Tangogottesdienst

mit tango-musik und tanz

Warum Tango-Gottesdienst?

Im Tango Argentino vereint sich alles, was das Leben ausmacht. Sehnsucht, Einsamkeit, Leidenschaft, Erotik und Wut. Es ist ein Tanz, der sich zwischen Beherrschung und Unterwerfung abspielt, zwischen Begehren und Zurückweisung. Tango ist aber vor allem der getanzte Traum von einem besseren Leben.

Der Tango Argentino entsteht Mitte des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires und anderen argentinischen Hafenstädten. Dort kommen Menschen verschiedener Abstammung zusammen: Indios, Kreolen, Europäer. Sie gehören keiner bürgerlichen Oberschicht an. Die meisten sind Glückssucher, die der Armut und Hoffnungslosigkeit entrinnen wollen. So entsteht ein Tanz, der genau dieses Lebensgefühl widerspiegelt. Da sind die Gegensätze, die aus der multi-ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung entstehen, das soziale Elend, die Kriminalität und das Verlassensein. Viele der männlichen Europäer sind allein gekommen und wollen ihre Familien irgendwann nachholen. Den Tango tanzen sie meist mit Freudenmädchen, weil die den engen Körperkontakt zulassen, der aber im 19. Jahrhundert ein eklatanter Tabubruch ist. Der neue Tanz ist gesellschaftlich nicht akzeptabel, er stammt aus den Hafenkaschemmen und Bordellen. Erst ein halbes Jahrhundert später wird er in stark reglementierter Form als Standardtanz Tango (ohne Argentino) salonfähig.

Tango Argentino wird immer dann aktuell, wenn sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen auftun. Er ist ein Spiegel der Unsicherheit und Zerbrechlichkeit einer Welt, die sich in rasender Geschwindigkeit verändert. Der Tango Argentino symbolisiert enttäuschte Erwartungen, die Sehnsucht nach Heimat und Zuhausesein. Seit 2003 veranstaltet die Lutherkirche regelmäßig Tango-Gottesdienste. „Wie das gehen sollte, wussten wir am Anfang auch nicht so genau“, erklärt Mörtter. „ Die ersten zwei Tango-Gottesdienste habe ich mit Gustavo Llano gestaltet, der auch im ZDF-Fernsehgottesdienst bei uns getanzt hat“, erinnert er sich „In seinen Tänzen hat Gustavo auch schon ‚Flüchtlingsströme’ thematisiert. Und dann noch ‚Palästina’. Ich habe das ‚Mensch ohne Erde, ohne Heimat’ genannt. Und es hat geklappt. Mehr als 250 Menschen haben das begeistert und berührt miterlebt. Am Ende wagten sogar einige ein Tänzchen. Vielen von uns ging es so: Noch Tage danach waren wir erfüllt von Energie und Kraft.“

Es finden sich immer wieder wundervolle Musiker ein, die einzig in diesem Gottesdienst zusammen spielen. Immer dabei ist unser Kantor Thomas Frerichs. Maßgeblich an der Konzeption des Gottesdienstformats beteiligt war das Tangopaar Kathrin & André (mehr zu ihnen, siehe unten).

Das Format des Tango-Gottesdienstes wurde von der EKD, der Evangelischen Kirche Deutschlands, als Beispiel guter Praxis gewürdigt, im Rahmen von „Kirche im Aufbruch“.
Text: Helga Fitzner

Thema 2019: Drogensucht

Tangogottesdienst 2019 mit Pfarrer Hans Mörtter und Marco Jesse von VISION e. V. für innovative Drogenselbsthilfe, Foto: Sonja Grupe



Zu Gast: Marco Jesse vom VISION e. V. Verein für innovative Drogenselbsthilfe

Thema 2018: Die Würde der Obdachlosen

Tangogottesdienst 2018 zum Thema Obdachlosigkeit mit Pfarrer Hans Mörtter dem Tangopaar Ezequiel und Lena, Foto: Sonja Grupe


Mit dem Tangopaar Ezequiel  Quiroga und Lena Rütter vom Don Tango Club in Köln

Thema 2017: Vorurteile

Tangogottesdienst 2017 mit Pfarrer Hans Mörtter, den Sintis und Rappern Ricardo und Samjo und dem Tangopaar Kathrin und Andre, Foto: Sonja Grupe


Zu Gast waren die Zigeuner-Rapper Samjo und Ricardo

 

