Monika Hauser

Gynäkologin und Gründerin
des Vereins medica mondiale

„Krieg ist immer auch Krieg gegen Frauen!“

Als Monika Hauser im Jahr 1992 von den Massenvergewaltigungen von Frauen und Mädchen während des Krieges in Bosnien hörte, war sie sehr wütend. Die Medien berichteten nicht nur nach ihrem Geschmack zu voyeuristisch darüber, ein Ende des Konfliktes war nicht abzusehen und Hilfe für diese Opfer war auch nicht in Sicht. Hauser hatte ihre Approbation als Ärztin in der Tasche und befand sich gerade in der Facharztausbildung zur Gynäkologin. Diese unterbrach sie, um in Bosnien mit gleichgesinnten Fachfrauen einen Ort zu gründen, in dem die betroffenen Frauen Schutz und Hilfe erhalten könnten. Ihr wurde allgemein davon abgeraten, die Lage sei zu unübersichtlich, es sei viel zu früh und der Krieg war noch nicht zu Ende. Trotzdem setzte sie es durch, dass im bosnischen Zenica ein Projekthaus eingerichtet wurde, in dem die Frauen medizinische und menschliche Betreuung erhielten.

Nach diesem Vorbild wurden in den Folgejahren Therapiezentren vom medica mondiale e. V. u. a. in Afghanistan, Kosovo, Albanien, Liberia und in Kooperation mit Partnerorganisationen in der Demokratischen Republik Kongo, in Uganda und Israel gegründet. Sie setzen sich für Frauenrechte und die Prävention von sexualisierter Kriegsgewalt ein. Die Frauen und Mädchen erhalten Zugang zu trauma-sensibler medizinischer Versorgung, psychosozialer Beratung, Rechtshilfe sowie ökonomischer Existenzsicherung.

Es gibt viele Faktoren, die Gewaltverbrechen gegen Frauen begünstigen. Von den über 65 Millionen Flüchtlingen weltweit sind die Hälfte weiblich. Deswegen müssen die Fluchtursachen viel effektiver abgemildert werden, es gibt frauenfeindliche Strukturen, die der Aufklärung bedürfen. Aus diesem Grunde sind Einzelprojekte oft nicht nachhaltig, weil ein ganzheitlicher Ansatz vonnöten wäre, der sich an den Bedürfnissen der weiblichen Betroffenen richten sollte und strukturelle Änderungen auf politischer Ebene nötig macht, wie die Anpassung des Internationalen Strafrechts. Der medica mondiale e. V. hat regionale Schwerpunkte, bildet Netzwerke, qualifiziert Fachkräfte und vieles mehr.

Monika Hauser hat ihr Leben der Unterstützung dieser Frauen gewidmet und viele Ehrungen dafür erhalten: 2008 den Alternativen Nobelpreis, 2011 wurde sie „Europäerin des Jahres“, 2012 folgte der Staatspreis des Landes NRW, 2017 die Paracelsus-Medaille, um nur einige zu nennen. Sie hat es geschafft, die Benutzung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe bewusster zu machen, die systematisch durchgeführt wird, um den Feind zu schwächen, indem die Gemeinschaft, vor allem aber die Stabilität der Frauen durch schwere körperliche und seelische Folgen nachhaltig zerstört wird. Gegen Frauen wird ein Krieg der eigenen Art aufgrund ihres Geschlechts geführt, was leider schon seit gewaltsamen Konflikten in der Antike Teil der Kriegsführung ist und damit auch noch entschuldigt wird. Der medica mondiale e. V. arbeitet an der Bewusstmachung der Problematik.

Das Gespräch führt Pfarrer Hans Mörtter, der sich seit vielen Jahren für Geflüchtete, darunter auch Frauen, engagiert und auch die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata  immer wieder thematisiert.

Fachbroschüre mit Grundsatzartikeln von medica mondiale

Webseite von medica mondiale

Text und Fotos: Helga Fitzner

 

Hans Mörtter: Erst einmal freue ich mich riesig, dass du hier bist auf unserem roten Stuhl. Wir stellen heute dich und den von Monika Hauser gegründeten Verein medica mondiale vor. Ich wollte dich nach deiner Motivation fragen, wie du auf dieses Frauenthema aufmerksam geworden bist und auch deine Lebensaufgabe damit gefunden hast. Ich nehme an, dass deine Großmutter da eine große Rolle gespielt hat.

Die Motivation setzte sich aus vielem zusammen, aber sexualisierte Gewalt und Krieg waren für mich schon vor Bosnien, also vor Herbst 1992, immer wieder präsent. Meine Eltern sind in den 1950-er Jahren als Arbeitsmigranten aus Südtirol in die Ostschweiz gegangen, weil Südtirol damals im Unterschied zu heute bitterarm war. In den Ferien waren wir immer bei meiner Südtiroler Großmutter und sie erzählte mir von der Gewalt, die sie erlebt hat. Das war wohl der Ursprung, dass sich bei mir so eine Art Sensoren entwickelt haben und ich schon früh wusste, dass Frauenleben und sexualisierte Gewalt irgendwie zusammengehören. Ich habe dann auch von Tanten gehört, deren Dienstherren übergriffig waren, wodurch ich recht früh darauf aufmerksam wurde. Als ich dann als junge Ärztin in diversen Kliniken gearbeitet habe, sei es im Regionalkrankenhaus in Südtirol, in dem ich mein Praktisches Jahr gemacht habe, als auch später in der Ausbildung zur Gynäkologin in der Uniklinik in Essen, habe ich von den Patientinnen immer wieder von sexuellen Übergriffen, von psychischer Gewalt durch ihre Väter, ihre Partner, ihre Onkel…

Da hake ich mal schnell ein. Die Ärzte sind ja die Götter in Weiß. Da kommt es doppelt schlimm: Die Frauen sind auf sie angewiesen, aber die schweigen dazu. Aber du hast nicht geschwiegen! Du hattest den Spitznamen „die rote Hexe“.

