Umgang mit Missbrauch

"ES MUSS EINEN SINN HABEN, DASS DU DIESES LEBEN SO LEBST"

In einem bewegenden und trotz des ernsten Themas erhebenden Talkgottesdienst haben sich Detlef Korczak und Pfarrer Hans Mörtter dem Thema Missbrauch an der Lutherkirche gestellt.

Im Jahr 2010 ging Detlef Korczak mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit: Er ist als Kind in den Jahren 1962 und 1964 von einem Presbyter unserer Lutherkirche missbraucht worden. Da es sich vermutlich um keinen Einzelfall handeln würde, rief die Evangelische Kirche Köln und Region mögliche weitere Missbrauchsopfer dazu auf, sich zu melden. Dies geschah und die Aufarbeitung dieses Themas ist noch nicht abgeschlossen. Nun hat der heutige Pfarrer der Lutherkirche, Hans Mörtter, Detlef Korczak zu einem Gesprächs-Gottesdienst eingeladen.

„Eine solche Erfahrung kann nicht rückgängig gemacht werden, denn sie beeinträchtigt das ganze Leben“, erzählt Detlef Korczak, „aber man kann lernen, damit umzugehen.“ Dreißig Jahre hat es gedauert, bis er die Geschehnisse bearbeiten konnte. „Es war besonders tragisch, dass dies in einem kirchlichen Umfeld geschehen ist, einem Ort, an dem man Schutz und Zuflucht sucht,“, berichtet er weiter. Detlef Korczak ist nicht vom Glauben abgerückt, er hat sich aber zwischenzeitlich von der Institution Kirche gelöst. Es folgten Jahre des Haderns, des Schmerzes, der Rachegelüste und der Wut, die er aber durchschritten hat, weil er merkte, dass irgendwo darunter seine Kraft wiederzufinden war. „Das Thema Missbrauch ist ebenfalls ein Thema von Macht“, weiß Korczak, „der Missbrauch spielt sich nicht nur auf körperlicher Ebene ab, dann wäre er ja irgendwann vorbei, er wirkt sich auf den ganzen Menschen und dessen zukünftiges Leben aus“. Korczak arbeitete im kaufmännischen Bereich und war für 180 Mitarbeiter:innen verantwortlich. Diese Erfahrung war wichtig für ihn, weil er da lernte, mit Macht konstruktiv umzugehen. Ein weiterer Aspekt ist die Frage, warum das nun ausgerechnet ihm widerfahren ist und dass er das irgendwie schuld ist. Vom Kopf her weiß Detlef Korczak, dass er als Elfjähriger gegen den Presbyter, der auch noch Psychologe war und sich trickreich in seine Familie eingeschlichen hatte, chancenlos war.

Detlef Korczak hat sich für den Weg der Heilung entschieden. Heute arbeitet er als psychologischer Berater, bietet zusätzlich zu dieser Arbeit auf Seelenebene aber auch bioenergetische Behandlungen an, mit denen man Blockaden auf physischer Ebene auflösen kann, die in einem Kausalzusammenhang mit erlittenen seelischen Verletzungen stehen können. Er ist noch weiter gegangen und hat sich seiner inneren Führung anvertraut, durch die er wieder mit seiner Kraft verbunden ist. In seiner Tätigkeit nutzt er diese Erfahrungen, um seine Klienten zu unterstützen. „Ich bin wieder bei mir angekommen“, freut sich Korczak, „und möchte anderen Menschen auch dazu verhelfen.“

Text: Helga Fitzner

Hans Mörtter am  27.01.2013  –  zu Gast: Detlef Korczak

Das Thema ist sexueller Missbrauch an einem Schutzbefohlenen

Ein eingeschränktes Leben

Hans Mörtter: Wir steigen gleich ein in den Albtraum, der im Jahr 1962 durch einen Presbyter unserer Lutherkirche für Sie begann. Er war Psychotherapeut und im Presbyterium der Evangelischen Gemeinde Köln, eine Honoration, wie das in den 60er-Jahren hieß. Sie waren damals 10 Jahre alt. Was ist geschehen, Herr Korczak?

Detlef Korczak: Ich war hier in der Lutherkirche zum Katechumenenunterricht und später Konfirmandenunterricht, der von ihm phasenweise geleitet wurde. Er wollte zu der Zeit hier eine Bücherei aufmachen und da er wohl fand, dass ich ein aufgewecktes Bürschlein sei, bekam ich die Aufgabe, die Bücher zu beschriften und zu bekleben. Zu diesem Zwecke sollte ich ihn dann auch zu Hause zu besuchen. Er selber war damals verheiratet mit einer 30 Jahre älteren Frau und stellte sich auch mit meinen Eltern gut. Da ich zu dem Zeitpunkt in der Schule nicht so besonders war, bot er sich bei meinen Eltern als Nachhilfelehrer an. Die haben das dankend angenommen. Anfangs haben wir auch Nachhilfeunterricht gemacht, er rückte mir immer näher und hat mich dann berührt. Ich habe das gar nicht so richtig verstanden, bis es dann zu Übergriffen gekommen ist in verschiedener Art und Weise. Meine Mutter wurde von ihm immer wieder kontaktiert, er lud sie ein und machte ihr Geschenke. Das hatte zur Folge, dass so ein Gebilde entstand, wo man dachte: Aha, die beiden stehen gut zueinander, alles ist gut, alles, was geschieht, ist richtig. In mir entstand nicht das Gefühl, dass ich mit irgendeinem hätte sprechen können. So nahm das seinen Lauf. Wobei er alles das, was er mit mir tat, dokumentiert hat, jeden Übergriff, den er gemacht hat, hat er in ein Büchlein geschrieben. Zu späteren Zeiten fand ich dann in seinem Zimmer viele dieser Bücher, wo er für jedes Kind, das in seinem Haus war und bei dem er Missbrauch vorgenommen hat, alles akribisch eingetragen hat, welche Handlung, wie lange das gedauert hat, was für ein Empfinden entstand.

