Interview mit Pfarrer Hans Mörtter über Sexarbeit und unseren Umgang damit

Gespräch über ein sehr vorbelastetes Thema

Interview Teil 1: „Ich sehe dich, wie du bist und nehme dich so an.“

Herr Mörtter, wie kam es zu der Idee, einen Themengottesdienst über Sexarbeit zu machen?

Der ursprüngliche Auslöser liegt schon längere Zeit zurück und war die Beerdigung einer jungen Sexarbeiterin, die mit 21 Jahren von einem Freier brutal erstochen wurde und deren Ermordung bis heute nicht aufgeklärt ist. Die hatte ein Apartment hier in Köln, in dem sie die Leute empfing. Ich habe als Pfarrer die Eltern damals begleitet. Nachdem die herausgefunden hatten, dass ihre Tochter nach dem Abitur als Prostituierte arbeitete, haben sie ihr das Kindsein aufgekündigt, sie aus der elterlichen Wohnung herausgeworfen und auch den Kontakt zu ihr abgebrochen. Dieses Zerwürfnis und die Trennung war das letzte, was sie in Erinnerung haben. Die nächste Nachricht war dann, dass sie ermordet worden ist. Die Eltern haben sich daraufhin nicht verzeihen können, dass sie ihre Tochter aufgegeben haben. Sie empfanden das als Verrat an ihr, den sie nie wieder gut machen konnten.

Bis heute frage ich mich, was das für eine Gesellschaft ist, in der so etwas passiert, dass Eltern ihr eigenes Kind verstoßen, weil es eine Prostituierte geworden ist. Was steckt da an Bildern dahinter, dass Prostitution derart schlimm ist. Für mich sind das gesamtgesellschaftliche Bilder, die suggerieren, dass das böse und unmenschlich ist.

Das hat sie dann irgendwie nicht zur Ruhe kommen lassen.

In den letzten 20 Jahren bin ich immer wieder mit dem Gedanken herumgelaufen, dass man darüber reden muss, wie Frauen im Sexgewerbe wahrgenommen werden. Natürlich durchschaue ich das viel zu wenig und habe, wie die meisten von uns, die Geschichten von Menschenhandel und Zwangsprostitution im Kopf. Das ist krimineller Missbrauch von Frauen und von jungen Mädchen. Ich habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass das nur eine Seite ist. Die andere Seite ist die Geschichte der jungen Abiturientin, die das freiwillig gemacht hat und auch keinen Zuhälter hatte. Ich habe sie lebendig nicht kennen gelernt, aber es war eine junge, gebildete Frau, die das nicht aus Mangel an anderen Möglichkeiten gemacht hat. Sie hat das offensichtlich gewählt, weil sie damit gut Geld verdienen konnte und glaubte, das gut trennen zu können. Ich finde, es muss endlich mal sein, dass wir differenzierter wahrnehmen und anfangen, miteinander zu reden und nicht übereinander oder gegeneinander. Diese Menschen sind marginalisiert und tabuisiert, ausgegrenzt und stigmatisiert. Es ist oft so, dass eine Prostituierte, die sich verliebt und ihren Beruf aufgibt, ihrem Partner nicht sagt, was sie früher gemacht hat. Diese Ächtung kann nicht sein und nach jesuanischem Vorbild muss man sagen: „Ich sehe dich, wie du bist und nehme dich erst einmal so an.“

Die Ariane aus Berlin, die zum Interview kommt, ist eine selbstbewusste Frau, die sich bewusst für diesen Beruf entschieden hat. Sie ist intelligent, fröhlich, kämpferisch und unglaublich sozial für die Frauen ihres Gewerbes und deren Rechte engagiert. Das gibt es eben auch. Sex und Prostitution wird doch überwiegend als etwas Schmuddeliges dargestellt.

Es gibt auch immer wieder Geschichten über Prostitution in der Ehe.

Ja, zum Beispiel Frauen, die ältere Männer heiraten. Die heiraten oft nicht aus Liebe, sondern wegen der finanziellen Absicherung. Bei denen gibt es aber keine Trennung zwischen privat und „Beruf“. Diese Frauen können nicht weglaufen. Das ist eine Vollinbesitznahme, während die Sexarbeiterinnen nach Feierabend nach Hause gehen können.

Sie haben in der letzten Zeit sehr viel recherchiert und gelesen. Wissen Sie etwas über die Männer, die Sexarbeiterinnen besuchen?