Ja. Das kam früh zusammen, dass ich auf der einen Seite das große Ausmaß von Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen und Mädchen gesehen habe, auf der anderen Seite die Strukturen, die mir klar aufgezeigt haben: ‚Schweig, darüber sprechen wir hier nicht‘. Im ländlichen Südtirol wie auch in der Uniklinik. Als ich nach Essen kam, hatte ich gedacht, dass diese Themen jetzt alle vorbei wären. Hier gäbe es eine aufgeklärte, emanzipierte Gesellschaft. Ich habe schon früh gewusst, dass ich Medizin nicht im üblichen schulmedizinischen Sinne machen will, sondern dass man auf das Leben der Patientinnen schauen muss, also der psychosoziale und psychosomatische Blick, dass die Erlebnisse, die die Menschen in sich tragen, mit ihrer gesundheitlichen Situation etwas zu tun haben und dass jetzt hier alles anders wird. Dann habe ich aber gemerkt, dass an dieser Uniklinik eigentlich die patriarchalischen Strukturen weitergingen und man sich nicht mit dieser Gewaltthematik auseinandersetzen wollte, und man mit dem Finger auf die gezeigt hat, die darüber gesprochen hat, und mich zum Schweigen bringen wollte. Ich habe mich in meinen Krankenhauszeiten radikalisiert. Durch diese Strukturen habe ich mich radikalisiert, weil ich wusste, dass ich so keine Medizin machen wollte. Das ertrage ich nicht, dass mit den Patientinnen so abwertend und respektlos umgegangen wird. Ich habe sehr respektloses Verhalten erlebt, dem ich wirklich etwas entgegensetzen wollte, was natürlich als junge Assistenzärztin oder als Medizinerin im Praktischen Jahr sehr schwierig ist. Ich habe mit den Frauen zu reden angefangen. Der katholische Pfarrer in meinem Heimatdorf in Südtirol kam irgendwann einmal zu mir und meinte, die Frauen würden ihm gar nichts mehr erzählen. Die würden nur noch sagen, dass sie mit der Ärztin im Regionalkrankenhaus reden, und das fände er doch sehr komisch. Warum ich denn die Frauen so aufwiegeln würde. Da kam dann die rote Hexe mit ins Spiel.

Das soll sehr lautstark zugegangen sein, weil die Leute draußen hören konnten, wie ihr diskutiert habt. Da sind die Fetzen geflogen.

Solche Szenen gab es. Man kommt, wenn man die Dinge beim Namen nennt, schnell in diese Situation, dass das nicht akzeptiert wird, sei es vom Pfarrer, sei es vom Chefarzt, später vom Politiker. Es geht durch die ganze männliche Bank sozusagen, dass die Realitäten nicht angeschaut werden wollen. Da war ich natürlich immer ein Dorn im Auge. Ein liberianischer Minister hat mir einmal gesagt, als wir unser Projekt in Liberia eröffnet und ihm ein paar Realitäten seiner weiblichen Bevölkerung erzählt haben: „You are a mosquito in my ear“. (Sie sind ein Moskito in meinem Ohr).

Noch einmal zurück zu deiner Familie. Du schreibst vom Onkel, der übergriffig war. Du hast dagegen gehalten und er sagte dir: ‚Sei nicht so kratzbürstig‘. Als zweites noch die Frage nach dem Großvater, der ja eigentlich der liebe Opa sein sollte, zu dem die Enkelkinder normalerweise ein besonders gutes Verhältnis haben. Wie hat sich das Bild des Großvaters geändert durch das, was die Großmutter erzählt hat?

Es war schwierig, das zusammen zu kriegen, dass er eben nicht der liebe Opa war nach allem, was die Großmutter über ihn erzählt hat. Das war eine Kluft, die ich nur schwer überwinden konnte. Was die Kratzbürstigkeit beim Onkel angeht, glaube ich, dass die Frauen meiner Generation das kennen, ich würde auch sagen, dass das bis heute so geht. Ein Cousin, ein Onkel, die Getätschel als harmlose Geste verkaufen. Gewalt beginnt immer da, wo die Frau oder das Mädchen sich schlecht bei fühlt, insbesondere wenn es keine selbst gewählte Umarmung oder Berührung ist. Ich habe schon früh gewusst, dass ich das nicht akzeptiere. Und das ist nichts Singuläres, was ich hier erzähle. Wenn ich hier in die Runde schaue und das Nicken der Frauen sehe, dann weiß ich, dass das viele erlebt haben und dass das etwas ist, was unsere Gesellschaft prägt. Es wurde erst 2014 die erste EU-weite Studie durchgeführt zum Ausmaß des Erlebens von sexualisierter Gewalt von Frauen in europäischen Ländern. Diese Studie hat nachgewiesen, dass jede zweite bis dritte Frau einmal oder mehrmals in ihrem Leben Gewalterfahrungen macht. Welches Land, meinst du, hat in dieser Studie die höchste Gewaltzahl der untersuchten europäischen Länder gehabt? (Allgemeines Achselzucken). Das ist ein Land, an das man zunächst einmal nicht denkt: Dänemark. Warum Dänemark? Weil Dänemark die aufgeklärtesten Strukturen hat, innerhalb derer die Frauen sich am ehesten trauen, zur Polizei zu gehen, in dem Wissen, dass sie dort auf weibliche Beamte treffen, die sensibilisiert sind, sich getrauen, einen Prozess anzustrengen. Die Frauen wissen, dass es dort Richter und juristisches Personal gibt, die nicht das Opfer angreifen oder lächerlich machen: ‚Du hast es doch auch gewollt. Warum bist du noch so spät am Abend’… und all das. Das ist tief in unserer Gesellschaft verankert, diese Mythen über sexualisierte Gewalt, dass die Frau oder das Mädchen irgendetwas getan haben muss und selbst daran schuld ist. Dänemark hat die aufgeklärteste Gesellschaft, wo die meisten Frauen zur Beratung gehen, und trotzdem hat es so viel Gewalt.

Deutschland ist eine Gesellschaft, in der der Geschlechterdialog noch nicht so weit vorangeschritten ist, wo auch die Dunkelziffer entsprechend hoch ist. Und in Dänemark wird es trotzdem noch eine Dunkelziffer geben.

