individuen. Wo sind da Menschen, die bereit sind zu denken, zu reden und nach unserer Welt und unserem Miteinander zu fragen? Die gibt es auch. Das Bündnis der Mutigen, die bereit sind, nach anderen Wegen zu suchen. Dabei sollten nicht die finanziellen Mittel im Vordergrund stehen, sondern die Achtung vor dem Leben des Anderen, egal wo er auf dieser globalen Welt lebt. So wie wir in Europa leben, hat das Auswirkungen auf Afrika. Wir sind alle miteinander verbunden. Wie setzen wir das in ein Miteinander-Leben um in Liebe statt in Krieg?

 

Welche Erwartungen haben Sie an die Veranstaltung SOS – Save Our Souls?

Da bin ich offen. Ich will erst einmal einen Stein ins Wasser werfen, der dann Kreise zieht und sich verselbständigt. Wenn alle Plätze besetzt werden, dann sitzen im Publikum 2200 Menschen. Die bringen ja etwas mit. Die werden bewegt sein, die werden noch stärker verbunden sein und die werden in ihren Kreisen darüber reden. Das kann sich unwahrscheinlich vervielfältigen. Das wird auch durch die Social Media gehen. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung mitbekommen wird, dass da ein Aufstand stattfindet, dass da wie bei Fridays for Future die Jugendlichen nicht nur sagen, dass sie die Klimapolitik geändert haben wollen, die fordern und erwarten das. Sie gehen auf die Straße, man kann sie sehen. Sie werden sichtbar und zeigen, dass sie da sind. Die Regierenden werden sich darauf einstellen müssen, dass wir als Bürgerinnen und Bürger ab jetzt immer da sind, wir werden mehr und mehr da sein und zwar unübersehbar und unüberhörbar. Das ist die neue Dimension, in der wir uns befinden. Wir reden nicht nur, wir lassen uns blicken und stehen für etwas ein. Füreinander, miteinander, Seite an Seite und das ist es, was uns Energie und Kraft verleiht. Wir sind nicht ohnmächtig, das ist der entscheidende Punkt. Wir wollen Pia Klemp und alle Seenotretter*innen spüren lassen, dass sie getragen werden. Die sollen noch mal von ganz anderer Seite Unterstützung und Kraft geschenkt bekommen, um weiter agieren zu können. Das ist letztendlich auch eine Beauftragung durch uns. Das macht ihr auch für uns. Wenn Pia wieder auf ein Schiff gehen könnte, würden sie mit 100.000 Menschen im Rücken gehen. Vereint in diesem Bewusstsein. Ich glaube, sie würde ganz anders auf der Brücke stehen. Die Auswirkung dieser Veranstaltung wird hoffentlich viel komplexer und größer, als wir denken.

Das ist ein kreativer und künstlerischer Ansatz.

Ein Bekenntnis zum Leben auf hohem künstlerischen Niveau. Ich finde auch, dass ohne Kunst gar nichts mehr geht. Das wirkt manchmal besser als kluge Reden. Die Musik erreicht uns auf tiefere Art, sie steht fürs Echte, wie die Pia Klemp fürs Echte steht.

Wo steht die Politik?

Hm. Die Politik kann nur aufwachen.

Die machen das nicht extra?

Ja, die wissen, was im Mittelmeer passiert. Sie nehmen das in Kauf und erfüllen den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung.

Wie konnte es soweit kommen? Italien hat es versucht und wurde im Stich gelassen. In diesem Sommer haben so viele Leute in so vielen Kölner Restaurants gesessen und ließen es sich gut gehen. Das soll niemandem in Abrede gestellt werden und es ist sehr wichtig, dass man solche Momente hat, aber viele blenden die globalen Probleme des Planeten völlig aus und sonnen sich in einem Wohlstand, der durch den Zustand des Planeten durchaus gefährdet ist.

Das ist die Angst davor, überfordert zu werden, wenn ich mir vollends bewusst werde, was in der Welt passiert. Dann schaltet man halt ab. Das ist ein Rückzug aus Angst vor dem Schmerz und der Trauer. Wenn ich den Schmerz aber nicht zulasse, kann ich auch das Glück nicht empfinden und verliere dadurch eine gewaltige Lebensdimension. Wenn ich etwas aus meinem Leben ausblende und es mir reicht, im Restaurant zu sitzen und Smalltalk zu betreiben, dann geht mir auch etwas verloren. Das reicht aber nicht, das ist zu billig.

Aber in dem Moment, in dem ich anerkenne, dass da ein Problem ist, bin ich auch gezwungen zu handeln. Da muss ich dann schon mal aus meiner Komfortzone heraus.

Aber gleichzeitig bekomme ich dadurch einen Mehrgewinn an Leben. Ich lerne Neues, ich lerne neue Menschen kennen, wir bewähren uns miteinander. Wir scheitern und wir siegen. Und wir tun es gemeinsam. Ich sitze nicht nur herum und mache Smalltalk. Für mich gehört zum Leben auch das Engagement.

