Tangogottesdienst am 7. Juli 2019

Zu Gast: Marco Jesse, der Geschäftsführer von VISION e.V. Verein für innovative Drogenselbsthilfe

Der diesjährige Tangogottesdienst hatte das Thema Drogensucht und Visionen für einen möglichen Ausstieg. Unser Gast Marco Jesse ist der Geschäftsführer des VISION e.V. – Verein für innovative Drogenselbsthilfe und er sprach über die Arbeit des Vereins, die derzeitige Lage und die Menschen, mit denen er zu tun hat. Als ehemaliger Betroffener kann er sich besonders in die Situation Drogenabhängiger hineinfühlen und kompetent beraten. Pfarrer Hans Mörtter befragte ihn besonders über die Bedingungen am Kölnberg in Meschenich.

Ezequiel Quiroga, der Leiter des Don Tango Club Köln e. V tanzte mit Beate Hartmann wunderbare Tangos. Das Orchester Südstadt Tango, dieses Mal unter Leitung von Sebastian Reimann, spielte wunderbare Tangomelodien und deren Pianistin Miharu Inayama begleitete auch noch die Gottesdienstlieder am Klavier.

Text: Helga Fitzner
Fotos: Sonja Grupe
Tonaufnahme: Bonny Engelmann

Marco Jesse und Hans Mörtter im Dialog

Das verschüttete Recht Drogenabhängiger auf menschenwürdigen Umgang

Hans Mörtter
Der Tango ist vor langer Zeit am Rio de la Plata entstanden. Es waren Menschen, die Europa verließen, weil sie dachten, dass sie in Argentinien eine Chance haben, dort aber nur Ausgestoßene der Gesellschaft waren. Daraus entstand der Tango unter Prostituierten, Arbeitslosen und einfachen Menschen, die die Musik entwickelten, sich dazu bewegten und in ihrer Bewegung ihre Würde ausdrückten, ihre Sehnsucht, ihre Hoffnung. Der Tanz drückt das Wissen aus, dass die Seele unsterblich ist und dass wir Menschen sind. Im Tango erstrahlt die Würde des Menschseins. Das macht seine Faszination aus.
Ich freue mich sehr, dass Marco Jesse, der Geschäftsführer des Drogenhilfe VISION e. V. so spontan zugesagt hat, heute über das Thema Drogenabhängigkeit zu sprechen. Ihr arbeitet als Sozialarbeiter:innen mit Drogenabhängigen in der Stadt, u. a. auch am Kölnberg in Meschenich. Was macht ihr da genau?

Marco Jesse
Erst einmal vielen Dank für die Einladung. Ich mache das immer gerne, über unsere Arbeit und die Menschen zu sprechen, mit denen wir zu tun haben, besonders in diesem tollen Rahmen. Der Verein ist vor rund 30 Jahren aus der Selbsthilfe entstanden unter dem Namen Junkie Bund Köln e. V. und wurde 2008 in VISION e. V. – Verein für innovative Drogenselbsthilfe umbenannt. Wir arbeiten in erster Linie mit Konsument:innen sogenannter harter Drogen wie Heroin, Kokain und Amphetaminen und verfolgen dabei einen akzeptierenden und respektierenden Ansatz. Dazu betreiben wir zwei niedrigschwellige Kontakt- und Anlaufstellen, eine in Kalk, eine am Kölnberg in Meschenich. Niedrigschwellig bedeutet dabei, dass die Leute einfach in die Einrichtung kommen können, ohne an ihrem Konsum zu arbeiten o. ä. Einfach um ihre täglichen Bedürfnisse zu decken, wie essen, trinken, duschen, sich in der Kleiderkammer auszustatten oder neue saubere Konsum-Utensilien zu bekommen. Viele unserer Besucher:innen sind postalisch bei uns gemeldet oder haben ein Klientenkonto, über das ihr Geld verwaltet wird. Darüber entstehen Beziehungen zwischen den Mitarbeiter:innen und den Besucher:innen, aus denen sich unter Umständen alles Weitere entwickeln kann. Ergänzt wird die Kontaktladenarbeit durch sozialarbeiterische und sozialpädagogische Angebote wie psychosoziale Begleitung und ambulant betreutes Wohnen. Zudem machen wir Streetwork und suchen auch im Rahmen von Präventionsarbeit Schulen und Ausbildungsstätten auf. Das Besondere an VISION e.V. ist, dass wir uns auch nach 30 Jahren nach wie vor vorrangig als eine Selbsthilfeeinrichtung definieren, in der Kolleg:innen mit den unterschiedlichen Zugängen – Betroffenenkompetenz oder akademische Ausbildung – gleichberechtigt und auf Augenhöhe zusammenarbeiten.