So ist es. Die Vision einer Geschlechtergerechtigkeit, die das Ziel von medica mondiale ist, muss in der Reflexion einer Politik, einer Gesellschaft vorkommen, um überhaupt etwas verändern zu können. Wenn ich das gar nicht in meiner Vision drin habe, werde ich die Dinge auch gar nicht als Gewalt erkennen. Vielleicht noch ein Wort zum Begriff „Missbrauch“: Ich habe mit diesem Begriff große Schwierigkeiten, weil er voraussetzt, dass es für Frauen und Kinder einen „Ge-brauch“ gäbe. Gleichzeitig weiß ich, dass Überlebende den Begriff brauchen, weil der 20 bis 30 Jahre lang ihr Leben begleitet hat und sie dadurch ein Wort für das Verbrechen haben, das an ihnen begangen wurde. Ich denke in 20 Jahren sind wir vielleicht schon weiter, um die Dinge anders beim Namen zu nennen. Dann können wir sexualisierte Gewalt sagen. Früher hat man Dinge, die wir heute klar beim Namen nennen, gar nicht als sexualisierte Gewalt erkannt. Das hat immer auch mit den Reflexionen über den Zustand einer Gesellschaft zu tun.

Was müsste sich ändern? An Schulen zum Beispiel.

Auf allen Ebenen bräuchten wir Reflexionen. Schulen sind ein extrem wichtiger Ort. Wenn wir aber noch nicht einmal den Lehrerinnen Supervisionen zugestehen, dass sie über das sprechen können, was für sie belastend ist, wie können wir dann Reflexionsbereitschaft erwarten? Wenn wir diesen Beruf weiterhin so abwerten und nicht ordentlich bezahlen, wie können wir dann erwarten, dass auch Männer in diesen Beruf gehen. Also Männer sind einfach viel seltener Grundschullehrer, weil es ein abgewerteter Beruf ist, wie Pflegerin, Kindergärtnerin usw. All diese Berufe, die so wichtig sind, weil sie die Reflexionskraft der nächsten Generation eigentlich garantieren würden, sind bei uns schlecht angesehen, haben keinen großen Wert. Das heißt, man muss diesen Berufen erst einmal einen Wert geben. Es hilft auch nicht, nur Männer als Pädagogen einzusetzen, es müssen Männer sein, die ihr Geschlechterverhältnis reflektieren. Genau so wie die Frauen natürlich. Der erste Schritt wären nicht Module zur Reflexion und zur Fortbildung bei den Kindern, sondern erst einmal zur Ausbildung beim Lehrpersonal selbst. Damit die wissen, wenn sie sich dahin stellen, dass sie für die Kinder schon etwas darstellen. Alleine schon, wie eine Person dasteht und was sie verkörpert. Hier werden viele Möglichkeiten verpasst.

Beim Verhältnis von Krankenschwestern und Ärzten gibt es immer wieder Probleme. Erst einmal gibt es immer wieder mal ein Fisternöllche (kölsch für heimliche Liebeleien) zwischen denen in der Hoffnung, dass da was draus wird. Dann die sitzen gelassenen Frauen, Schwestern wie Ärztefrauen. Es spiegelt immer noch eine rückständige Gesellschaft wider.

Hans, da hat sich einiges verändert in den letzten Jahren, was sich aber kaum verändert hat, ist die Chefetage. In der Gynäkologie haben wir mehr als 50 % Frauen auf den Stationen, aber wir haben nur wenig Chefärztinnen auf den Top-Positionen. Ich kenne einige Kolleginnen, die zwar Oberärztinnen wurden, dann aber lieber weggingen und eine eigene Praxis eröffneten, weil allein die Arbeitszeiten in Krankenhäusern schon nicht familienfreundlich sind. Man kann auch sagen, lebensfeindlich sind, denn nicht alle Kolleginnen haben Kinder. Das gilt beileibe nicht nur in der Medizin. Insgesamt müsste man mit sich selber in besseren Kontakt kommen. Warum fällt das so vielen schwer? In erster Linie Männern, aber nicht nur. In Kontakt mit sich selber zu kommen, ist eine Herausforderung. Stattdessen ständig zu arbeiten bis hin zur Überarbeitung, kann einer solchen Selbstreflexion entgegenstehen. Gleichzeitig wissen wir, dass viel zu tun ist, deswegen arbeiten wir beide ja auch viel. Aber der Weg über den Kontakt zu sich selbst ist unerlässlich. Gerade um in sozialen Berufen so tätig zu sein, dass man sich immer wieder Rechenschaft darüber gibt, warum mache ich diese Arbeit eigentlich.


Du bist ja sehr früh in die Außenseiterinnenrolle geraten. Das kenne ich auch. Wie bist du damit klar gekommen, mit der Infragestellung deiner Person, die damit auch verbunden ist? Bis hin zum Verlust von Freunden. Und wo findest du dich selbst, wo ist da noch Raum in all dem für dich selbst, für deine Beziehung, wie schaffst du dir Raum?

Im Moment rase ich nicht so durch die Gegend. Dieses Jahr ist wirklich ein Ausnahmejahr. Für mich ist es aber ansonsten wichtig, die Kolleginnen vor Ort zu besuchen, miteinander im Dialog zu sein, es gibt mittlerweile ein weltweites medica-Netzwerk mit den Projekten von Bosnien, Afghanistan, Kongo, Liberia und Nord-Irak. Da ist der Austausch sehr wichtig, um zu erfahren, welche Strategien tragen, wo es Probleme gibt, wo man voneinander lernen kann. Das nährt meine Motivation sehr. Wir arbeiten zwar an verschiedenen Orten und haben verschiedene Rollen, aber wir haben alle das gleiche Ziel. Wir spüren da auch eine starke Solidarität in diesem Netzwerk. Mir gibt es natürlich auch Kraft, dass ich einen Partner habe, der seit 25 Jahren hinter mir und neben mir steht, und der damals auch entschieden hat, die Familienarbeit zu übernehmen. Das ist immer noch nicht selbstverständlich. Ich hätte diese Organisation nicht aufbauen können, eine lebendige Partnerschaft und ein Kind haben, wenn ich nicht einen Partner gehabt hätte, der das Management übernommen hat, und er ist mir ein wichtiges politisches Gegenüber. Ein Feminist, der patriarchalische Strukturen sehr klar durchschaut, und es tut manchmal gut, einen männlichen Ratgeber zu haben, der mich auf Dinge hinweist und mir hilft, männliche Realitäten zu durchschauen. Das ist für mich sehr wichtig und das schafft mir auch Räume, im Urlaub zwei Wochen mit der Familie mal ganz weg zu sein. Das nehme ich mir immer wieder zum Auftanken.