Das ist grauenhaft.

Aus späterer Sicht kann man gar nicht mehr nachvollziehen, dass das möglich war. Als Psychologe war er in der Lage, mich genau zu erreichen, indem er mich mit verschiedenen Sachen gefördert und mein Wissen herausgekitzelt hat, was ich vom Elternhaus her nicht bekam. Er hat schon genau gewusst, was zu tun ist. Als ich etwas schwankend wurde, hat er mir von seinen Kriegszeiten erzählt, dass er hier im Disch-Haus gefangen war und man ihn da misshandelt hätte und er sein eigenes Kreuz gemalt hätte für seinen Tod. Er hat mir erzählt, dass er danach angeblich geheiratet hat, zwei Kinder hatte und die sind dann mit dem Auto verunglückt und verbrannt. Er hat mir immer wieder Dinge erzählt, wo ich gedacht habe: „Das ist ein armer Mensch, da musst du Trost geben, da musst du irgendwie auf ihn zukommen.“ Alle die Dinge, die geschehen sind, habe ich geduldet. Bis ich ein Alter erreichte, wo ich nicht mehr gebraucht wurde und abgeschoben wurde.

Das ist ja eine sehr raffinierte Art, ein Kind seelisch an sich zu binden, so fest, dass es nicht mehr weg kann, weil es so intim und vertraut ist und ihm im Grunde eine Verantwortung oder Beschützerfunktion für den Missbraucher suggeriert wird. Das heißt, dass neben der körperlichen Inbesitznahme auch eine seelische stattgefunden hat. Aber wie ist das mit dem Widerwillen, wie ist das mit dem Sich-Wundern und Staunen, was macht der da mit mir macht. Wieso funktioniert das?

Er hatte ein sehr schlagkräftiges Argument, er müsse mit mir üben, damit ich dann später auch Frauen gerecht werden kann. Er hat das mit Stoppuhr gemacht und dann geschaut, wie lange hält der es aus und wann kommt es. Ich wurde dann gelobt, wenn es eben länger angedauert hat. Er hat daraus eine Art Sportveranstaltung gemacht, immer mit dem Hintergrund, das musst du hier tun und das ist gut für dich, denn nur so wirst du irgendwann eine Frau kriegen und so kannst du dich dann irgendwann öffnen für diese Dinge. Von diesem ganzen Thema Sexualität hatte ich noch gar keine Ahnung und auch noch kein Gefühl dafür. Zu Hause gab es keine Aufklärung –, ja, ich war im wahrsten Sinne jungfräulich.

Hat Ihre Mutter das gewusst oder geahnt?

Ich würde mal stark behaupten, dass sie es wusste, denn sie bekam von ihm immer Geschenke und er brachte ihr irgendwie Geld mit und schlich sich in unsere Familie ein, brachte dann seine Frau mit, man feierte gemeinsam Silvester. Man hatte das Gefühl, das war auf einmal der gute Onkel von nebenan. Meine Mutter sonnte sich darin, weil er ein gebildeter und wohlhabender Mensch war, was in unserem Elternhaus nicht der Fall war. Im Nachhinein könnte man das Gefühl haben, ich wäre verkauft worden. Das lasse ich einfach mal so im Raum stehen.

Welche Rolle spielte Ihr Vater dabei?

Der war auf Montage und eigentlich die ganze Zeit nicht da. Er kam alle sechs bis acht Wochen für ein Wochenende nach Hause und war überhaupt nicht offen dafür. Für mich als Sohn war er zumindest in diesen Jahren nicht da. Meine Mutter hatte immer alles gut im Griff, sodass mein Vater nur eine untergeordnete Rolle in unserer Familie spielte.

Jürgen Dehmers, der den Missbrauch in der Odenwaldschule in seinem Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien?“ beschrieben hat, schreibt in der Einleitung: „Das Bild des Horrors. Schaue ich genau hin, höre ich Kinderstimmen schreien und tote Seelen wandeln, die keine Ruhe finden können.“ Was hat das mit Ihnen gemacht? Sie müssen doch Wut, Zorn oder auch Hass gehabt haben, was ist mit den Scham- und Schuldgefühlen?