Wie hat das bei Ihnen angefangen?

Das nimmt man sich nicht vor. Ich bin da hereingerutscht. Ich war als Jugendlicher ständig Klassensprecher, Schülersprecher, Vertrauensschüler usw. Da habe ich den Aufstand gelernt, für andere, weil ich deren Sprecher war. Ich habe den Kopf hingehalten, während die anderen geschwiegen haben. Dadurch habe ich aber früh gelernt, dass Schweigen falsch ist. Das war ein frühes Hineinwachsen in den Widerstand, aber auch ins Menschsein. Das Recht eines jeden Menschen auf Zukunft, auf Chancen und Raum einzufordern.

Muss das anarchisch oder radikal sein?

Überhaupt nicht, aber manchmal gehört auch das dazu, wenn kein Kompromiss möglich ist.

Ist das dann nicht eher Konsequenz als Anarchie?

Ja. Konsequenz. Und sich nicht beirren zu lassen, nicht einzuknicken. Standhalten und dran bleiben, wenn etwas nicht gelingt. Dann suche ich mir Verbündete, mit denen es gelingt. Früher habe ich manchmal geglaubt, dass ich die Dampfwalze bin und alleine da durch muss. In den Nach-1968ern war das nötig, weil es sich um völlig erstarrte Systeme handelte. Heute mache ich das mit Verbündeten und tue mein Bestes, klug zu handeln, Perspektiven und Strategien zu entwickeln, zu organisieren. Das bekomme ich mit Anarchie nicht hin. Ich muss lernen, meinen Platz zu finden und einzunehmen, das Leben auf diesem Planeten zu bewahren. Man muss dazu nicht auf ein Schiff, man kann Baumretter werden oder Insektenhotelbesitzerin.

Wie haben Sie Pia Klemp kennen gelernt?

Bei einer Veranstaltung „Ein Europa für alle“. Da war ich im Organisationsteam und habe mich backstage mit ihr unterhalten können und später noch mal ausführlicher hier in der Südstadt. Die Chemie stimmt, wir verstehen uns, ohne viel erklären zu müssen.

Glauben Sie, dass sich in für uns noch erlebbarer Zeit etwas verbessern wird?

Es wird sich auf jeden Fall etwas ändern, zum Guten oder zum Schlechten. Noch haben wir es in der Hand.

Wenn wir den Planeten nicht behüten, gehen wir dann mit ihm unter?

Ganz genau. (Eher scherzhaft) Dann fliegt uns der Planet um die Ohren. – Für mich ist ein ganz wesentlicher Aspekt, auf der ganzen Welt die Bildung zu fördern. Wir müssen nicht Waffenmunition, sondern die Bildung explodieren lassen. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die kaum eine Chance haben, weil sie in Milieus leben, in denen Bildung keinen Wert hat und nicht gefördert wird. Auch das sind kostbare Menschen, die wir nicht aufgeben dürfen. Die Aufgaben sind vielfältig. Manchmal hilft es in der unmittelbaren Umgebung Veränderungen zu schaffen. Ich habe einen Freund, Arne Thies, der eine Möglichkeit entwickelt hat, wie  Dörfer ihre eigenen Brunnen in Benin bauen können. Und zwar selbständig und mit dem, was die Ärmsten mit ihrer Hände Arbeit leisten können und an Rohmaterial zur Verfügung haben. Wenn sie das gelernt haben, übernehmen sie Verantwortung dafür und geben das weiter. Wenn Dörfer sauberes Wasser haben, leben sie gesünder, können etwas Ackerbau betreiben und somit fällt eine Fluchtursache schon mal weg.

Sie sagten vorhin, dass es nicht DIE Politiker und DIE EU gibt. Sie stehen mit vielen im Dialog.

Auch da hängt das vom Individuum ab. Nehmen wir Horst Seehofer, der früher ein massiver Gegner war und sich nun zögerlich dafür einsetzt, dass die von den Seenotretter:innen aufgenommenen Flüchtlinge in Europa aufgenommen und verteilt werden. Mit dem ist eindeutig was passiert. Ich glaube schon, dass die ständigen Proteste und die entsprechende Berichterstattung damit zu tun haben. Vielleicht wird er ja als Politiker eines Tages eine Art Rechenschaft ablegen, wenn auch nur vor sich selbst, mehr noch als Privatpersonen. Ich glaube insgesamt, dass die Botschaft der Aktivisten und Aktivistinnen durchaus in der Politik angekommen ist.

Jetzt wollen wir das Interview aber nicht wirklich mit Horst Seehofer enden lassen?

Irgendwie schon. Wir müssen ins Boot holen, wen immer wir kriegen können, dass gilt im realen wie im übertragenen Sinne. Es ist an der Zeit, jenseits der Klischees zu denken, innerhalb derer wir uns bisher bewegt haben. Und zu handeln. Ich bin nicht pessimistisch eingestellt.

In diesem Sinne ist das Rettungsboot wenigstens halb voll.
Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Helga Fitzner am 4. September 2019

 

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