In dem Buch „Monika Hauser – Nicht aufhören anzufangen – Eine Ärztin im Einsatz für kriegstraumatisierte Frauen“ von Chantal Louis steht, wie ihr in der ganz heißen Phase kommuniziert habt, als du 1992 in Bosnien warst und du die Bestellliste von dem durchgegeben hast, was gerade nötig war. Dann hat dein Ehemann Klaus-Peter das besorgt. Da ward ihr so beschäftigt, das alles auf den Weg zu bringen, dass ihr euch gar nicht austauschen konntet: ‚Wie geht es dir? Schatz, ich vermisse dich‘. Das Miteinander-Tun hat eure Beziehung aber eher belebt.

Ich muss im Nachhinein noch einmal sehr anerkennen, dass Klaus-Peter (Kauner), der damals im WDR gearbeitet hat und Schwierigkeiten bekam, als er einen Aushang gemacht hat. ‚Hier gibt es eine ganz junge neue Organisation, Kollegen und Kolleginnen, unterstützt das doch‘. Das wurde aber in der Chefetage nicht sehr gern gesehen. Er hat dann im Studio die Berichte hereinbekommen, und als erstes gesehen, dass Zenica, die Stadt, in der ich das Projekt in Bosnien aufgebaut habe, granatiert wurde und er musste die Berichte für die Tagesschau bearbeiten. Das war für ihn sicherlich schwieriger, als für mich vor Ort. Diese Dinge passierten, aber wir haben einfach weiter gearbeitet. Wir haben dem ganzen Wahnsinn die Stirn geboten und die 20 bosnischen Kolleginnen und ich haben gemeinsam in dieser fürchterlichen Zeit ganz große Kraft gehabt. Mit dieser Kraft haben wir ein Projekt nach dem anderen aufgebaut. In den Jahren 1993/94 gab es überhaupt keine Frage, ob man aufhört oder ob man das aushält. Es war selbstverständlich zu bleiben und wir haben das gemeinsam bewältigt, und da war es für Klaus-Peter schwerer, der in Köln im Studio saß und solche Berichte sehen musste.

Die Anfangsgeschichte von medica in Bosnien ist spannend unter dem Aspekt, dass eine einzige Frau in der Lage war, so etwas auf den Weg zu bringen. Du hast nicht vom Hintergrund aus gearbeitet, sondern bist los gerannt. Du sagst aus medizinischer Sicht: ‚Das Heilen beginnt mit dem Hören‘. Ende 1992 hast du in Zenica nach Kontakten gesucht, um mit den Frauen zu arbeiten. Was hat dich dabei so „unter Feuer“ gesetzt? Du hast gar nicht mehr nach rechts oder links geschaut.

Ja, ich war sehr wütend: wütend über das, was den Frauen dort passiert ist, wütend über internationale Hilfsorganisationen, die nicht einmal planten, irgendwelche Hilfsstrukturen aufzubauen, im Gegenteil, als ich nachgefragt habe, ob ich da mitarbeiten kann, hörte ich: ‚Das sind doch geschändete muslimische Frauen, denen kann man sowieso nicht mehr helfen‘. Mir war das aus der Arbeit in der Uniklinik Essen schon klar, wo ich auch viel mit betroffenen Frauen gearbeitet habe. Ich hatte dort zusammen mit einer Psychologin ein interdisziplinäres Modellprojekt auf die Beine gestellt, das der Vorläufer für das Konzept der späteren medica-Arbeit war, und habe selbstverständlich gesehen, dass Frauen durch adäquate empathische Unterstützung ins Leben zurückkehren können. Mit diesem Konzept im Kopf bin ich nach Bosnien gekommen. Und da hätte mich auch nichts mehr aufhalten können, weil ich einfach wusste: Ich muss jetzt meiner Wut Ausdruck verleihen, indem ich etwas Konkretes auf die Beine stelle. Ich habe sehr schnell bosnische Fachfrauen gefunden, die sehr bereit waren, das mit mir gemeinsam zu machen. Man muss sich vorstellen, es war Krieg, auch die Fachfrauen waren apathisch, die wussten nicht, was da in ihrem Land los war, in dem in den letzten anderthalb Jahren aus Freunden und Nachbarn scheinbar auf einmal Feinde geworden waren. Die militärischen Fronten rückten immer näher, sie hörten natürlich in den Medien, was sich da Schreckliches in den Lagern zutrug, und die Stadt Zenica hatte über 120.000 Flüchtlinge aus Ost-Bosnien, die davon berichtet haben, was ihnen geschehen war. Die Krankenschwestern waren hochmotiviert, weil sie miterlebt hatten, dass Frauen, die durch die Vergewaltigungen schwanger geworden waren, in die Klinik kamen und der Chefarzt einen Schwangerschaftsabbruch abgelehnt hatte, und sich die Frauen danach das Leben nahmen. Diese Krankenschwestern wussten, es braucht einen empathischen Ort, der auf den Bedarf und die Bedürfnisse dieser Frauen ausgerichtet ist. Damit war der Grundgedanke von medica geboren: einen Ort zu schaffen, wo Frauen über das Geschehene sprechen können, wo sie wissen, dass sie gemeint sind. So schufen wir Konzepte, die auf sie ausgerichtet sind, und nicht auf die Bedarfe der Schulmedizin. Das haben wir peu à peu mit den bosnischen Kolleg:innen aufgebaut. 1993/94 war eine Zeit, in der wir ein Projekthaus eingerichtet haben, mit Räumen für Frauen und ihre Kinder, eine gynäkologische Ambulanz, Räume für psychologische Beratung. Danach haben wir einen Kindergarten für schwer traumatisierte Kinder eingerichtet. Wir haben auch ein ambulantes Fahrzeug organisiert, das wir mit einem gynäkologischen Stuhl ausgestattet haben, sind mit dem in die Frontgebiete gefahren und haben nach Frauen gesucht, die sich vielleicht versteckt hatten, um sie nach Zenica zu bringen. Wir haben viel politische Aufklärungsarbeit geleistet. Auch über das Radio, und da ständig Stromausfall war, wurden diese Sendungen x-mal wiederholt. Wir haben der Gesellschaft den Spiegel hingehalten: ‚Wenn ihr diese Frauen jetzt ausgrenzt, dann grenzt ihr einen Teil von euch selber aus. Es muss auf die Täter gezeigt werden, doch nicht auf die Frauen. Ihr habt die Verantwortung, dass die Frauen wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden, dass sie Unterstützung erfahren und dass sie praktisch neue Lebensperspektiven bekommen‘. Das alles haben wir schon relativ früh deutlich gemacht. Das eine war zur Unterstützung der Frauen, das andere war gesellschaftliche Sensibilisierungsarbeit, dass eben nicht die Frauen ausgegrenzt werden dürfen und alle ihren Beitrag dazu leisten müssen.