Die Schuldgefühle stehen sofort an erster Stelle. Als ich älter wurde, habe ich mich immer wieder gefragt: „Wieso konntest du dich darauf einlassen und wie ist es passiert“. Mir war zuerst gar nicht bewusst, dass ich als Kind in dieser kindlichen Rolle gefangen war. Als Erwachsener sieht man das anders, da würde man sagen: „Halt, da gibt es Mechanismen, bei denen du hättest aufmerksam werden müssen.“ Als Kind ist das anders. Ich hatte mich eine Zeit lang entschieden, ohne Wut und ohne Hass durchs Leben zu gehen. Ich war immer ein sehr netter und sehr zuvorkommender Mensch, habe zu allem Ja gesagt und habe mich in alles eingefügt. Irgendwann wurde ich krank. Mir ging der Hals zu, so dass ich eigentlich gar nichts mehr sagen konnte, die Schilddrüse hat mich fast erwürgt. Da wurde mir erst klar: „Du hast das Thema Wut vergessen.“ Zu dem Zeitpunkt ist auch meine Mutter gestorben und ich habe so manches Mal vor ihrem Grab gestanden und hätte am liebsten Steine hineingeschmissen, weil ich dachte: „Es gibt noch so viel zu sagen!“ Die Wut ist dann schon in hohem Maße entstanden.

Wie lange hat das gebraucht, bis die Wut herauskam?

Ach, so 25 Jahre. – Ja, sie hat sehr lange in mir geschlummert. Das Gefühl Hass ist ein Gefühl, das ich bis heute eigentlich noch nicht richtig kenne, obwohl ich zwei- oder dreimal da hineingerutscht bin. Daher weiß ich, dass das ein so abgrundtiefes Gefühl ist, dass man sehr vorsichtig sein muss, sich nicht zu verlieren. Das ausschlaggebende Gefühl war aber die Wut. Die muss erst gelebt werden, bevor überhaupt Gedanken entstehen, ob man vergeben kann oder sich mit sich selber versöhnen kann. Man fühlt sich als benutzter Mensch, als ausgestoßen und gar nicht richtig integriert, das ist schon ein ganz schweres Unterfangen. Wenn überhaupt, kann man das erst überwinden, wenn man das Tal der Wut durchschritten hat und die krankmachenden Energien, die dadurch gebunden sind, wenigstens teilweise befreien konnte.

Aber was ist das für ein Leben?

Eingeschränkt.

Der Presbyter hat Sie dann irgendwann fallen lassen, weil Sie in die Pubertät kamen und es ist davon auszugehen, dass dieser kaputte Mensch anderswo andere Opfer gefunden hat. Danach haben Sie 25 Jahre gebraucht, um überhaupt das Gefühl von Wut zulassen zu können. Was bedeutet das für die 25 Jahre bis dahin?

Ich hatte keine festen Freundschaften in diesem Alter. Es war ein ständiger Aufruhr in mir und ich war in der Schule immer auffällig und aufsässig, in der Hoffnung, dass vielleicht mal jemand auf die Idee kommt zu fragen: Warum ist der so? Das ist aber nicht geschehen. Ich habe dann sehr schnell versucht, irgendwie eine Partnerin oder eine Beziehung zu finden, um jemanden an der Seite zu haben, der mich stützt und trägt. Das wäre aber für die Frau eine Überforderung gewesen. Ich hatte das Glück, mit 23 Jahren eine Frau zu finden, die diese Last mit tragen konnte …

Ohne davon zu wissen!

Ohne davon zu wissen. Ich war erst 15 Jahre nach der Hochzeit in der Lage, meiner Frau das sagen zu können. Sie hat mir irgendwann klargemacht, dass mit mir etwas nicht stimmt. Sie sagte: „Ich liebe dich. Also guck hin, guck hin für uns beide.“ Das war ein sehr entscheidender Schritt und ich konnte anfangen, mich ihr zu öffnen. Wenn ich es nett ausdrücke, würde ich mich als gefühlsverflacht bezeichnen. Ich war ein Mensch, der zu 90 Prozent im Kopf war und alle Gefühle zurückschraubte. Ich konnte auch keine positiven Gefühle zulassen aus der Angst heraus: Wenn ich mich freue oder wenn was Positives kommt, dann muss danach was Negatives kommen. Ich war überhaupt nicht in der Lage, einen Menschen um Hilfe zu bitten, weil ich sofort gedacht habe: „Wenn du was tust, dann musst du nachher was geben.“ Also, in allen normalen, alltäglichen Lebensbereichen fühlte ich mich schon in einem sehr hohen Maße sehr eingeschränkt.

Es war auch ein Stück Versöhnung mit mir selbst

Sie hatten früher auch eine „gestresste“ Sexualität. Nun gibt es viele Männer, die die haben. Sie erzählten von der Erektion, die Sie nicht durchhalten konnten, was bei Ihnen eine klare Folge des Missbrauchs war.

Wenn man frisch verliebt ist, will man seine Sexualität auch leben. Wenn das am entscheidenden Punkt immer einbricht, mag die Partnerin eine Zeitlang damit umgehen können, aber irgendwann wird sie dann doch das Gefühl kriegen: „Wo bleibe ich, was passiert denn da mit mir, werde ich vielleicht auch nur gebraucht, habe ich da vielleicht irgendeinen Menschen, bei dem irgendwas gewaltig nicht stimmt. Vielleicht muss der ja irgendwo in eine Therapie.“ Dennoch das Gefühl zu haben und zu wissen, wenn ich denn mal die Chance hätte, mich hinzugeben, was würde mir denn passieren, wie könnte ich denn dann wirklich auch mit meiner Frau zusammen sein? Das waren sehr viele, sehr schwierige Jahre, die wir da erlebt haben. Das war das, was ich versucht habe, eingangs zu sagen: Ohne Liebe wäre das gar nicht gegangen. Man kann auch nicht von einem Menschen verlangen, dass er nur dafür da ist, einen aufzufangen. Der will ja irgendetwas kriegen, der braucht ja Energie, der braucht das Gefühl, ich werde so genommen, ich werde so geliebt, ich fühle mich getragen, ich fühle mich geschützt.