Hans Mörtter
Was hat es mit der Betroffenenkompetenz auf sich? Das ist ein altbewährtes Prinzip, weil man am besten aus der Praxis lernt. Das bedeutet, dass jemand mit ähnlichen Erfahrungen da am besten helfen kann.

Marco Jesse
Genau so ist das zu verstehen. Die eigene Erfahrung erleichtert in vielen Fällen die erste Kontaktaufnahme, weil Erklärungen überflüssig werden und die Lebensumstände nicht nur verstanden, sondern nachgefühlt werden können. So entsteht eine besondere Nähe. Durch die Mischung der unterschiedlichen Zugänge bekommt unsere Arbeit so eine besondere Qualität. Die Kolleg:innen mit Betroffenenkompetenz finden sich dabei auf allen Ebenen. Das geht bei mir in der Geschäftsführung los, betrifft aber auch alle anderen Bereiche, in denen dies möglich ist. Ich habe selber über viele Jahre Heroin konsumiert und den Ausstieg über ein ähnliches Projekt wie unseres geschafft, eben weil da nicht in erster Linie darauf geguckt worden ist, was ich konsumiere und wie häufig, sondern was ich sonst mitbringe, als Mensch. Das war für mich eine ganz wichtige Erfahrung, das erste Mal nach Jahren nicht nur als Drogenabhängiger gesehen zu werden, sondern als Marco, mit allem, was dazugehört. Erst dann konnte ich mich überhaupt dem anderen Bereich widmen und mich da weiterentwickeln. Das können wir auch bei unseren Besucher:innen immer wieder beobachten. Wir haben ein Arbeitsprojekt, in dem auch aktiv konsumierende oder Substituierte (Menschen in ärztlicher Ersatzstoffbehandlung) mitarbeiten können. Abstinenz wird nicht vorausgesetzt. Wichtig ist nur Absprachefähigkeit und Zuverlässigkeit. Die Teilnehmer*innen stabilisieren sich dann häufig über die Arbeit und machen damit auch wieder einen Schritt zurück in die Gesellschaft.

Hans Mörtter
Du hast gesagt, ein wesentliches Kriterium für den Ausstieg war die bedingungslose Anerkennung als Mensch. Das ist doch ein wichtiger Faktor, um überhaupt eine Chance zu haben, da herauszukommen.

Marco Jesse
Das erste und wichtigste ist es, von der Gesellschaft wieder ein Stück weit angenommen zu werden. Wenn man über lange Zeit Drogen konsumiert hat, abhängig geworden, vielleicht obdachlos ist, hat man meist keinerlei Berührungspunkte mehr zur „normalen“ Gesellschaft. Wenn man wahrgenommen wird, dann in der Regel nur als Störfaktor und jemand, der Angst erzeugt. Das ist ein Riesenhindernis für die Integration von Drogengebraucher:innen. Die Ausgrenzung von Menschen führt dazu, dass sie sich irgendwann auch nicht mehr als ein Teil der Gesellschaft fühlen, eigene Werte und Regeln entwickeln, und sich dann auch nicht mehr an die Formen des normalen Miteinanders gebunden fühlen. So treten sie dann auch auf und das erzeugt und verschärft Konflikte. Um die Motivation zu finden diesen Prozess umzukehren, muss die Gesellschaft bereit sein und es auch signalisieren diese Menschen ernst- und anzunehmen. Das ist kein leichter Weg und auf den mache ich mich nur, wenn ich ein Ziel habe und Ziele kann ich nur da finden, wo auch gesellschaftliches Leben und Akzeptanz ist. Wo man als Mensch anerkannt und nicht auf den Drogenkonsum reduziert wird.

Hans Mörtter
Wir haben in Köln mehrere „Schlachtfelder“, z.B. den Neumarkt, wo es eine Riesenangst bei den Anwohner:innen gibt, die die Leute weg haben wollen. Dann haben wir den Kölnberg als einen Ort, an den Menschen abgeschoben werden. Wer am Kölnberg wohnt, ist ganz unten angekommen, wobei das auch nicht ganz stimmt. Aber es werden viele Menschen dorthin gedrängt, denen man in unserer Gesellschaft keine Chance mehr gibt. Wie müssten eine Umgebung und ein Kontext aussehen, in denen Menschen die Chance haben, von den Drogen loszukommen?