Am Anfang hattest du keinen Groschen in der Tasche. Da kam eine deutsche Ärztin einfach hin. Woher hast du das starke Vertrauen gehabt, dass das funktionieren würde?

Die Frage, erst anfangen zu können, wenn ich genug Geld auf dem Konto hätte, hat sich mir nie gestellt. Ich habe in meiner Wut Leute überzeugen können und bosnische Kolleginnen getroffen, mit denen ich das aufbauen konnte. Ich habe in Köln und in NRW Unterstützer und Unterstützerinnen gehabt, die entsprechende Schritte eingeleitet haben, um eine Liste aufzustellen, was man für ein Frauentherapiezentrum braucht. Ich habe mich vor Ort aber auch als Hochstaplerin ausgegeben, auf der Bank dort ein Konto eröffnet, ohne wirklich Geld zu haben. Es war gut, dass die Frauenreferentin von der Bundes-AWO erklärte: ‚Wenn du zurückkommst und ein gutes Konzept hast, dann werden wir dich finanziell unterstützen‘. Damals hat die ZDF-Sendung Mona Lisa für Frauen Geld gesammelt, und da es in Bosnien überhaupt keine Projekte gab, dem sie Geld hätten zuführen können, haben sie mir auf ein kleines zweiseitiges Konzeptpapier hin, 250.000 Mark gegeben. Mit diesem Geld habe ich dann alles eingekauft und bin mit einem 25-Tonner heruntergefahren, teilweise auf Umwegen, weil die Hauptrouten beschossen wurden. Der Lkw-Fahrer mag sich gedacht haben, diese Fahrt besser nicht angenommen zu haben. Den habe ich aber überzeugt. Der hatte aber auch eine bosnische Großmutter und das war der Grund, warum er das gemacht hat. Seine Bezahlung war es ja nicht wert, dafür erschossen zu werden. Auch über das Geld hinaus hat er gewusst, dass das etwas Wichtiges war. Es gab viele Checkpoints, nicht nur von Serben, sondern auch von Kroaten. Als er dort gefragt wurde, wieso er denn Musliminnen hilft und was er da wolle, sagte er, dass das auch Menschen seien und hat seine bosnische Großmutter erwähnt. Und wir sind dann mit unseren kostbaren Gütern tatsächlich angekommen.

Man muss sich also nur trauen. Vieles ist möglich. Wenn man eine Problemlage sieht, einfach losgehen und handeln. Alles andere kommt später. Ich kenne aus vielen Bereichen, dass erst einmal ein Plan erstellt wird und wenn man das nötige Geld nicht auftreiben kann, wird das Projekt nicht durchgeführt. Du machst das genau anders herum. Du handelst und die Energie und der Sog, die dadurch entstehen, sorgen für den Rest.

Die Puzzle-Teile haben alle gepasst dadurch, dass ich hochmotivierte Menschen getroffen habe. Heute sind wir eine große internationale Organisation mit über 60 Mitarbeiterinnen alleine hier in Köln, an die 200 Mitarbeiterinnen weltweit, viele davon Einheimische, die in den Projekten vor Ort arbeiten. Da kann man die Dinge nicht mehr dem Zufall überlassen und wir haben in den 27 Jahren auch ein entsprechendes Management gelernt und Strategien entwickelt.

In der Anfangsgeschichte musste aber alles sehr schnell gehen.

In einer Kriegssituation muss man sehr entscheidungsfreudig sein und die Dinge vorantreiben. Wenn man aber nachhaltige Arbeit machen will, dann braucht man ein großes Netzwerk. Wir haben es in den 27 Jahren geschafft, ein sehr tragfähiges Netzwerk auszubauen, Konzepte auszuarbeiten, die in die Kontexte der verschiedenen Länder gut passten und immer wieder modifiziert werden müssen. Wir bringen auch immer wieder die bosnischen, die afghanischen und die nordirakischen Kolleginnen zusammen, damit sie sich austauschen können, welche Strategien dort getragen haben, die vielleicht auch in einem anderen Kontext hilfreich sind. Selbst wenn wir unterschiedliche politische Konstellationen haben, an den Bedingungen und an den Widerständen sehen wir sehr viel Ähnlichkeiten. Dann ist es sehr wertvoll, wenn wir die Möglichkeit schaffen, dass diese Kolleginnen zusammenkommen können. Wenn sie erfahren, dass andere etwas geschafft haben, gibt das auch wieder neuen Mut und hilft auch mir, Stärke zu entwickeln, um dieses weltweite Netzwerk weiterentwickeln zu können.

Das Schlimme ist das Schweigen, das über allem liegt, auch durch die Angst, dass der Partner Schluss mit der Frau macht, wenn er davon erfährt. Es ist aber wichtig, diesen „gefrorenen Seelen“ (Zitat aus dem Buch von Chantal Louis) Raum zum Sprechen zu geben. Ihr habt den Begriff „War-rape-Survivor“ geprägt, Überlebende von Kriegsvergewaltigung.