Wertgeschätzt, geachtet. – Sie hatten auch Schwierigkeiten mit Ihren beiden Söhnen, wenn die sich als die kleine Jungen auf Sie stürzten, Sie umarmten, sich auf Sie drauflegten. Das ist ja furchtbar.

Das war ein Drama für sich. Ich hätte mir aufgrund dieser Situation anfangs lieber Mädchen gewünscht. Ich war bei beiden Geburten dabei und habe zwei supernette Söhne. Der eine war in jungen Jahren etwas zurückhaltender und hat mich ein bisschen mit Distanz behandelt, der andere war das Gegenteil, der schmiss sich auf mich, drückte mich, machte alles mögliche mit mir. Sobald der auf mir lag, bekam ich Schweißausbrüche, Ängste: Was passiert da jetzt, was ist da für eine Erwartungshaltung, wie gehe ich damit um? Das war für mich sehr, sehr schwierig, mich immer wieder da so auf den Punkt zu bringen, zu sagen, ja, das Kind braucht Berührung, das Kind braucht Liebe, das Kind soll ganz anders groß werden als du selber groß geworden bist, das Kind soll nicht das Gefühl haben, einen Kampf zu leben. Es war sehr schwer, das in den ersten Jahren so nehmen können. Ich muss heute noch Entspannungsübungen machen, wenn mich ein Mann anfasst, z. B. ein Arzt, der mich abhören will. Ich bin jetzt 60, es ist lange genug her. Ich habe sehr viel an mir gearbeitet, aber diese körperliche Berührung durch einen Mann bringt mich immer noch einmal in dieses Gefühl von damals zurück. Ich persönlich freue mich, dass ich das heute bei Frauen nicht habe.

Ich freue mich auch für Sie darüber. Unter den missbrauchten Menschen gibt es welche, die das nicht geschafft haben. Die sind auf der Strecke geblieben, einige haben sich getötet. Sie haben irgendwann gemerkt – auch auf Anraten Ihrer Frau hin – dass Sie etwas unternehmen mussten.

Das konnte so auf Dauer nicht weiter gehen und ich habe unterschiedliche Therapien versucht. Allerdings hatte ich nicht gerade das große Glück mit den Therapeuten, an die ich geraten bin. Bei einem war es vielleicht auch etwas Selbstschutz …

War das der mit dem Lehrbuch?

Das war der mit dem Lehrbuch. Ich hatte deutlich das Gefühl, der geht nach einer Liste vor: Wie gehe ich mit einem Missbrauchten um, was muss ich tun, aber überhaupt nicht aus dem Gefühl heraus, was ist denn da bei dem, was passiert da, was geht da gefühlsmäßig ab? Der hat das schön abgearbeitet. Ich habe nachher das Gefühl gehabt, ich würde ihn mehr therapieren als er mich. Dennoch war es ein Schritt, mich mit mir selber auseinanderzusetzen: Wo muss ich hingucken, wo bedarf ich der Heilung, wo ruft die Seele nach was? Dann war ich in einer Gruppentherapie. Viele in der Gruppe waren schon über Jahre mit dabei. Ich war da der einzige Mann und als ich meine Geschichte erzählt habe, sind die Frauen schreiend herausgelaufen. Die konnten das damals noch gar nicht annehmen, dass es vielleicht auch von der anderen Seite sein kann, dass auch Männer missbraucht werden, da war dieses Thema noch tabu. – Bei einer dritten Therapie ging es dann schon besser, aber irgendwann bin ich zu dem Ergebnis gekommen: Therapier dich selber, schau mal genau hin, versuch mal, den Schmerz, der da ist, auch nach außen zu tragen, versuch mal, die Gefühle nach außen zu tragen, versuch mal, auf Menschen mit einer anderen Art und Weise zuzugehen. Da hat natürlich der Glaube einen entscheidenden Beitrag geleistet, denn ich glaube nicht, dass ich sonst gewusst hätte, wie Heilung funktioniert, wenn ich mir nicht den Gedanken gemacht hätte: Es muss einen Sinn haben, dass du dieses Leben so lebst, mit dieser Situation. Es muss etwas dahinterstehen, sonst wärst es nicht du gewesen, dem das passiert.

Für Sie hat es also einen persönlichen Weg gegeben.

Mein persönlicher Weg war schon sehr angebunden an den Glauben daran, dass es vielleicht Wiedergeburt geben kann, dass es Aufgaben gibt, die man im Leben zu lösen hat. Ich bekam dann das Gefühl, begleitet zu sein. Irgend so einen Engel hat man immer an der Seite, auch wenn manch einer das vielleicht nicht glaubt. Ich hatte einen Engel an der Seite, das Gefühl, in meiner Spiritualität getragen zu sein und vielleicht auf das zu hören, was die Seele als Botschaft hat. Ich habe aufgehört, mich zu verschließen und meiner inneren Stimme zu misstrauen, und bin in das Vertrauen gegangen, dass da etwas in uns ist, durch das wir Heilung finden können. Man kommt da nicht immer dran, aber mir hat es Halt gegeben. Leider gibt es viele Menschen, die es nicht haben schaffen können, da kann ich nur sagen, es ist nicht so einfach, es zu schaffen.