Thema Vertrauen
 

Am 3. März 2009 stürzten das Kölner Stadtarchiv und zwei angrenzende Gebäude ein. „An diesem Tag brach den Menschen in unserer Südstadt nicht nur im wörtlichen Sinn der Boden unter den Füßen weg“, sagte damals Hans Mörtter, der als Pfarrer und Notfall- und Katastrophenseelsorger nah dran war. „Die Menschen haben auch im übertragenen Sinn den Boden unter den Füßen verloren, haben Angst, nicht mehr getragen zu sein.“ Daher half er, einen Schweigemarsch mit anschließender Gedenkfeier für die bei dem Unglück getöteten jungen Männer zu organisieren. In seinem nächsten Talk-Gottesdienst tauschte Hans Mörtter sich mit dem Chef der Kölner Berufsfeuerwehr, dem Branddirektor Stephan Neuhoff, aus.

Fast logisch ergab sich für den nächsten Tangogottesdienst das Thema von ganz allein. Es ging zwar nicht mehr um den Einsturz des Archivs, aber um das grundsätzliche Thema Vertrauen. Es fand sich ein sechsköpfiges Tango-Orchester zusammen. Das Tangopaar Kathrin und André führte dieses Mal keine einstudierten Choreografien vor, sondern improvisierte. Vielleicht stärker ausgeprägt als bei anderen Tänzen, muss der Mann beim Tango Argentino führen und die Frau sich führen lassen. Kathrin wusste nicht, welche Schrittfolgen kommen würden und musste sich der Führung Andrés in noch stärkerem Maße als sonst anvertrauen.

Lesung Hebräer 11, 9 – 10
„Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“.

 

Auszug aus Pfarrer Mörtters Predigt
 

„Das ist die phantastische Geschichte von Abraham und Sarah. Die Sarah wird in der Bibel zwar nicht erwähnt – die ist schließlich von Männern geschrieben – aber Sarah gehört unverbrüchlich dazu. Ich finde diesen Gedanken so genial, dass Abraham als erfolgreicher Geschäftsmann und Herdenbesitzer, er war ein Großunternehmer in seiner Zeit, aus dem Glauben heraus auf Gott hört und tatsächlich geht. Gott sagte zu ihm: ‚Ich will, dass du jetzt gehst. Verabschiede dich nicht einmal von deinen Nachbarn und Freunden. Geh. Mit deiner Familie. Geh. Jetzt. Denn ich, dein Gott, werde dich führen. ’- Und Abraham geht wirklich. Deswegen heißt Abraham der Urvater des Glaubens bei den Muslimen, bei den Juden und bei uns Christen. Er glaubt und geht im Vertrauen den Weg, den er gehen muss, um eines größeren Ganzen willen, weil er Teil einer großen Geschichte, eines Sinnzusammenhanges ist. So wie jeder Einzelne von uns auch. Wie der Stein, der einmal ins Wasser geworfen, seine Kreise zieht, ohne dass wir das vielleicht merken. Dazu gehört auch, dass Abraham und Sarah durch ihren Glauben wie Fremdlinge waren in einem neuen Land. Sie lebten in einem Zelt, das jederzeit abbaubar war, um neu aufzubrechen.

Fremd, so erlebe ich mich auch immer wieder in diesem Land. Hier die Titelseite des Kölner Stadtanzeigers vom 20.06.2009: Über eine Milliarde Menschen hungern. Durch die Wirtschaftskrise erhöht sich die Zahl der Hungernden um 100 Millionen Menschen. Das sind 20 Millionen mehr, als Deutschland Einwohner hat. Mich entsetzt, dass das niemand in unserem Land schmerzt. Ich verstehe nicht das kollektive Schweigen angesichts dieses Entsetzens. Mir tut das weh.