Mir war schon früh klar, dass der Begriff Opfer nicht passte. Natürlich haben Frauen schreckliches Leid erlebt, aber sie haben die Kraft aufgebracht, der Gesellschaft die Stirn zu bieten: ‚Ja, das habe ich erlebt, aber ich lebe weiter! Das bestimmt nicht mein ganzes Leben‘. Auch hier in Deutschland ist es so, dass Frauen oft noch stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Sie werden als Opfer angesehen, obwohl sie so viel Stärke hatten, dass sie das alles bewältigen konnten. In Bosnien war die Situation umso dramatischer, als die Frauen oft noch ihre Kinder und die Alten dabei hatten. Sie haben die Kraft entwickelt, dass alle überleben konnten. Die Frauen haben alles Recht der Welt, Unterstützung zu bekommen. Ihr Selbst ist gedemütigt worden, es ist mit Füssen getreten worden, sie müssen medizinisch, fachlich unterstützt werden, aber auch sozial, dass es anerkannt wird als eine Menschenrechtsverletzung. Es ist aber die Gesellschaft, die diese Frauen ausgrenzt und mit ihnen nichts zu tun haben will. Wir sehen es im gesellschaftlichen, im medizinischen und auch im gerichtlichen Bereich. Wie viel Prozent der Frauen trauen sich überhaupt, das anzuzeigen bei dem System, das wir haben. Und im einstelligen Bereich liegt dann die Zahl der Täter, die tatsächlich verurteilt werden. Das ist ein massives Armutszeugnis für die deutsche Gesellschaft und die deutsche Justiz, dass wir keine Konzepte haben, die den Realitäten der Frauen und nicht nur dem Justizsystem entsprechen. In diesem Zusammenhang ist die Richterausbildung verheerend. Diese Fortbildung ist freiwillig. Es kann einfach nicht sein, dass jene, die mit so schwer traumatisierten Menschen arbeiten, keine Verpflichtung haben, sich über die Bedeutung von Traumata fortzubilden: ‚Was ist die psychosoziale Dynamik von sexualisierter Gewalt in dieser Gesellschaft?‘ Wir wissen, dass das mit Schweigen verbunden ist und dieses Schweigen müssen wir aufbrechen. Es kann sich nur etwas verändern, wenn wir diese Zusammenhänge verstehen. Wir müssen nicht nur auf die Frauen schauen, sondern auch auf uns und gemeinsam ein Bewusstsein entwickeln, dass die Frauen in unserer Mitte aufgenommen werden können und dass sie diejenigen sind, die Überlebensstärke bewiesen haben, und dass die Täter ganz klar verurteilt werden müssen.

Das Problem sind nicht die Frauen, sondern eine Gesellschaft, in der so etwas möglich ist.

Analog dazu: Albert Einstein hat gesagt: ‚Das Böse gibt es in der Welt, aber das Hauptproblem sind die, die das Böse zulassen‘. Das meinte er allgemein, wohl nicht feministisch. Um das feministisch zu interpretieren, müssen wir das Phänomen von Gewalt gegen Frauen allgemein anschauen, wobei wir dann auf die patriarchalischen Strukturen per se kommen. Die sexualisierte Gewalt ist die Spitze des Eisbergs und das massivste Symptom von patriarchalischen Gesellschaften. Wir haben immer noch Diskriminierung, wir haben immer noch ein Genderproblem. Da brauchen wir nicht nur nach Afghanistan oder anderswo hinschauen, das gibt es auch noch hier.

Die Weltgeschichte wird immer von Männern erzählt und die großen Feiern finden für die gefallenen Soldaten statt. Ich weiß aber auch von Soldaten aus Afghanistan, die mit ihren eigenen Traumatisierungen zu kämpfen haben.

Männer müssen stark, dürfen auf keinen Fall schwach sein und schon gar nicht traumatisiert. Für uns war es vor einigen Jahren sehr hilfreich, dass die Bundeswehr und das deutsche Verteidigungsministerium erkannt haben– ich sage das jetzt mal ganz überspitzt – dass Männer auch eine Seele haben und dass Männer auch traumatisiert werden können. Dann haben sie endlich psychologische Dienste für traumatisierte Bundeswehrsoldaten eingerichtet. Afghanistan ist so schief gegangen, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb. Doch heute noch müssen Soldaten darum kämpfen, psychologische Unterstützung finanziert zu bekommen. Man kann kaum so eine Kriegssituation überstehen, ohne solche posttraumatischen Symptome zu entwickeln vor allem, wenn der Soldat nicht weiß, ob er seinen nächsten Kontrollgang in Afghanistan überleben wird. Das ist auch in Deutschland nach wie vor ein Tabuthema, dass sich Männer psychologische Hilfe holen. Wir können diese patriarchalischen Strukturen aber abbauen und uns allen einen großen Gefallen tun, indem wir diese stereotypen Geschlechterbilder fallen lassen, wie Männer und wie Frauen zu sein hätten.

Männer können alles, und Frauen können alles. Ich bin überzeugt, dass sich die Welt dann verändern würde. Ich habe vorhin den Anblick des jungen Vaters genossen, der sein Kind da draußen gefüttert hat. Ich behaupte, dass Männer, die viel mehr in die Kindererziehung involviert sind, auch nicht mehr so einfach einen Krieg beginnen könnten. Das ist meine feste Überzeugung. (Applaus) Und daher wünschte ich mir, dass es viel mehr Räume gäbe, wo auch Männer in die Reflexion gehen können. Natürlich auch Frauen. Auch wir Frauen haben diese patriarchalen Strukturen so internalisiert, dass auch wir Feministinnen ein Leben lang damit zu tun haben. Aber wir haben in den letzten 30 bis 40 Jahren die Frauenbewegung entwickelt. Es war von den Frauen sehr mutig, diese Themen anzusprechen. Und es ist mutig bis heute. Aber wo gibt es die Männerbewegung? Es ist unerlässlich, dass sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln kann, für Geschlechtergerechtigkeit sowieso, und auch die Probleme, mit denen wir heute noch zu tun haben. Es wurden damals Milliarden in die Bankenrettung gesteckt. Was hat das mit unserem Leben zu tun? Im übrigen sind auch die rechtsextremen Tendenzen immer mit Frauenabwertung und Frauenhass verbunden. Immer. Auch da haben wir viel zu tun. Rechtsextremismus ist mit Sexismus und Rassismus gepaart. Wenn wir darauf einwirken, können wir mehrere Fliegen mit einer Klappe erwischen. Das würde dieses „Othering“ verändern, wo immer mit dem Finger auf den anderen gezeigt wird, anstatt auf sich selbst zu schauen.