Mich hat das sehr beeindruckt. Sie haben eine Selbsttherapie vorgenommen, die aus drei Schritten bestand. Was für Prozesse laufen da ab?

Eine wichtige Erkenntnis war die, dass ein Kind anders empfindet als ein Erwachsener. Als Kind bin ich an jemanden geraten, der die tiefe psychische Fähigkeit hatte, mich an sich zu binden. Heute ist mir klar, dass man das als Kind gar nicht bewältigen kann. Dennoch kommt ein Schuldgefühl auf und man fühlt sich befleckt. Ein Kind kann sich nicht abgrenzen, wie ein Erwachsener, der Grenzen setzen kann, ohne Gefahr zu laufen, sofort bedroht zu werden. Zu meiner Zeit wurden Kinder dafür oft bestraft. Es sind andere Mechanismen, die da abgelaufen sind. Als Erwachsener wurde mir erst schrittweise klar: Ich hatte als Kind noch gar kein Bewusstsein, eine Änderung herbeizuführen oder mich zu retten. Es wäre schön gewesen, wenn mich jemand gerettet hätte, aber es war keiner da.

Hätte auch nicht lange angehalten, wahrscheinlich.

Höchstwahrscheinlich nicht. Das ist ein langwieriger Prozess, bei dem man immer wieder in Depressionen fallen kann, wo man dunkle Tage hat, wo man die Bilder des Missbrauchs wieder sieht, wo man eingeholt wird von dem Erlebten, wo man in irgendeiner Zeitung einen Bericht liest und plötzlich vollkommen abstürzt. Es ist doch schlimm, dass es immer noch genug Menschen gibt, denen das passiert, und dass man hofft, dass viele Leute einfach wacher werden und besser hingucken. Missbrauch ist so was Ähnliches wie ein Fingerabdruck. Kein Fingerabdruck gleicht dem anderen. Der Missbrauch ist ein Kern von mir, den ich heute aber tragen kann. Heute kann ich hingucken, heute weiß ich, dass es so ist, ich traure nicht mehr den Jahren nach, wo ich mir gewünscht hätte, es wäre anders. Heute ist einfach der Blick nach vorne.

Da denke ich an die archaische Geschichte im 1. Buch Mose, Kapitel 32.
Jakob will nach langer Zeit in der Fremde nach Hause, um sich wieder mit seinem Bruder Esau zu versöhnen. Er weiß nicht, ob sein Bruder immer noch wütend auf ihn ist und ihn töten wird. Um ihm und damit seiner Vergangenheit zu begegnen, muss er über den Fluss Jabbok, um seinen nötigen Weg zu gehen. Dabei begegnet er Gott, der ihn nicht einfach über die Furt lässt. Beide ringen und kämpfen miteinander. Für Jakob geht es um seine Existenz. Er lässt Gott nicht und klammert sich fest. Gott sagt, lass mich los. Eine wunderbare Geschichte. Denn Jakob antwortet: Ich lasse dich nur los, wenn du mich segnest. Und Gott segnet ihn
. Aber Jakob ging aus dieser Konfrontation über die Furt mit einer hinkenden Hüfte hervor. Das ist der berühmte Gotteskampf, dem wir Menschen uns irgendwann stellen müssen. Sie haben das mutig für sich getan. Die „hinkende Hüfte“, die Verletzung, bleibt. Sie kennen das, aber damit haben Sie gelernt zu leben.

Ja. Aus ganz unterschiedlichen Gründen hat jeder sein Päckchen oder sein Paket zu tragen. Wenn man das Bewusstsein darum hat, kann man es auch annehmen, dann kann man auch zu sich stehen und sagen: So wie es ist, ist es gut. Aber das hat bei mir 30 Jahre gedauert. Das braucht seine Zeit.

Ihren zweiten Schritt halte ich für eine Wahnsinnsaktion. Ihre Mutter ist zwar verhältnismäßig früh gestorben, aber Sie haben Ihrer Mutter posthum vergeben. Das ist wahrscheinlich eine Herkulesaufgabe gewesen?

Ja, das war es. Ich hatte zu Lebzeiten meiner Mutter nie die Kraft, mich mit ihr auseinander zu setzen. Sie war eine sehr dominante Person. Ich habe dann immer gedacht: Ach, lass mal, das hat noch ein Jahr Zeit, hat noch ein paar Jahre Zeit, dann bist du irgendwann stark und dann kannst du dich auseinandersetzen. Wie das Leben so spielt, sie geht ins Bett und wacht nicht mehr auf und ist tot. Da war sie 67 und ich gerade so in der Phase des inneren Aufbruchs und ich dachte: Da hat – ich sage das jetzt mal so, wie ich es gedacht habe –, da hat das Aas mir das auch noch angetan, einfach abzuhauen, bevor ich mich mit ihr auseinandersetzen konnte! Ja, es waren zehn Jahre Kampf, teilweise auf dem Friedhof, am Grab. Manchmal kamen Friedhofsbesucher, die zu einem anderen Grab gingen und haben sich bestimmt gewundert: Was macht der da, ist der Grabräuber oder Grabschänder oder so? Da habe ich sehr, sehr viel Wut ausleben können und das ebbte ab. Eines Tages stand ich an dem Grab und habe gesagt: Mutter, wenn du heute da wärst, ich hätte noch viel mit dir zu reden. Als dieses Gefühl so in mir hochkam, habe ich gedacht, jetzt wird es langsam gut. Du weißt, sie wird nicht mehr wiederkommen, du weißt, du wirst nicht mehr mit ihr reden, aber du kriegst im Inneren so das Gefühl wie so ein stiller See. Es ist noch da, aber es ist keiner mehr da, der Steine in den See wirft. Es gibt keine Kreise mehr, es ist ruhig. Es gibt sogar zwei, drei Sachen, die ich ganz witzig an ihr finde, aber auch das hat 30 Jahre gedauert, bis ich etwas an ihr gesehen habe, das ich gut fand. Das andere war immer viel größer und viel stärker. Aber es hat langsam in den Jahren einen Ausgleich gefunden und es war auch ein Stück Versöhnung mit mir selbst.