Abraham geht. Er glaubt, dass es Wege gibt, die weiterführen, ganz anders und neu. Das habt ihr gerade beim Tangotanz von Kathrin und André gesehen. Der Tango funktioniert nur, wenn ich vertraue und mich darin versenke. Kathrin muss ihrem Partner André unbedingt folgen. Der Tangotänzer aber, der tanzt nicht nur für sich. Der tanzt noch nicht einmal MIT seiner Partnerin, er tanzt FÜR seine Partnerin. Das ist genau die Botschaft aller biblischen Geschichten. Ich kann vertrauen, dass ich als Mensch geführt werde. Gott sagt: Du bist nicht allein. Ich habe dich im Blick. Komm, geh mit mir. Geh. Ich bin da. Du bist mir wichtig.“

Um den Tango Argentino auch für die Gemeinde erfahrbar zu machen, luden Kathrin und André zu ein paar Übungen ein, in denen man sich paarweise auf das Thema Vertrauen im Sinne von Sich-Führen-Lassen einlassen konnte. So ließen sich etliche Gottesdienstbesucher*innen mit geschlossenen Augen durch die Kirche führen, durften aber auch ihre Fähigkeiten bei der Führung ausprobieren. Das machte Spaß und klappte ganz gut. Pfarrer Mörtter fasst das Thema des Gottesdienstes so zusammen: „Vertrauen, dass unser Leben auf Erfüllung angelegt ist. Achtsam zu reagieren auf die Impulse, die das Leben uns schenkt, die wir spüren können. Die Kostbarkeit des uns geschenkten und anvertrauten Lebens.“

Tango ist caminar. Tango ist gehen. Wisst ihr, wie Tango entstanden ist? En corazón – im Herzen. Menschen, die aus Europa geflohen sind, nach Buenos Aires, an den Rio de la Plata. Sie glaubten, dort eine neue Heimat zu finden, vor allem aber, satt zu werden. Und das jeden Tag. Groß war ihre Enttäuschung, über ihre Chancenlosigkeit. Arm, heimatlos, ohne Recht. Lange mussten sie gehen. So fingen einige an, Musik zu machen und zu tanzen. Dieses Urmenschliche, die Sehnsucht nach Heimat, nach Menschsein, nach Würde ist vom Tango nicht zu trennen. Auch heute nicht. Wir sind Menschen. Aber das wird nur spürbar, wenn wir auch das zulassen können – den Schmerz der anderen. Raúls Tanz, der Koffer, der Stuhl, die Einsamkeit, das Ausgeliefertsein, die Verzweiflung. Ein bisschen was konnten wir spüren. – Aber es war ein Tanz, und Raúl ist kein Asylant. Wir alle hier auch nicht.

Flüchtling oder Migrant. Man kann spüren, das Entsetzen, das er bekam, als er es nach zehn Tagen auf hoher See geschafft hat, zu überleben, und an einem schönen Strand auf den Kanaren ein Land wartet mit sich sonnenden, fetten Billigurlaubern – sag ich jetzt mal so.

An der Lutherkirche haben wir einen Illegalen im Augenblick, seit gut einem halben Jahr. Er kommt aus einem anderen Land, nicht aus Afrika. Ich sage nicht, woher. Aus diesem Land gibt es einige, die illegal in Köln leben. Es gibt auch welche, die legal hier leben. Aus diesem Land bringt er eine wunderbare Geschichte mit: Solidarität! Seine Landsleute halten halbwegs zusammen. Denn was passiert, wenn J., das ist der erste Buchstabe seines Namens, denn er hat einen Namen, krank wird oder ins Krankenhaus muss. Er hat einen Pass der Lutherkirche, in dem ein paar Sätze stehen und unser fast 200 Jahre altes Gemeindesiegel. Das ist ein gleichschenkeliges Dreieck mit zwei Händen, die sich reichen und drum rum steht: Lasst uns einander lieb haben. J. kann sich auf uns verlassen und auf manchen Polizisten oder manche Polizistin in Köln, denen er diesen Ausweis zeigt. „Ausweis“ heißt hier in Anführungsstrichen, denn er ist ja nichts wert, außer einem Appell: Lasst diesen Menschen in Frieden. Lasst ihn in unserer Stadt leben. Denn er kommt mehr oder weniger allein zurecht. Verdient sogar sein Geld und überweist jeden Monat seiner Familie im Heimatland das Geld, das sie dort brauchen, um überleben zu können. Aber es ist kriminell, einen solchen Menschen zu schützen. Es ist nach wie vor ein Verbrechen. Und doch nötiger denn je.

Ich habe vielleicht nicht die Antwort, aber der alte Prophet Jesaja gibt eine. Nach wie vor aktuell. In einer Vision beschreibt er im Lesungstext, den wir gehört haben, den Berg Zion, zu dem die Völker Wallfahrten machen werden, weil dort Frieden und Gerechtigkeit herrschen werden, so die Verheißung.