Marco Jesse
Wenn wir über den Kölnberg ganz konkret reden, fängt es schon damit an, dass der ganz schlecht versorgt ist. Es gibt dort wenige Hilfeeinrichtungen, und obwohl da Drogen und Drogenkonsum ein großes Thema sind, gab es vor uns da keine Drogenberatung oder Anlaufstelle. Außerdem gibt es eine ganz schlechte Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, man ist sehr lange unterwegs, wenn man in die Innenstadt will. Damit wird auch die Nutzung von Angeboten im restlichen Stadtgebiet massiv erschwert.
Der Kölnberg ist ein Wohnfeld außerhalb von Köln, das nicht wirklich zu Köln gehört. Das zeigt sich genau an solchen Stellen und ist etwas, das die Bewohner:innen des Kölnbergs auch spüren. Sie sind nicht gewollt als Teil von Köln, so wie die Schmuddelkinder, die man an den Rand stellt.

Hans Mörtter
Die Botschaft ist klar: Bleibt ja da, wo ihr seid.

Marco Jesse
Das ist genau das Signal, das gesendet wird. Das muss man durchbrechen und dann auf allen Ebenen arbeiten, denn da fehlt es an allen Ecken und Enden. Das geht schon damit los, dass es zu keiner Vermischung von Kölnberg und Meschenich kommt. Obwohl der Kölnberg direkt an Meschenich grenzt und eigentlich ein Teil davon ist sind das zwei Welten, die miteinander gar nichts zu tun haben. Die eine endet an der Ampel, an der die andere Welt beginnt. Da ist kein Gemeindeleben, die vom Kölnberg werden nicht mit einbezogen. Dann verfestigen sich solche Strukturen, und da muss man sich nicht wundern, wenn eigene Regeln entstehen und je nach dem, woran man sich orientiert, ist das auch nicht gesellschaftskonform. Dann sind kulturelle und andere Einflüsse wichtiger und die Gräben werden immer breiter und tiefer.

Hans Mörtter
Wenn Menschen ganz ans Ende gestellt werden und keine Perspektive mehr haben, dann ist auch alles egal.

Marco Jesse
Der erste Schritt ist ja, aus der Kerngesellschaft herausgetrennt und an den Rand gestellt zu werden. Je mehr das fortschreitet und eskaliert, wird man irgendwann entmenschlicht. Das ist etwas, was ich bei mir damals sehr stark gespürt habe, dass ich ganz lange nicht mehr als Mensch wahrgenommen wurde. Als das dann geschah, war es der entscheidende Faktor, um wieder einen ganz anderen Weg gehen zu können. Das ist das Gefühl, dass Drogenabhängige und Obdachlose jeden Tag auf der Straße spüren, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen müssen. Sie werden als störend an den Rand gedrückt. Wenn über sie gesprochen wird, dann nur als Ärgernis, das man zu beseitigen hat, in zum Teil wirklich unwürdigen Tönen. Das kann auch jeder einzelne von uns durchbrechen, indem man keinen Bogen außen herum läuft, wenn solch ein Mensch z. B. auf der Straße sitzt, ihn stattdessen vielleicht sogar mal anspricht. Ich sehe im Straßenbild oft Leute, die vermeintlich schlafen, betrunken oder durch Drogen berauscht sind. Das kann man aber nicht unbedingt wissen. Es laufen alle dran vorbei, ohne sich zu interessieren oder gar zu kümmern. Dabei könnte dieser Mensch Hilfe benötigen oder sogar dabei sein zu versterben – z. B. durch eine Überdosis – . Warum kann man nicht, statt vorbei zu laufen und vielleicht noch eine abfällige Bemerkung zu machen, ihn einfach kurz ansprechen. Wenn er reagiert, sich bewegt, antwortet, ist alles gut, dann kann man weitergehen. Aber diese Geste zu machen, dass auch dieser Mensch es Wert ist, beachtet zu werden, kann so viel anstoßen und ist ein Gebot der Menschlichkeit.

Hans Mörtter
Wie ist das denn mit der Würde? Wie sind deine Erfahrungen mit den Menschen, die zu euch kommen, wie spürbar ist ihre Sehnsucht? Ist die vorhanden? Ist das Empfinden für die eigene Würde verloren gegangen?