Wie klein muss deren Selbstwertgefühl sein. So gut wie nicht vorhanden. Wenn man so viel Angst hat, die sich dann in Hass umdreht. Das ist auch irgendwoher gekommen.

Da kommen wir zum Thema der transgenerationalen Traumathematik. Die deutsche Gesellschaft hat den Ersten Weltkrieg erlebt und dann den Zweiten Weltkrieg. Wie sind diese Kriege in unserer Gesellschaft verarbeitet worden. Die Kölner Autorin Sabine Bode sagt: ‚Intellektuelle Dokumentationen und Berichte haben wir heute sehr viele, aber wo ist die emotionale Bearbeitung‘. Die individuelle und kollektive Bearbeitung dessen, was unsere Großeltern und Eltern erlebt haben und was sie uns transferiert haben. Diese massiven Traumata von Schuld und von Leid verschwinden ja nicht einfach, nur weil es einen Friedensschluss gibt. Das sehen wir auch in all den Kontexten, in denen wir heute arbeiten. Die Unterschrift unter einen Friedensvertrag bewirkt vielleicht, dass das Schießen aufhört, aber dann beginnt die Arbeit ja erst. Ich kenne Frauen aus allen Kontexten, wo wir arbeiten, die sagen: ‚Der Krieg war sehr schlimm, aber der Nachkrieg war noch schlimmer‘. Um auf die deutsche Situation zurückzukommen: All das, was nie verarbeitet wurde, und da gibt es unterschiedliche Historien in Ost- und in Westdeutschland, hat doch Auswirkungen auf die nächste Generation. All das nicht zu verarbeiten, kostet einen hohen Preis, nämlich weitere Traumatisierungen. Dazu kommt die patriarchalische Struktur. Da kommt beides zusammen. Jungs, die gedemütigt werden, müssen das auch irgendwie verkraften. Wer hat sie darin unterstützt, aus dieser Demütigung wieder herauszukommen? Ich glaube, dass viele Männer und Jungs sehr viele Ängste haben, die sie aber noch viel weniger zeigen dürfen als Frauen. Die patriarchalischen Strukturen helfen ihnen, sehr schnell zu erkennen, dass Männer es sind, die die Macht haben, und das ist dann immer wieder mit Gewalt verbunden.

Mir ist bei den älteren Frauen in unserer Gemeinde aufgefallen, als 2003 der Irakkrieg ausbrach, dass sie mitten im Gottesdienst anfingen zu weinen. Und danach begannen sie zu erzählen. Das war das erste Mal, dass das Schweigen hier gebrochen wurde. Wir machen hier ja auch Gottesdienste zur „vergessenen Generation“ von Kriegskindern und Kriegsenkeln, wie uns das prägt. Die Frauen erzählten dann von der Vergewaltigung, von der Flucht, von dem Horror, den sie erlebt haben. Zwei Drittel dieser Frauen hatten Kinder und Enkel, aber sie sagten unisono: ‚Orgasmus haben wir noch nie gehabt‘. Dieses Verstummen des eigenes Seins, der Bedürftigkeit, des Glücks, der Freude, wo alles nur noch zum Funktionieren wird. Und so werden deren Kinder auch erzogen. Und dann kommen sie irgendwann vielleicht ins Seniorenheim. Wenn sie unruhig werden, gibt es ganz schnell Sedativa. Die werden ruhiggestellt. Oder Psychopharmaka, wenn sie nachts schreien.

Die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen und die Kontrolle über ihre eigene Reproduktion ist bis heute ein Thema. Der Paragraf 219a zeigt uns, dass Frauen heute immer noch nicht selbst entscheiden können, wie ihre Reproduktion aussieht. Sie haben keine Kontrolle über ihren Körper geschweige denn die Generation der älteren Frauen, die von Sexualität nichts wussten, die niemand aufgeklärt hat und die natürlich funktionieren mussten als Frauen, die Kinder gekriegt haben. Das waren zwei völlig voneinander getrennte Dinge, selbst gestaltete Sexualität und das Kinderkriegen waren völlig voneinander losgelöst. Ich möchte nur betonen, dass das kein Thema der Vergangenheit ist, sondern das wir das konzentriert in den Paragrafen 218 und 219 bis heute haben. Viele alte Frauen haben viel Gewalt erlebt und haben die ihr ganzes Leben lang verschweigen müssen, weil die deutsche Nachkriegsgesellschaft nichts davon hören wollte. Eine hochbetagte Frau aus Leipzig hat mir erzählt, dass sie sich erst nach der Wende getraut hat, ihrem Mann von der Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten damals zu erzählen. Der sagte zu ihr: ‚Hätte ich das früher gewusst, hätte ich dich nicht geheiratet‘. Nachdem die beiden so viele Jahre ihres Lebens miteinander verbracht und Kinder bekommen hatten. Frauen hatten also viel Grund, nicht zu reden. Das hätte ja existentiell werden können.

Das hätte auch anders ablaufen können. Er hätte sie in Arm nehmen und für sie und mit ihr weinen können.