Vielleicht ist es gerade das – dass wir der Innenministerkonferenz alles überlassen – und sagen schön, die haben doch einen Beschluss gefasst, der zwar wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber immerhin, die wollen ja. Doch reicht das nicht. Wir haben Raum in Deutschland, und wir haben Arbeit, weil die andere Menschen nicht tun wollen. Und wir sind satt, wo andere hungern. Wir können Fisch essen, wo bei anderen Küsten alles leer gefischt ist, weil wir so unermesslich gierig sind. Das eine hat mit dem anderen was zu tun.

Ich träume davon, dass wir hier in dieser Kirche Tango tanzen als Reiche und Satte mit afrikanischen Flüchtlingen. Von Herz zu Herz. Ich träume davon, dass uns diese Frage bewegt uns nicht los lässt und ins Diskutieren bringt: Wie sieht eine Welt aus, in der nicht 191 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut sein müssen oder in der es kein Problem ist, 30 Millionen Schusswaffen wie in Afrika zu haben. Und Rheinmetall expandiert und entwickelt immer „perfektere“ Waffen.

Wir sind Menschen. Aber es droht uns zu entgleiten unser Menschsein mit all dem, was da geschieht. Jeder Flüchtling dieser Erde stellt das in Frage. Was für ein Wahnsinn ist das! Stellt euch die Kinder vor. Stellt sie euch vor an ihren Orten, in ihrem Leben, in ihrem Sterben. Ja, wir sind Menschen, aber wir sehen gar nicht so aus. Sonst wären wir mutig und standhaft, lebten in der Erkenntnis: Kein Tango ohne Stand. Kein Tango ohne Rückgrat und Perspektive. All das ist uns seit unserer Geburt als Menschen mitgegeben. All das besitzen wir, auf das wir beginnen zu gehen, in unser Leben hinein mit all denen, die auf diesem Planeten leben. Gehen wir! Amen.

Hans Mörtter

 

 

Hintergrundbericht zum Thema „Afrikanische Flüchtlinge“

Kein Preis zu hoch – Afrikanische Flüchtlinge stürmen die Festung Europa

Die Urlaubsidylle auf Teneriffa wird jäh unterbrochen. Wie schon so oft in diesem Sommer 2006 empfangen die Mitarbeiter des Rotes Kreuzes auf der Kanarischen Insel einen Funkspruch der Küstenwache. Wieder wurde ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen aufgebracht, wieder wird die Anzahl der Überlebenden durchgegeben und die der Gehunfähigen. Während das Boot auf die Insel zufährt, setzt sich das Räderwerk der Hilfsorganisation in Bewegung. Wenn die Flüchtlinge ankommen, ist alles bereit: Tragegestelle und medizinische Erstversorgung für die Kranken, heißer Tee und Kekse für alle. Menschen mit Mundschutz und Latex-Handschuhen helfen den Flüchtlingen von Bord, die nach rund zehn Tagen das erste Mal wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Während sie auf dem Boden sitzend ihren Tee schlürfen, ertragen sie matt das Blitzlichtgewitter der Fotografen und Urlauber. Vierzig Tage und ein paar Verhöre noch, dann haben sie es geschafft. Die spanischen Einwanderungsgesetze haben sich in Afrika schon lange herumgesprochen. Im Auffanglager dürfen sie nur vierzig Tage lang festgehalten werden. Wenn die Behörden bis dahin nicht herausgefunden haben, aus welchem Land sie stammen, werden sie sich selbst überlassen. Vierzig Tage überfülltes Lager sind eine Lappalie – im Vergleich: Sie müssen sich keinen unverantwortlichen Fahrern mehr anvertrauen, keine Schlepper mehr finanzieren, keine korrupten Beamten schmieren. Einige haben Tausende von Kilometern Wegstrecke hinter sich, vielleicht sogar eine Wüste durchquert, bevor sie überhaupt an der Küste Westafrikas, im Senegal oder in Mauretanien, angekommen sind. Dann kommt die riskante Überfahrt in nicht immer seetauglichen Fischerbooten. Nur 60 bis 80 Prozent überleben diesen letzten Teil der Odyssee.