Das Familienministerium hat im Jahr 2004 eine Studie über Freier in Auftrag gegeben und finanziert, die sehr eindrücklich ist. Man geht oft davon aus, dass das Männergewalt gegen Frauen ist. Frauen werden zu Sexsklavinnen degradiert. Das ist in bestimmten Fällen leider auch der Fall. In der Studie heißt es aber, dass da im Regelfall ein Vertrag ausgehandelt wird, in dem bestimmt wird, was geht und was nicht geht. Die Frauen setzen da auch Grenzen. Die Männer werden in dieser Studie eher in der Rolle des Passiven beschrieben. In den Partnerschaften oder Ehen sind die Männer meistens in der Rolle des Aktiven, wie es dem gesellschaftlichen Männerbild entspricht. Die Frauen müssen stimuliert werden, die Frauen werden gestreichelt, den Frauen muss es gut gehen, damit der Mann zu dem kommt, wohin er kommen will, zum Orgasmus. Ich merke das auch immer wieder in Gesprächen mit jungen Männern, wie sehr die unter Leistungsdruck stehen, wenn sie „gut“ sein und eine Frau zufrieden machen wollen. Die Männer treten da auch ein Stück weit zurück und für viele Männer ist das völlig in Ordnung. Andere Männer wollen das anders. Es heißt, dass in Deutschland täglich 1 Million Männer Sexdienste in Anspruch nehmen.

Liegt das daran, dass Männer bei einer Prostituierten die Nummer eins sind?

Ja, die Sexarbeiterin ist meistens die Handelnde, und sie tut ihm gut. Sie versorgt ihn.

Der Freier ist entstresst und muss keine Leistung bringen.

Egal, was passiert, er ist gut, auch wenn er nicht gut ist. Er steht nicht in der Verpflichtung, die Frau zum Orgasmus zu bringen. Das spielt zumindest in diesem Zusammenhang keine Rolle. Manche Männer kommen auch nur zum Schmusen. Das wusste ich zum Beispiel nicht.

Die Männer holen sich da offensichtlich etwas, was sie zu Hause nicht bekommen.

In der Studie gibt es den Begriff der „abwesenden Frau“, der Ehefrau, die den Mann in seinen Bedürfnissen nicht wahrnimmt oder der Mann sich nicht traut, seine Bedürfnisse zu formulieren. Denn im Bereich der Sexualität gibt es immer noch viele Tabuisierungen. In der Schule wird nur der biologische Aspekt der Sexualität, aber nicht ihre Vielschichtigkeit unterrichtet.

Das ist aber zu einem großen Teil auch auf den Einfluss der Kirchen zurückzuführen.

Ja, da hat Kirche einen ganz großen Anteil dran. Sexualität findet unter der Bettdecke statt zum Zwecke der Fortpflanzung. Fertig. Das ist das gängige Leitbild von Familie, das ich auch manchmal mit „d“ schreibe, nämlich Leidbild. Das ist auch das Leitbild des Staates, das aber durchbrochen ist, weil wir so wahnsinnig viele Single-Haushalte haben und unsere Gesellschaft aufgeklärter und offener geworden ist. Trotzdem wirkt das noch nach. Aber die Schöpfungskraft der Sexualität ist eine wichtige, identitätsstiftende Kraft, die auch unabhängig vom Aspekt der Fortpflanzung seinen Platz haben muss. In der Evangelischen Theologie ist das schon lange anerkannt und so hat sich in der Evangelischen Kirche in den letzten 35 Jahren die befreiende Erkenntnis durchgesetzt, dass Sexualität „Quelle von Lebensenergie und Lebensfreude ist“. So steht es in den Grundsätzen der Evangelischen Lebensberatungsstelle, in der natürlich auch eine Sexualpädagogin arbeitet.

Deshalb finde ich es wichtig, mit selbstbewussten Sexarbeiterinnen zu sprechen, wie Ariane, und auch mit Mechthild Eikel vom Madonna e. V. aus Bochum, die Sozialarbeiterin ist und eine Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen leitet. Die wehrt sich übrigens auch dagegen, dass Prostituierte grundsätzlich in die Opferecke gestellt werden, dass es sich bei ihnen grundsätzlich um verunglückte Existenzen handelt. Sie wehrt sich auch gegen das Vorurteil, dass eine Prostituierte keine richtige Frau sei, dass sie einen seelischen Schaden haben müsse. Mit solchen Schablonen reduziert man die Frauen in der gesellschaftlichen Diskussion zum Objekt.

Was wäre, wenn es von heute auf morgen keine Prostituierten mehr gäbe?


Ich glaube, das wäre fatal. Da gibt es noch so viel zu verstehen und einzuordnen, letztlich auch zu achten und anzuerkennen. Davon ausgenommen ist natürlich der Missbrauch von Menschen. Die selbstbewussten Sexarbeiterinnen sagen, dass die meisten von ihnen das nicht aus Zwang machen. Es sei auch ein Märchen, dass eine Prostituierte ihre Tätigkeit aufgeben würde, wenn sie einen anderen Job angeboten bekäme.

Sie reden im Themengottesdienst also mit Frauen, die Sexarbeiterinnen sein wollen.

Ja. Und da gibt es Kritik im Vorfeld, dass meine öffentliche Diskussion mit Sexarbeiterinnen die Würde von anderen Frauen verletzen würde.

Diese „anderen Frauen“ sind aber Unbeteiligte!?

Ja. Da frage ich mich, welche Angst diese Frauen vor dem Thema Sexualität haben, dass da nicht öffentlich drüber gesprochen werden darf. Ich vermute, dass es da um eigene Verletzungen geht, die sie auf Sexarbeiterinnen projizieren. Aber genau das findet gerade statt. Die eigene Angst wird auf eine ganze Berufsgruppe übertragen.

Es gibt in Deutschland seit 2002 ein Gesetz, das Prostitution nicht länger als sittenwidrig einstuft, wodurch auch eine soziale Absicherung möglich geworden ist.

Eines der Themen wird deshalb auch die Prostituiertengesetzgebung sein. Deutschland ist da neben den Niederlanden mit am liberalsten in Europa, während in Schweden Prostitution eine Straftat sowohl für die Sexarbeiterin als auch für den Freier darstellt. Da haben sich die Feministinnen durchgesetzt. Ich meine, die strikten Feministinnen, für die das kriminell ist. – Aber deswegen hört das ja nicht auf.

Dann findet in Schweden die Prostitution vermutlich im Untergrund statt.

Ja, und da gibt es keinen Schutz für die Frauen. Mechthild Eikel vom Madonna e. V. sagt eindeutig, dass die Gesetzgebung in Deutschland einen Schutz für die Sexarbeiterinnen bietet. Sie können unabhängig und ohne Zuhälter arbeiten. Sie können jederzeit den roten Knopf drücken, die Polizei einschalten und Anzeige erstatten. Das wissen auch die Freier. Je klarer eine Gesetzgebung in der Anerkennung und dem Schutz von Rechten und Pflichten ist, um so sicherer ist das für Frauen, die ich diesem Bereich arbeiten.

Registrierte Sexarbeiterinnen sind auch Steuerzahlerinnen.

Ja, es sind Milliarden, die dadurch ins Bruttosozialprodukt fließen. Obwohl das für mich kein Argument ist. Mir ist es wichtig, einen Dialog mit selbstbestimmten Sexarbeiterinnen herzustellen, um zu erfahren, wo es Not tut. Wie kann man damit umgehen? Was sind Männerbilder? Was sind kaputte Männerbilder? Was stimmt in unserer Gesellschaft nicht? Das kommt bei denen ja alles an.

Prostitution hat es immer gegeben. Wenn es in dieser vermeintlich „aufgeklärten“ Zeit Männer zu Prostituierten zieht, liegt es dann daran, dass Frauen zu anspruchsvoll sind?

 

Ich denke, dass es genug Männer gibt, die das so empfinden. Es gibt aber auch genug Frauen, die nicht so extrem hohe Ansprüche stellen und auch ganz zufrieden sind. – In der Studie wurde auch gefragt, warum Männer lieber zu einer Prostituierten gehen, anstatt zu masturbieren. Ich gehöre noch zu der Generation, der man in der Jugend erzählte, dass bei der Masturbation Gehirnzellen abstürben oder man blind würde. Ich erinnere mich auch noch an die Moralkeule: Gott sieht alles. Aber schon damals war mein Bild geprägt von einem liebenden Gott, zu dem ich Vertrauen haben kann. Ich habe nicht verstanden, was Gott dagegen haben soll. Seltsamerweise machte mir aber meine verstorbenen Tante zu schaffen. Wenn die jetzt irgendwo ein Engel wäre und mich beim Masturbieren sehen würde, das wäre mir dann doch unangenehm gewesen. Ich fand es damals schon schlimm, sich mit einem so zentralen Bedürfnis verstecken zu müssen, an dem ich nichts Schlechtes finden konnte. – Aber zurück zur Studie: Die Freier haben ausgesagt, dass Masturbieren nicht zum Menschsein reicht. Der Mensch braucht das Gegenüber, die Ergänzung, die lebendige Haut, das Gestreichelt-Werden, das Wahrgenommen-Werden. Man ist auf ein anderes Wesen ausgerichtet. Die Wärme eines anderen Menschen ist einfach wichtig. Für eine begrenzte Zeit ist die Sexarbeiterin die Partnerin des Freiers. Danach gehen beide ohne Ansprüche wieder auseinander.

Es gibt aber auch Männer, die Prostituierte, oder generell jede Frau, auf ihre Sexualität reduzieren, und da kann es zu Gewalt und Verbrechen kommen.

Das frage ich mich immer wieder: Was läuft schief, dass Frauen vergewaltigt und ermordet werden? Das geht nur, wenn man das abgrenzen kann, dass das nur eine „Schlampe“ und „Hure“ ist, also kein wirklicher Mensch ist. Dann kann man sie töten. Wen man als ganzen Menschen wahrnimmt, kann man nicht töten.

Trägt denn die junge Sexarbeiterin, die Sie vor 20 Jahren beerdigt haben, eine Mitverantwortung für ihren Tod?

Nein, das verantworten unsere Gesellschaft und die Kirchen. Dabei muss man Religion und Kirche voneinander trennen. Die Kirche mag sie verurteilen. Von der Religion her gilt die Gotteskindschaft und jeder Mensch ist deshalb heilig.

Jetzt mal richtig bösartig und politisch unkorrekt gefragt: Auch eine „Nutte“ ist Gottes Kind?

Eine „Nutte“ ist Gottes Tochter. Wenn ich den Schöpfungsbericht ernst nehme, dann ist das so. Ihre Würde ist unverletzbar und wenn sie sagt, dass sie das macht, weil sie es tun will und nicht weil sie dazu gezwungen wird oder weil ihre Seele krank ist, dann muss ich das erst einmal achten. Auch wenn ich es nicht verstehe, es ist ihr Entschluss, der nicht meinem Wunschdenken und meinen Erwartungen entsprechen muss. In dem Bereich wird noch sehr mit Schwarz und Weiß und Gut und Böse gearbeitet. Das entspricht oft aber der Realität nicht.

Es ist richtig, dass Sexarbeiterinnen ihren Körper „verkaufen“, aber es gibt andere, die für ihren Job ihre Seele…


… Waffenhändler.


Werden die so stigmatisiert wie Prostituierte?

Gar nicht, die sind oft sogar angesehen, wie so manche Banker, die Waffenhändlern Kredite gewähren oder europäische Agrarüberschüsse nach Afrika exportieren und dort die ganze Landwirtschaft zerstören. Das ist kriminell bis zum Äußersten. Die verkaufen ihre Seele für höchstmöglichen Profit und dafür sterben in Afrika Menschen. Wer zulässt, dass durch seine Geschäfte Menschen sterben, hat seine eigene Seele als Mensch verkauft. – Dass man sich verkauft, gibt es in allen Berufen. Auch ich als Pfarrer kann mich verkaufen, indem ich für Sponsorengeld gewisse Dinge tue oder unterlasse. Oder ein Arzt, der einem Privatpatienten Behandlungen angedeihen lässt, die medizinisch betrachtet, nicht notwendig wären. Auch das ist ein Verkaufen. Die Frage ist, ob ich mich darauf einlasse oder nicht.

Noch mal zurück zur Studie über die Freier: Die sind zwar finanziell ein bisschen ärmer aus dem „Vertrag“ herausgekommen, aber fühlten die sich übervorteilt?

Nach dem, was ich bisher gelesen habe, geht es den meisten danach gut. Die gehen da gut weg. Selbst die Männer, bei denen es nicht geklappt hat. Die gehen da nicht als Versager weg. Bei einer Lebenspartnerin könnte das schon ein Beziehungsdrama auslösen, eine Prostituierte fängt das professionell auf. Es kann auch sein, dass der Mann angstbesetzt war, weil er befürchtete, im Bordell gesehen zu werden. Er kann auch nicht heimgehen und seiner Frau sagen: „Du ich war gerade im Puff und es war herrlich“. Es heißt in der Studie auch, dass Männer nach dem Besuch bei einer Sexarbeiterin für die Ehe neu stimuliert sein können. – Der Bereich ist so weit, dass ich viel zu wenig darüber weiß. Aber das kann sich nur ändern, wenn wir anfangen, darüber zu reden.

Sie wissen in diesem Moment noch nicht ganz, wohin die Reise geht?

Nein, da ist noch einiges offen. Im Vorfeld fiel mir schon auf, dass ich in Köln keine Sexarbeiterin gefunden habe, die sich öffentlich mit mir darüber unterhalten wollte. Die aktive Sexarbeiterin Ariane, die kommt aus Berlin. Das ist doch schon bezeichnend. Die möchten sich nicht öffentlich dazu bekennen. Bei der Begegnung mit Ariane wird für mich auch an erster Stelle die Achtung vor ihr als Frau und als Mensch stehen. Ich habe kein Recht zu beurteilen, ob das gut oder falsch ist, was sie da macht. Ich bin selbst auf die Gespräche gespannt.

Das Interview führte Helga Fitzner am 9. Mai 2012
Fotos: Simon Vogel