Ich habe viele solche Geschichten gehört, als ich in den 1990er und 2000er Jahren Vorträge hielt, da sind viele hochbetagte Frauen aufgestanden und haben gesagt, dass sie sehr genau wüssten, wovon ich spreche. Sie hatten das alles selbst erlebt und konnten nie darüber reden. Ich war immer sehr berührt, wenn alte Frauen 20 oder 30 Mark von ihrer kleinen Rente gespendet haben, weil es ihnen wichtig war, dass wir unsere Arbeit machen können: „damit die bosnischen Frauen in 50 Jahren nicht auch sagen müssen, dass sie nie darüber reden konnten“. Eine dahingehende Sensibilisierung der Gesellschaft ist ein Hauptaspekt unserer Arbeit, dass die Frauen aus dem Schweigen herauskommen. Und dass die Würdigung da ist, diese Frauen haben nie eine Würdigung dessen erlebt, was sie erlitten haben. Es ist auch nie ihre Stärke gewürdigt worden, die sie dann hatten, ihr Leben zu führen, Kinder zu kriegen und das Familienleben zu managen. Deswegen ist es uns wichtig, dass es Erinnerungsorte für diese Frauen gibt. Dafür kämpfen wir schon lange, wir haben fast vor jeder Kirche im Ort die Kriegerdenkmäler, wo wir der Wehrmachtsoldaten und der SS-Soldaten gedenken, von denen wir nicht wissen, ob sie in einem Dorf in Russland geschlachtet haben, die werden aber geehrt. Wo sind die Denkmäler für die Frauen? (Applaus). Ich spreche von deutschen Frauen, die von Alliierten vergewaltigt wurden, was lange ein Tabuthema gewesen ist. Es wurde hier im Westen nur über die russischen Soldaten geredet, aber nicht von amerikanischen, britischen und französischen Soldaten. Heute haben wir ganze Historienbücher darüber, dass auch die westlichen Alliierten vergewaltigt haben, das aber eine Historikerin erst vor fünf Jahren geschrieben hat (Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen, 2015). Gedenken aber auch derer, die durch die deutsche Wehrmacht und SS in den besetzten Gebieten vergewaltigt wurden, Partisaninnen, Frauen in den Konzentrationslagern. Es gab die Ausstellung „Flucht und Vertreibung“ des Hauses der Geschichte in Bonn vor vielen Jahren, da haben wir moniert, dass hier auch der Frauen gedacht werden muss. Das war komplett vergessen worden. Wir haben im Köln-Bonner Raum eine Kampagne gestartet und viele Frauen haben Leserinnenbriefe geschrieben, was ihnen passiert ist. Und dann gingen sie in die Ausstellung und haben ihr Schicksal wieder nicht vorgefunden. Der Kurator hat mir damals erklärt: ‚Wir wollten die Frauen nicht retraumatisieren, deswegen haben wir das Thema nicht mit hineingekommen‘. Das Gegenteil ist der Fall: Die Geschichte der Frauen nicht zu sehen und nicht zu würdigen, das war retraumatisierend. Wir haben zum 8. Mai eine Kampagne gestartet, die wegen der Corona-Situation nicht die Öffentlichkeit erreicht hat, die wir uns gewünscht haben. „Niemals nur Geschichte“ heißt diese Kampagne, die wir sicher auch noch ins nächste Jahr hereinbringen wollen. Denn was Frauen erlebt haben, ist niemals nur Geschichte und ihre Geschichten sind ein Teil von uns. Das wollen wir deutlich machen und wir sind schon seit letztem Herbst mit der Oberbürgermeisterin von Köln, Frau Reker, im Gespräch über einen Erinnerungsort hier in Köln für den internationalen feministischen Blick auf Frauen jeglicher Nationalität und hoffen, dass wir dazu weiterhin im Gespräch bleiben. Dazu brauchen wir auch gesellschaftliche und politische Unterstützung. Das kann dann in die nächste Runde gehen und wir brauchen Unterstützung, um das im nächsten Jahr realisieren zu können.

Ein Erinnerungsort für Überlebende von Vergewaltigungen: Da werden wir von der Lutherkirche auf jeden Fall dabei sein. Der Zweite Weltkrieg ist immer noch nicht zu Ende, er findet in den Altersheimen statt, in den Pflegestationen, in den Geronto-Psychiatrien. Mir ist es durch das Gespräch noch deutlicher geworden, wie wichtig es ist, dass wir den alten Frauen zuhören, dass wir sie sprechen lassen. Ihre Geschichten können uns dafür sensibilisieren, dass Krieg nicht mehr sein darf. Wir müssen den Krieg ächten und nach anderen Konfliktlösungen suchen.

Diese Strategien gibt es ja. Es gibt viele gute Modelle. Kosovarisch-serbische und kosovo-albanische Frauen haben sich damals vor den Friedensverhandlungen zusammengetan und sind zum UN-Friedensverhandler Martti Ahtisaari gegangen. Sie sagten ihm: ‚Du lädst zu den Friedensverhandlungen nur unsere Männer ein. Warum lädst du nicht uns ein? Wir sind miteinander in den Dialog gegangen, wir sprechen über Kompromisse. Unsere Männer bekriegen sich nach wie vor. Die sprechen noch nicht einmal miteinander. Wir kosovarisch-serbische und kosovo-albanische Frauen sprechen miteinander. Warum lädst du uns nicht ein? Wir haben hier Pläne, wie wir Frieden in unserem Land herstellen könnten‘. Der hat doch tatsächlich geantwortet: ‚Ich wollte die Kultur eures Landes nicht stören‘. Ein zweites sehr gutes Beispiel sind die liberianischen Frauen. Als die Friedensverhandlungen in Accra, Ghana, stattgefunden haben, haben sich liberianische Frauen verschiedener ethnischer und religiöser Zusammensetzung vor das Gebäude gesetzt und gesagt: ‚Wir lassen unsere Männer nicht heraus, bevor sie nicht zu einem Friedensschluss gekommen sind‘. Es gibt einen wunderbaren Film darüber: „Pray the Devil Back to Hell“, also, bete den Teufel in die Hölle zurück. Das ist die Geschichte dieser liberianischen Friedensfrauen, die vorgemacht haben, wie es gehen könnte. Dialog, Kompromissbereitschaft, Respekt vor dem anderen, aber auch der Mut, sich den eigenen Schmerz anzuschauen. Nur wenn ich das kann, kann ich über Friedenslösungen jenseits von Krieg nachdenken. Zu unserer Arbeit gehört auch immer wieder, die Bundesregierung daran zu erinnern, was für Kompetenzen es braucht, dass präventive Friedensarbeit möglich ist. Und dass Rüstungsexporte ganz bestimmt nicht dazu gehören und dass es eigentlich relativ einfach ist, welche Dinge man lassen und welche man tun sollte, damit es Frieden geben kann.

Ein wunderbares Schlusswort. Danke dir, danke Klaus-Peter, dass ihr hier seid. Wir machen zusammen weiter, würde ich sagen. Draußen ist der Stand vom medica mondiale e. V., und die freuen sich über jede Unterstützung.
Redigiert von Helga Fitzner