Nein, dieser Haufen zerlumpter Afrikaner und Afrikanerinnen, der da brav im Gänsemarsch auf den Transportlaster zum Lager zumarschiert, besteht keineswegs aus Verlierern. Oft sind es nur die Stärksten und Besten, die die afrikanischen Familien aussuchen, um in Europa ihre Existenz zu sichern. Sie haben sie unter Entbehrungen zur Schule geschickt, damit sie Lesen und Schreiben lernen – in Afrika keine Selbstverständlichkeit. Einige haben sogar einen Beruf erlernt. Und gesund müssen sie sein, damit sie die schwere Arbeit, die Illegale verrichten müssen, auch schaffen. (Anm. d. Red. von Oktober 2013: Mittlerweile befinden sich auch zunehmend Frauen und Kinder auf diesen Booten).

Die Flüchtlinge haben ihre Papiere weggeworfen, kurz bevor sie ins Boot stiegen, damit sie nicht zurückgeschickt werden können. In Spanien müssen sie ihr Leben als „sin papeles“ fristen, als Menschen ohne Papiere. Die Tageszeitung, taz, hat am 29. September 2006 einen Brennpunkt zu dem Thema veröffentlicht und Ali Kadhim interviewt. Kadhim ist der Leiter der Albergue El Parque in Madrid, der Erstunterkunft für Flüchtlinge, die aufs spanische Festland ausgeflogen werden. Frage an Kadhim: „Das Rote Kreuz … bietet Sprachkurse, Rechtsberatung und Tipps für den Alltag in Spanien an. Bereitet das Rote Kreuz die Immigranten nicht mit staatlichen Geldern auf den schwarzen Arbeitsmarkt vor – und damit auf ein rechtloses Dasein mit Niedriglöhnen? ‚Der informelle Arbeitsmarkt ist ihre einzige Chance. Er macht 20 Prozent der spanischen Wirtschaft aus’, weist Kadhim diesen Vorwurf zurück… ‚Ohne Papiere können sie nicht einmal die wenigen Integrationsmöglichkeiten in Anspruch nehmen, die das Land biete’, sagt Kadhim. Denn nur, wer sich als Illegaler auf dem Einwohnermeldeamt einschreibt, wird kostenlos ärztlich versorgt. Wichtiger noch: Die Einschreibung beweist, wie lange man schon im Lande ist. Arraigo – Verwurzelung – heißt das Zauberwort. Wer nachweisen kann, dass er drei Jahre in Spanien gelebt und gearbeitet hat, hat laut Ausländergesetz das Recht auf eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung.“

Trotz dieser harten Bedingungen schaffen sie es, ihre Familien finanziell zu unterstützen. Es gibt weltweit 191 Millionen Migranten. Nach Schätzungen der Weltbank haben sie von ihrem Verdienst in der Fremde im Jahr 2005 insgesamt 232 Milliarden Dollar zur Unterstützung Angehöriger in ihre Heimatländer überwiesen. Das ist weit mehr als die gesamte Entwicklungshilfe.

 

 

Die EU setzt auf Abwehr

Als die Mittelmeerstaaten – im wesentlichen Spanien, Italien und die Insel Malta – wegen des anhaltenden Flüchtlingsstroms im Sommer 2006 Alarm schlagen, ist die Europäische Union überfordert. Es ist schwierig, sich auf eine gemeinsame Strategie zu einigen. Die Strategie ‚Abwehr’ erweist sich jedoch allgemein als konsensfähig. Mit Patrouillen-Booten will man den Flüchtlingen zu Leibe rücken und sie an der Überfahrt hindern. Zudem will man Druck auf die afrikanischen Staaten ausüben, damit sie die Flüchtlinge zurücknehmen. Uneinig ist man nur, aus welchem Fonds das finanziert werden soll. Schuldzuweisungen werden geäußert.

Im Jahr 2005 hat Spanien 700.000 Migranten nachträglich legalisiert und ihnen Aufenthaltsgenehmigungen erteilt. Das hat einen Sog-Effekt ausgelöst, kritisieren die einen. María Teresa Fernández de la Vega, Vizepräsidentin der spanischen Regierung, ist da anderer Meinung. In der Frankfurter Rundschau vom 30. September 2006 äußert sie: „Ich habe immer gesagt, dass wir keinen Sogeffekt haben, sondern einen Fluchteffekt. Im Senegal leben 58 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle. Brauchen die einen Sogeffekt?“

Rund 30.000 Flüchtlinge zählen allein die Kanarischen Inseln für das Jahr 2006. Es würden mehr werden, wenn die Witterungsverhältnisse weitere Überfahrten erlaubten. Die Zahl derer, die auf der Überfahrt gestorben oder ertrunken sind, kann nur geschätzt werden. Man weiß mit Sicherheit von Tausenden, mit Dunkelziffer sind es möglicherweise Zehntausende. Der Atlantik ist seit ein paar Jahren ein Massengrab.
Der EU-Justizkommissar Franco Frattini „droht“ laut dpa-Meldung verzweifelt: Wenn die EU ihren geplagten südlichen Mitgliedern nicht spürbar helfe, dann müssten die EU-Staaten sich die legale Einwanderung teilen.

Dann haben die diplomatischen Bemühungen der EU „Erfolge“ aufzuweisen. Der Senegal ist bereit, seine Flüchtlinge zurückzunehmen. Der Tagesspiegel vom 22. September 2006 berichtet: “Seit einigen Tagen startet täglich ein Passagierflugzeug von den Kanaren in Richtung Senegal, mit weinenden Senegalesen an Bord, die gefesselt in ihre Heimat zurücktransportiert werden.“ Die taz hatte am 14. September 2006 schon berichtet, was sich im Senegal abzeichnet: „Die Richter – die von der Regierung angehalten sind hart durchzugreifen – können Strafen von bis zu zehn Jahren und 7.600 Euro Bußgeld verhängen.“

Das verlorene Gedächtnis!?

„Wir haben nicht unser Gedächtnis verloren aus der Zeit, als wir das Land verließen, als wir nach Lateinamerika, nach Frankreich, Deutschland oder die Schweiz emigrierten“ beteuert María Teresa Fernández de la Vega, Vizepräsidentin der spanischen Regierung, in der bereits zitierten Frankfurter Rundschau. „Heute ist Spanien ein entwickeltes Land mit solider Demokratie, die Wirtschaft wächst über europäischem Durchschnitt. Vor gut 30 Jahren lebten wir in einer Diktatur, wir hinkten der europäischen Entwicklung hinterher… Spanien ist selbst ein Land der Emigration gewesen.“

Leider wird in der EU nicht nach dieser Erkenntnis gehandelt. Die Europäer haben scheinbar ihre eigene Geschichte vergessen. In den vergangenen Jahrhunderten hat es von Europa aus immer wieder große Einwanderungswellen in die USA oder nach Australien gegeben. Nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland kam es zur Massenflucht. Vor rund 70 Jahren war Deutschland an der Reihe. Da haben viele das Land verlassen und dem Hitler-Regime den Rücken gekehrt. Es waren jüdische Deutsche, aber auch Kommunisten, Künstler und Intellektuelle. Deutschland, einstmals das Land der Dichter und der Denker, verkam geistig und kulturell in dieser Zeit.

Europa treibt Afrika in den Ruin

So ergeht es auch den afrikanischen Ländern, weil die Besten von ihnen abwandern und damit ihre Länder teilweise der Willkür der Ungebildeten, Korrupten und Kriegsherren überlassen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte am 7. September 2006 alarmierende Zahlen: „Daß Migration schlimme Folgen für die Herkunftsländer haben kann, zeigt der Weltbevölkerungsbericht am Beispiel der Abwanderung ausgebildeter Krankenschwestern, Hebammen und Ärzte aus den maroden Gesundheitssystemen ihrer Länder… Aus Ghana etwa seien im Jahr 2000 doppelt so viele Krankenschwestern ausgewandert, wie dort ihren Abschluß gemacht hätten… In der britischen Stadt Manchester arbeiten mehr malawische Ärzte als in ganz Malawi.“

Doch nicht nur durch die abgewanderten Fachkräfte haben wir zur Verschärfung der Situation in Afrika beigetragen: Die taz vom 16. Juni 2006 titelt: „Wie sich die EU ihr Flüchtlingsproblem selber schafft“ und klärt auf. „Europas Gewässer sind fast leer gefischt. Um ihre Fischerei am Leben zu erhalten, schickt die EU ihre hoch subventionierten Fangflotten immer öfter vor die Küste Afrikas. So treibt sie die Fischer Westafrikas in den Ruin – und damit in das Geschäft mit der illegalen Migration nach Europa…. Die’„Atlantic Dawn’ aus Irland (eine schwimmende Fischfabrik)… holt pro Tag bis zu 400 Tonnen aus dem Wasser; dafür bräuchte ein lokaler Kleinfischer zehn Jahre. Nach Angaben des World Wide Fund for Nature gehen 80 Prozent des Fischfangs vor Westafrika seit 1960 auf das Konto ausländischer Flotten“.