Sie konnten am Ende Ihre Mutter so sehen, wie sie war, ohne Groll.

Ohne Groll.

Sie haben es damit zu Ihrer Geschichte gemacht.

Es ist meine Geschichte, ja.

Das ist sehr jesuanisch. Daraus ist eine neue Zukunft für Sie entstanden.

Ja. Ich glaube, das ist die einzige Chance, dass neue Zukunft entsteht.

Der dritte Schritt war für Sie der entscheidende: Sie nennen das die innere Versöhnung und die Beziehungsklärung zu Ihrer Frau.

Die Selbsttherapieversuche waren dann ein ganz neuer Weg, der meine Frau und mich in eine gemeinsame Arbeit als Therapeuten hineingeführt hat. Da war plötzlich ein ganz anderes Gefühl von Liebe da. Ich war immer der Meinung, ich hätte meine Frau immer geliebt und mich einfach gefreut, einen Menschen zu haben, der mich so nehmen konnte, wie ich war. Dann hatten wir Silberhochzeit und sie hat mich angeguckt und gesagt: „Ich glaube, langsam liebe ich dich richtig.“ Da habe ich sie angeguckt und gefragt: „Was war denn das vorher?“ und sie meinte: „Warum fragst du mich denn, du weißt doch, was vorher war. Wir brauchten uns, wir nährten uns, wir waren uns immer nahe, aber so das Gefühl, das ist wirklich Liebe, uneingeschränkt Liebe, ich kann den anderen so nehmen, wie er ist, ich kann ihn lassen, ich kann ihn freilassen, ich kann ihm seinen Raum lassen, das ist es, was jetzt ist.“ Das war wie eine Wiedergeburt. Ich fand das so was von umwerfend. Seit 15 Jahren arbeiten wir nun jeden Tag zusammen und freuen uns jeden Tag darauf. Meine Frau hat letztens mal in einer Gruppe gesagt: „Wenn ich manchmal morgens wach bin, dann weiß ich noch gar nicht, ob ich den da liebe. Aber wenn ich ihn so angucke, dann liebe ich ihn wirklich.“ Das sind die Geschenke, die mir so erwachsen sind. Das ist das Schöne, wenn man manchmal in einem unbeobachteten Moment zu dem Menschen sieht und spürt, was da im Herzen passiert. Dann ist man bei sich und auch bei dem anderen, etwas Gemeinsames, das da schwingt.

Das hört sich gut an. Ich kenne Beziehungen, die ohne diese Belastungsform kaputt gegangen sind. Es gibt dieses schöne Wörtchen Treue, das erzähle ich immer bei unseren Hochzeiten hier in der Lutherkirche, das heißt: „chäsäd“, also, ich gelobe, dir treu zu sein in guten und in bösen Tagen, in Krankheit und Gesundheit. Diese bösen Tage sind ja auch auf Ihre Frau übergeschwappt, haben sie auch umfangen. Chäsäd heißt übersetzt wirklich Treue, als ein Gottesprädikat, Gottes Treue zum Leben, zum Leben um uns herum und zu den Menschen und zu sich selbst. In Brüchen, aber das funktioniert. Das hebräische Wort hat wie eine Medaille zwei Seiten, auf der einen Seite steht Treue und auf der anderen Seite steht Gnade untrennbar miteinander verbunden. Sie und Ihre Frau haben beides erlebt und gelebt.

Wenn wir uns den Freiraum, uns zu entwickeln, nicht gegeben hätte, hätten wir nicht zusammenbleiben können. Es waren ganz viele unterschiedliche Entwicklungsschritte nötig. Sicherlich bei beiden aus ganz unterschiedlichen Gründen, aber sie sind immer zu einem Zeitpunkt gekommen, wo sie uns einen Schritt weitergeführt haben, nie zu einem Zeitpunkt, wo sie uns getrennt haben.

Es muss von beiden Seiten ein Schlussstrich gezogen werden

Sie sagen, dass aus dem Erleben und aus der Aufarbeitung für Sie eine Stärke erwachsen ist.

Wenn man missbraucht worden ist und alle Niederungen durchlaufen hat, stellt sich irgendwann die Frage: Was ist denn davon geblieben? Die meisten lehnen alles ab, was Last, Schwäche, Krankheit ist. Man könnte aber auch die positive Seite sehen: „Welche Fähigkeiten hast du entwickelt oder was ist in dir angestoßen worden?“ Ich kann heute auf schwere Situationen mit Tatkraft und Stärke reagieren. Das ist natürlich ein schönes Gefühl auch für die Familie, für unsere gemeinsame Arbeit, für die Kinder. Den anderen Weg kenne ich ja nicht. Ich weiß nicht, wie ich geworden wäre, wenn mir das nicht passiert wäre. Aber ein Teil meiner Stärke ist aus dieser Verarbeitung und dem Umgang damit erwachsen.

Gerade berichteten die Medien, dass Pola Kinski – 30 Jahre danach – begonnen hat, über den Missbrauch durch ihren Vater Klaus Kinski zu sprechen. Da meinten manche: „Das hätte die doch vor 30 Jahren sagen können, was soll das, so auf einem Toten herumzutrampeln. Die beschmuddelt ihren Vater, der ein Held und großer Schauspieler war.“ Aber was wäre, wenn sie es in den 1970-er oder 1980- er Jahren gesagt hätte? Da gab es doch gar kein Bewusstsein dafür. Sie wäre doch wahrscheinlich als Hochverräterin oder ein Fall für die Psychiatrie abgestempelt worden.

Genau, die hätte null Chance gehabt. Es ist ein harter Weg, aber sicherlich ein notwendiger. Missbrauch findet nach wie vor statt. Das ist einer der Gründe, warum ich letztendlich hier sitze, weil ich mir wünsche, dass wir Menschen einfach wacher werden und besser hinschauen. Es muss aus meiner Sicht nicht passieren, es muss sich auch nicht wiederholen. Deswegen ist es so wichtig, dass die, die es erlebt haben, irgendwann den Mut haben, damit nach außen zu gehen, damit es dem ein oder anderen vielleicht nicht so ergehen muss. Nun ist die Zeit heute aber eine andere und auch die Erziehung hat sich verändert, wir gehen anders mit Kindern um. Wenn die Oma zu Besuch kommt, sollte das Kind nicht mehr gezwungen werden, die Hand oder Küsschen zu geben, wenn es das nicht aus eigenem Impuls möchte. Wenn wir es schaffen, dem Kind klarzumachen: „Du darfst nein sagen und wir schützen dich“, dann ist schon ein riesengroßer Schritt geschafft. Dann hat das Kind auch keine Angst vor Repressalien, sondern das Vertrauen zu sagen: „Da ist jemand, der will was Seltsames von mir.“

Gut, vielleicht so gegen Ende noch mal die Frage der Entschädigungszahlungen. Vorausschicken möchte ich, dass unsere diakonische Arbeit unersetzlich ist, wir leisten da Einiges mit Menschen und für die Menschen. Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle ist allerdings ein mühseliger und angstbesetzter Prozess. Missbrauch ist ja auch so furchtbar, dass die Kirche berechtigte Angst hat, dass das Vertrauen in sie erschüttert wird. Sie haben aber klar gesagt: „Ich will Geld. Die Höhe ist mir völlig egal.“ Diese Zahlungen haben allenfalls eine symbolische Funktion, denn für das, was Detlef Korczak erlebt hat, ist eine Entschädigung gar nicht möglich. Es ist eher eine Art Schmerzensgeld. Jürgen Dehmers hat in seinem Buch drei Aspekte herausgestellt: Erstens die symbolische Funktion. „Eine Zahlung von Entschädigung ist die Anerkennung und Benennung einer Schuld und beendet die gefühlte Mitschuld und Beteiligung der Opfer am Verbrechen.“ Oder „Erst wenn in unserer Gesellschaft größere Summen Geldes freiwillig gezahlt werden, ist die Schuld schmerzhaft anerkannt.“ (Letztes Zitat von Prof. Volkmar Sigusch, Sexualforscher). Zweitens die praktische Funktion. Eine Entschädigungszahlung lindert den angerichteten Schaden für massivste Lebensbeeinträchtigungen und – verhinderungen. Drittens die moralische Funktion. „Wer Schaden angerichtet hat, steht in unserer Kultur in der Pflicht, diesen wieder auszugleichen.“ Es gibt die moralische Pflicht zur Anerkennung. Wobei klar ist, dass lebenslanges Leid nicht mit Almosen abgegolten werden kann.

Alle drei Punkte würde ich absolut unterstützen. Dem ersten gebe ich sogar sehr viel Bedeutung zu, weil ich es als symbolischen Akt sehe. Es war schon schwierig genug, dass sich Kirche bei mir überhaupt hat entschuldigen können, das hat schon etwas gedauert …

Glauben auch, glauben erst mal …

… auch das. Ich habe unterschiedliche Briefe geschrieben, an die Kirchenleitung, an den Präses und wer weiß, an wen. Es hat immer Monate bis Jahre gedauert, bis ich eine Antwort bekommen habe und nie eine befriedigende. Diese symbolische Entschädigung ist wichtig für einen Menschen, der das erlebt hat, damit das irgendwann abgeschlossen wird. Abgeschlossen kann es nur sein, wenn ein Schlussstrich gezogen wird, der von beiden Seiten gezogen werden muss. Ich hätte für mich selbst vor Jahren sagen können: „Ist gut, alles fertig.“ Ich war aber der Meinung, dass Kirche in dem Punkt noch ein bisschen gerüttelt und geweckt werden sollte. Für mich als Betrachtenden soll hinter dieser Entschuldigung auch eine Wertschätzung und ein Wert stehen.

Es geht um die Anerkennung.

So ist das.

Dann würde ich sagen, könnte man doch Anerkennungsgeld sagen?

Ja, das wäre doch eine neue Variante, ob man sich damit vertraut macht, weiß ich nicht!

Missbrauch findet in vielen Bereichen statt, überall, wo Jugendliche und Kinder sind, es betrifft Kirchen, Heime, Schulen, Internate, Sportvereine, andere Vereine. Jedes vierte Kind wird heute in Deutschland missbraucht, die Dunkelziffer soll viermal so hoch sein. Er findet zu einem großen Teil in den Familien und dem engsten Kreis um die Kinder herum statt. Da können gar keine Entschädigungen gezahlt werden! Aber die Kirchen sollten ganz klar diesen Schritt machen, mutig dazu stehen, um das Zeichen zu setzen, auch in die Politik hinein: Wir müssen eine Kasse in diesem Land dafür schaffen, weil die sexualisierte Gewalt ein Ergebnis unserer Gesellschaft und dem Nichtachten in unserer Gesellschaft ist. Damit ist die gesamte Gesellschaft verantwortlich. Aus Steuergeldern müsste ein Topf zur Verfügung stehen für eine Anerkennungszahlung gegenüber Menschen, wo keine Institutionen greifbar sind.

Die Frau Schavan (Annette Schavan war von 2005 bis 2014 Mitglied des Deutschen Bundestages für die CDU ) hat ja in einem Schreiben sieben Millionen für Prävention zur Verfügung gestellt, als diese Thematik hochkochte. Als die Frage kam, was mit denen passiert, bei denen es schon geschehen ist, hatte sie keine Antwort parat.

Es besteht die moralische Pflicht zur Anerkennung.

Der Pfarrer, der damals hier an der Lutherkirche war, hat den Presbyter sehr unterstützt und ihm ermöglicht, später ein Kinderheim zu leiten. Als er mit der Sache konfrontiert wurde, hat er das vom Tisch gewischt. Das wäre Blödsinn.

Ich habe ihn auch gefragt mit dem gleichen Ergebnis.

Ich glaube, er ist nicht nur altershalsstarrig, er kann und will das gar nicht so sehen. Dann müsste er eingestehen, dass er da einen sehr schwerwiegenden Fehler begangen hat.

Er hat fürchterlich versagt.

Er hatte nicht einmal die Stärke, in einem Brief zu schreiben, dass es ihm leid tut. Er hätte anerkennen müssen, dass es in unserer Kirche geschehen ist. Daran sieht man, dass in bestimmten Köpfen so etwas wie Gleichgültigkeit zu diesem Thema herrscht und auch das Thema Schuld noch nicht im Bewusstsein ist. Das müsste er haben, aber das ist wohl bei ihm verlorengegangen.

Ja, und ich denke, wenn er das so verdrängt, dann wird er – er ist ja wirklich sehr alt inzwischen –, dass er, wenn er damit nicht noch irgendwo die Kurve kriegt, dann wird er keinen schönen Tod haben. Weil, das wird ihn da einholen, das wird ihm anhängen …

Man sagt es so, ja.

Das weiß ich auch von meiner Arbeit. – Wir müssen jetzt leider zum Ende kommen. Ich freue mich und bin glücklich, dass Sie so nachhaltig nach uns als Kirche gefragt haben und dass wir in Begegnung gekommen sind. Es hat im Vorfeld auch schon ein Gespräch mit unseren derzeitigen Presbyter:innen gegeben. Als diese und die Gemeinde Ihre Geschichte gehört haben, dass da was im Schwange ist, erklärten wir unsere Unterstützung, dass Sie auch unsere Landeskirche kräftig „triezen“…

Das ist gut so!

… und da nicht lockerzulassen. Ich gebe zu, dass das für mich ein Prozess war, bis ich verstand, wie wichtig dieses Thema ist. Sie sagten anfangs: „Ihr macht doch in der Lutherkirche so viel Unmögliches, wie Don Quichotte, der gegen Windmühlenflügeln kämpft. Ihr setzt Euch für so viele Sachen ein, warum nicht für mich, warum nicht für mein Thema.“ Und ich dachte, das auch noch, oh Gott, oh Gott, es reicht doch irgendwie schon! Aber ich bin froh, ich habe viel verstanden von den Dimensionen, die darin stecken, auch für die Existenz unseres Gemeinschaftswesens, wie wichtig das ist, darüber zu reden, uns dem zu stellen und die Kinder unserer Zeit zu schützen. Wir müssen vor allem an diesem Denken arbeiten, das Menschen zu so einem Missbrauch und einer Zerstörung der Seelen fähig macht. Wie kaputt müssen die sein und was sind die Faktoren, die Menschen so kaputt machen, dass sie das tun. Inwieweit sind da die Täter auch Opfer einer Zeit oder eines ganz bestimmten Denkens. Dieses Denken, das stelle ich erschreckt fest, ist nicht ausgerottet, wir leben in einer nicht aufgeklärten Gesellschaft, die vor sich selbst einfach wegläuft. Es ist Zeit – und da setze ich jetzt ganz massiv auf die Prophezeiung der Maya –, dass wirklich die Zeiten sich ändern, dass was Neues entsteht und dass wir unser Bürgersein und unser Menschsein wieder entdecken im Einander-Begegnen und Einander-Fordern. Danke, Herr Korczak, dass Sie das tun!

Redigiert von Helga Fitzner