Marco Jesse
Die ist noch da, aber oft sehr verschüttet. Man merkt das im Gespräch, wenn man sie darauf aufmerksam macht, was eigentlich ihr Recht ist beispielsweise im Umgang mit Behörden oder ähnlichem. Da kommt oft die Antwort: „Ja, aber… Das gilt doch nicht für mich“. Da ist noch ein Restverständnis dafür da, dass man eigentlich das Recht auf einen menschenwürdigen Umgang hat, aber auch eine ganz große Resignation, dass man es sich nicht erstreiten kann und es sich nicht auf anderem Wege verdienen kann. Da etwas zu bewegen und das zurückzuholen, ist ein ganz langer Weg und ein ganzes Stück Arbeit.

Hans Mörtter
Ich bekomme immer wieder mit, dass Leute sagen, dass die drogenabhängig sind, also sind sie selbst schuld. Das ist ihre Entscheidung, die haben sich dafür entschieden. Und sie können ja aussteigen. Tun sie aber nicht. Das ist eine bürgerliche Gesellschaft, die sich völlig abschottet und die Empathie verliert. Aber als Menschen sind wir alle miteinander verbunden in unserem Urmenschsein. Das ist auch die jesuanische Lehre, deren Geschichten uns darauf hinweisen. – Sag doch mal, wie sieht eine Chance für Drogenabhängige am Kölnberg aus? Was müsste da passieren.

Marco Jesse
Das Schuld-Stigma ist etwas, unter dem gerade Konsument:innen illegalisierter Drogen massiv leiden. Wenn jemand sich beim Fahrradfahren den Arm bricht, würde man ihm auch nicht mit einer solchen Haltung entgegentreten und sagen ’selbst schuld, wärst du zu Fuß gegangen‘. Um eine Chance zur Veränderung zu geben, muss man eine Perspektive aufzeigen. Gerade in unserer Gesellschaft ist das oft verknüpft mit Arbeit und Beschäftigung. Ein sehr großer Teil der Heroinabhängigen befindet sich in Substitutionsbehandlung. Damit haben sie Zeit und brauchen Beschäftigung und zwar sinnstiftende Beschäftigung, um ihren gewohnten Tagesablauf zu verändern. Also nicht den Müll auf der Straße aufheben, weil das unter Umständen kontraproduktiv wäre und sich auf der Ebene abspielt, auf der man sich sowieso fühlt – Junkie = Müll -. Es braucht eine sinnstiftende Beschäftigung mit Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten.

Hans Mörtter
Hast du denn ein Beispiel für eine sinnstiftende Beschäftigung?

Marco Jesse
Ich will uns jetzt nicht loben, aber unser Arbeitsprojekt bietet diese Möglichkeit. Die Teilnehmer:innen organisieren den Kaffeebetrieb im Kontaktladen, sie arbeiten in der Küche und anderen Bereichen und vor allem haben sie auch Aufstiegsmöglichkeiten. Ich selber habe wie einige Kolleg:innen auch ganz klein angefangen, erst mit Sozialstunden, dann mit einem 1-Euro-Job, danach lange ehrenamtlich. Ich habe mich dann langsam steigern können im Umfang der Arbeit aber auch in der Qualität. Fort- und Weiterbildungen haben die Betroffenenkompetenz unterfüttert und so konnte ich dann die Leitung von VISION e.V. übernehmen. Diese Chance hat bei uns jede/r und die dafür erforderliche Durchlässigkeit ist uns auch ganz wichtig. Das spüren die Teilnehmer:innen, dass das nicht nur ein begrenztes Arbeitsprojekt ist, bei dem sie auf einem niedrigen Niveau begrenzt sind. Das macht die Beschäftigung sinnstiftend, ansonsten würde es einfach nur die Zeit füllen und weiter nichts.

Hans Mörtter
Was müssten die Menschen und die Stadt Köln am Kölnberg und anderen Orten tun?

Marco Jesse
Am Kölnberg fehlt es an ganz banalen Sachen. So gibt es z. B. nur einen Arzt, der Substitution anbietet. Wenn man als Patient:in in der Behandlung gescheitert und einmal raus ist, hat man so keine Ausweichmöglichkeit mehr. Da müsste ganz dringend etwas passieren. Außerdem sind wir nur an drei halben Tagen in der Woche präsent, obwohl es viel längere Öffnungszeiten bräuchte und ein erweitertes Hilfsangebot, damit wir vielleicht auch andere Angebote mit initiieren können. Wir brauchen eine bessere Verknüpfung, auch von unterschiedlichen Hilfsangeboten und eine bessere Anbindung an das städtische System.

Hans Mörtter
Leider ist unsere Zeit schon um. Danke Marco für diese Einblicke.

Text bearbeitet von Helga Fitzner und Marco Jesse: