Drei neue Glocken
Interview mit Hans Mörtter

"Das hat mit Heilsein und Frieden zu tun"

Herr Mörtter, Sie möchten drei zusätzliche Glocken für die Lutherkirche gießen lassen und haben aus diesem Grunde mehrere Veranstaltungen geplant, um einen Teil der entstehenden Kosten durch Spenden zu finanzieren. Am 28. Oktober 2012 findet, zum Beispiel, ein Gottesdienst mit dem Thema „Kirchenglocken“ statt und später im Jahr soll es „Turmlachen“ geben. Was ist denn Turmlachen?

Turmlachen ist die Lach-Klang-Installation der Künstlerinnen Brigitte Kottwitz und Carolyn Krüger aus Frankfurt, die den Turm mit Geräuschen bespielen werden und diese Klänge und das Lachen vom Turm „herunterfließen“ und „herausgehen“ lassen. Wir hoffen, dass die vorübergehenden Leute sich wundern, neugierig werden und innehalten.

Warum wird ausgerechnet unser Turm bespielt, der keine Spitze mehr hat und immer noch sichtbare Granatlöcher aus dem Zweiten Weltkrieg aufweist?

Ja, das ist ein verletzter Turm. Man hat nach dem Krieg die Wunden auch bewusst stehen lassen. Da wurde nichts kaschiert oder übertüncht. Er soll aufmerksam machen, ein Mahnmal sein. Die Mehrheit des Nachkriegs-Presbyteriums hatte beschlossen, dass der Turm nicht abgerissen wird, weil sie sich sagten, dass sie damit einen Teil unserer Vergangenheit auslöschen würden. Wer seine Vergangenheit auslöscht, kann keine Gegenwart haben. Wer keine Vergangenheit und Gegenwart hat, der kann auch keine Zukunft haben. Das ist auch meine Überzeugung. In einem Artikel im Kölner Stadtanzeiger stand mal so etwas wie „unter den Fittichen des Turms der Lutherkirche“. Der ragt ja auch über die Merowinger Straße heraus, man kann ihn vom Ubierring bis zum Rhein herunter sehen. Der ist ein Markenzeichen und der ist anders als das, was wir täglich erleben und machen. Dafür steht der Turm und die Glocken gehören unweigerlich dazu.

Was für eine Geschichte haben die Glocken des Lutherturms denn?

Als ich an die Lutherkirche kam, hatte sie drei Glocken und ein prächtiges Geläut. Als ich dann hörte, dass das ursprünglich mal VIER Bronzeglocken waren, machte mich das irgendwie stutzig. Die wurden im Ersten Weltkrieg eingeschmolzen. Nach dem Ersten Weltkrieg fehlte dann das Geld und 1923 beschloss man, erst einmal Stahlglocken zu nehmen. Die waren billiger und die drei Stahlglocken wurden aus richtig gutem Stahl gemacht und sehr gut verarbeitet. Bei einem Bombenangriff 1943 fielen sie den Turm herunter, blieben aber heil. So konnten sie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Gang gebracht werden. Dann rostete vor ein paar Jahren die Glockenstuhlaufhängung und die große Glocke musste stillgelegt werden. Ein Jahr lang läutete die nicht und mir fehlte da was. Der Bass fehlte und ich fand, das geht nicht. Die „Erdung“ durch den Bass, die muss mit dazu. Wir ließen einen neuen Glockenstuhl aus Eiche einbauen, und es stellte sich heraus, dass der ursprüngliche Glockenstuhl für sechs Glocken gedacht war. Die Lutherkirche wurde 1906 neu erbaut und dadurch hatte die Gemeinde wahrscheinlich zu wenig Geld gehabt, so dass sie nur die vier Bronzeglocken kauften und die beiden fehlenden vermutlich später nachkaufen wollten. Dann kam der Erste Weltkrieg, die Wirtschaftskrise der 1920-er Jahre, der Faschismus, wieder Krieg. Dann hat man das wohl schlicht vergessen. Ich bin froh, dass ich das wiederentdeckt habe, denn dahinter steckt eine Konzeption. Die Glocken der Lutherkirche läuten gemeinsam mit den anderen Glocken der Stadt und verbinden sich so mit ihnen. Unsere Glocken läuten aber nur halb. Es gibt einen Glockensachverständigen der Landeskirche, der uns eine Klangsimulation angefertigt hat, wie das zusammen mit den drei vorgesehenen kleineren Glocken klingt. Das hört sich einfach richtig schön an und ist so, wie es konzipiert und gedacht war. Dann ist der Klang auch stimmig. Ich finde, dass er mit den drei Glocken nicht stimmig ist, obwohl er schon gut ist. Das Tolle daran ist, dass der Klang nicht lauter wird, sondern besser und schöner. Es dröhnt weniger und klingt mehr. Die kleinen Glocken, die wir gießen lassen wollen, sollen auch aus Bronze sein.

Die drei großen Stahlglocken sind heil geblieben. Es war nur der Glockenstuhl, der durchzurosten drohte. Wie sieht denn der neue, bereits montierte Glockenstuhl aus?

Der neue Glockenstuhl ist aus Eiche und so stabil gebaut, dass der jetzt auch ewig hält. Er ist dem Original nachgebaut und für sechs Glocken vorgesehen.

Wenn der Turm ein Mahnmal ist und eine offene Wunde, bekommt der Turm durch die Glocken zumindest auf Klangebene etwas Heiles?

Sechs Glocken haben eine heilende Wirkung für den Turm. Die stellen wieder etwas Ganzes her. Die erzählen davon, dass wir ganz sein können, trotz der Verletzungen. Sie erzählen vom Mehr an Leben und Lebensmöglichkeiten und an Perspektive.

Im Turm finden in den Sommermonaten Ausstellungen im Rahmen von „kunst im turm“ statt. Ist das nicht schon eine „Belebung“ des Turmes?

Unsere Ausstellungen dort sind schon auf einem hohen Niveau und sie bedeuten natürlich auch Dialog. Hier findet über die Kunst eine Auseinandersetzung mit unserer Zeit und mit unserem Menschsein statt. Es finden Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern statt, für die der Turm eine Herausforderung ist, die ihre Ausstellungen auch hineinkonzipieren und mit den verschiedenen Ebenen des Turms regelrecht reden. Wahrnehmen, aufnehmen und dann auch wieder ein Stück zusammenfügen.

Werden wir denn durch die Kunst oder die Glocken wieder heil?

Nein, der Turm sagt ja, dass wir nicht ganz sind. Die Granatlöcher bleiben ja.

Ist das so unauslöschlich wie die Tatsache des Krieges?

Genau. Dazu kommt, dass der Turm durch die Luftverschmutzung immer dunkler wird. Der erzählt: Hier stimmt was nicht. Das kann man sehen und führt uns ein Stück unser eigenes Verhalten vor Augen. Die Wundzeichnung des Turmes macht nachdenklich, aber gleichzeitig erzählen die Glocken dann doch eine andere Geschichte: Wir sind ganz gedacht. Wir sind heil gedacht.

Die Glocken als Verheißung des Ganzseins?

Ja. Und dass es ein Kontinuum von Heilwerden gibt, dass wir entgegen den Zerstörungsprozessen in Wirklichkeit in einem Heilwerdungsprozess begriffen sind. Wenn wir uns dem denn stellen.

Wenn wir es zulassen?

Wenn wir es zulassen. Klar, klar. Das ist eine ungeheure Energie und die verkörpert der Turm und vor allem die Glocken. Das ist für mich eine Lebensenergie und eine Kraft, die Zuversicht signalisiert.

Gibt es nicht vor allem nahe Anwohner:innen, die von den Glocken nicht sehr begeistert sind?

Ja, wir wurden schon aufgefordert, die Glocken abzustellen, weil die so einen Krach machen. Seltsamerweise beschwert sich nie jemand über den Autolärm oder die Alarmanlagen, die nachts manchmal losgehen. Aber jetzt frage ich mal: Was wäre denn, wenn Silvester keine Glocken klängen, wenn nur der Krach der Böller zu hören wäre? Mich ergreift das Glockengeläut dann immer und das geht auch manchen Menschen so, die mit Kirche nichts mehr zu tun haben. Die Glocken gehören zu unserer Kultur. Vor allem Heilig Abend. Egal was ist, viele Leute kommen dann doch in die Kirche und das Glockengeläut gehört als Kulturgut einfach dazu. Das hat mit Heilsein und mit Frieden zu tun. An Heilig Abend ist das besonders schön, die Glocken der Stadt sind alle aufeinander abgestimmt. Da gibt es eine richtige Abfolge, wann welche Glocken läuten und am Ende läuten wirklich alle. Das liegt über der Stadt, eine Viertel Stunde lang. So ein Klangteppich ist einfach gigantisch. Das ist auch so etwas wie Behüten. Die Stadt wird behütet und daran erinnert: Hey, da ist noch etwas anderes und das tut dir gut.

Man merkt das auch, wenn vor Ostern die Glocken für ein paar Tage schweigen und dann zu Ostern erst wieder läuten. Das ist wie eine Befreiung.

Das ist Kraft. Der Ostermorgen hat sehr viel Kraft. Allerdings ist das Aussetzen der Kirchenglocken ein katholischer Brauch. Bei uns Protestant:innen ist das anders, weil für uns der Karfreitag der höchste Feiertag ist. Normalerweise läuten die Glocken protestantischer Kirchen auch am Karfreitag. Wir an der Lutherkirche tun das allerdings nicht. Wir lassen an dem Tag Stille walten. Denn da kann man nur still sein. Aber der evangelische Grundgedanke am Karfreitag ist der, dass man sich dem stellt, was in der Welt geschieht. Da geht es um Standhalten und darum, nicht unterzugehen. Da kann man kräftig drüber diskutieren, ob das so ist. Für mich ist auch der Ostermorgen ein sehr besonderer Tag.

Kommen wir zu profaneren Fragen. Wenn die Lutherkirche drei kleine Bronzeglocken herstellen lassen will, ist das nicht auch ein ziemlich hoher Kostenaufwand?

Der Kostenvoranschlag liegt bei 58.000 €. Die drei Glocken selber kosten um die 20.000 €, der Rest sind Montagekosten. Die Montage ist eine sehr komplizierte, aufwändige Prozedur.

Aber die Kirche hat doch kein Geld.

Die Kirche hat kein Geld. Wir stellen aber  immer wieder für Baumaßnahmen Geld zurück. Das ist vorgeschrieben für notwendige Sanierungen. Das ist quasi auch eine Sanierung. Wir holen jetzt nach, was ursprünglich so gedacht war und nie umgesetzt wurde. Das Geld reicht natürlich nicht und wir müssen kräftig Spenden sammeln. Wir müssen um die 30.000 € auf diesem Wege dafür zusammen bekommen.

Gab es da nicht vor einiger Zeit eine Benefizveranstaltung?

Ja, wir haben eine Benefizaktion mit der Musikschule „Nachtigall und Lerche“ und anderen gemacht. Da kamen so um die 480 € zusammen. Ich fand es toll, wie es da gezündet hat, wie viele Leute diese Idee klasse fanden und Geld ins Körbchen hineingeworfen haben. Das war aber eher eine symbolische Geschichte gewesen angesichts des benötigten Betrages, aber es war auch eine energetische Geschichte. Die haben uns damit ermutigt. – Es gibt natürlich auch Leute, die sagen, dass wir das Geld lieber für afrikanische Flüchtlinge oder für die Katastrophenhilfe verwenden sollten. Ich sage dann immer. Natürlich. Aber wir tun in der Richtung auch eine ganze Menge. Wir arbeiten auch an Veränderung, an Bewusstseinsbildung. Wir haben einen Afrikaner im Kirchenasyl, was auch sehr teuer ist. Wir brauchen für viele Projekte natürlich immer wieder Geld. Aber das eine widerspricht dem anderen doch nicht. Ich brauche eine Bewegung, ich brauche diesen Klang. Ich brauche das, was mir die Glocken erzählen. Ich brauche die Kraft der Glocken, die mir sagen: Ja, es lohnt sich zu kämpfen, ein Zeichen zu setzen, sich zu engagieren, nie aufzugeben: Wie die Glocken, die läuten und läuten und läuten.

Geht es darum, ganz da zu sein?

Ja, ganz da zu sein. Wachsein im Hier und Jetzt. Nicht übermorgen. Nicht: Wir gucken vielleicht mal. Dieses Wenn und Dann. Nein: Jetzt. Die Glocken läuten jetzt. Und sie rufen die Leute. Sie rufen ja auch: Hey, hört, kommt. Haltet an, Hört.

Sie wollen Geld für die Glocken trotz sozialer Not?

Das wird manchmal als Totschlagargument gebraucht: Sei doch still. Sei doch still. Klar, dass damals die Bronzeglocken eingeschmolzen worden sind, um daraus Kanonen herzustellen. Das ist keine Lösung. Das geht nicht, gerade wegen der ganzen Rüstungsindustrie der Bundesrepublik. Die Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien sind doch sehr dubios. Deswegen ist es wichtig, Glocken zu gießen. Das ist eine ganz alte Kunst. Eine Jahrtausende alte Kunst, die von Familie zu Familie weitergegeben wird. Das ist ein ganz altes Wissen. Da gehört auch die Seele dazu. Der Glockengießprozess wird von uns begleitet. Wir fahren da auch immer wieder hin. Das wird initiiert. Die Glocken bekommen unseren Atem mit und wir ihren. Das ist ein ganz starkes Bündnis, das sich bis in die nächsten Jahrhunderte transportieren wird.

Da war doch mal was: „Schwerter zu Pflugscharen“. Das klingt jetzt so wie „Glocken statt Panzer“.

Irgendwie schon. Wir drehen das um. Die einen schmelzen Glocken ein, um Waffen herzustellen und wir gießen Glocken, um gegen den Krieg zu läuten.

Das Interview mit Hans Mörtter führte Helga Fitzner am 3. September 2012