In einem Lied von Klaus dem Geiger heißt es: „Du bist arm, damit ich reich sein kann“.

Text: Helga Fitzner

 

 

 

 

Das Tangopaar Kathrin & André gestaltet seit vielen Jahren regelmäßig den Tangogottesdienst mit. Kathrin Rosner (* 1975 in Bochum) und André Langfeld-Rosner (* 1967 im Kölner Severinsklösterchen) tanzen schon seit 1990 zusammen. Beide hatten als Teenager mit der Tanzschule angefangen und machten später gemeinsam Turniertanz. 1997 lernten sie den Tango Argentino kennen, den sie seit 1998 auch unterrichten. Da der sich von der Turniersportart Standardtanz erheblich unterscheidet, verschrieben sie schon bald dem Tango Argentino, weil sie dort Improvisationen, Ausdruck und Gefühl einbringen können, was im Standardtanz in der Form nicht möglich ist.

 

Ihre Tangolehrerin Norma Raimondi lehrt sie zusätzlich Modern Dance und die Russin Inna Aleksiev vom Bolschoi-Ballett unterrichtet sie im Klassischen Ballett. „Das ist nötig für die Bühnenpräsenz, wenn man in einer Show einen ganzen Abend lang bestehen will“, sagt André.

 

2006 kam der Kontakt zu Pfarrer Hans Mörtter von der Lutherkirche zustande. Da gestalteten sie das erste Mal den Tango-Gottesdienst mit. „In den Tango-Gottesdiensten versucht Hans Mörtter immer wieder, etwas für den Menschen heraus zu lesen. In dieser menschlichen, praxisnahen Anwendung liegt für uns der Reiz, den Tango mit dem Gottesdienst zu verbinden“, erklärt André.

 

Seit 2007 unterrichten sie Tango Argentino für Anfänger:innen und Fortgeschrittene in der Lutherkirche. Ebenfalls seit 2007 findet mehrmals im Jahr ein Tangosalón statt, bei dem nach einer Stunde Práctica in feierlichem Rahmen getanzt wird.

Im „Zivilberuf“ ist André Ingenieur für Flugzeugbau und Kathrin organisiert die Tangokurse und Auftritte, und ist Trainerin für Pilates und Faszientraining.

 

 

 

„Beim Tango geht es darum, die Füße auf dem Boden zu halten und die Quelle nicht aus den Augen zu verlieren.“


Sie haben als Jugendliche zunächst ganz „normal“ Standard getanzt und anschließend mit Turniertanzen weitergemacht. Wie sind Sie auf den Tango Argentino gekommen?

André
Da kamen zwei Sachen zusammen. Das Standardtanzen ist eine Sportart, bei der es um streng reglementierte Figuren in festen Abläufen geht. Da gibt es wenig Spielraum für Kreativität und Ausdruck. Und eines Abends – jetzt wird es richtig unromantisch – haben wir vor dem Fernseher gesessen und auf ARTE einen Themenabend über argentinischen Tango gesehen. Im Anschluß wurden Tangofiguren zum Nachtanzen gezeigt. Daraufhin brachten wir uns die ersten Schritte selber bei. In einer normalen Tanzschule wird der Tango Argentino nicht unterrichtet. So sind wir eines Tages an Norma Raimondi geraten. Die hatte den Tango Argentino frisch von Argentinien nach Köln gebracht und den Don-Tango-Club eröffnet.

Kathrin
Wir haben parallel eine Zeit lang immer noch Standard getanzt, aber irgendwann passte das mit unserer Tanzphilosophie nicht mehr zusammen und wir mussten uns entscheiden. Ich hatte angefangen, in den Quickstep Verzierungen einzubauen, weil mich die Musik dazu inspiriert hatte. Da hieß es: „Was machst du denn da!“. Das passte zum Standardtanz überhaupt nicht, aber beim Tango Argentino sind Verzierungen ein wichtiges Element, um die Musik zu interpretieren. Beim Tango Argentino ist die Tanzhaltung genau andersherum als beim Standardtanzen, sehr intim, weil die Oberkörper ganz eng zusammen sind. Das geht im Standardtanz nicht.

André
Mit dem Tango Argentino ging es dann so weiter, dass Norma uns fragte, ob wir uns vorstellen könnten, ihre Assistenten zu werden und für die Bühne zu arbeiten. Dadurch eröffnete sich uns, was wir beim Standardtanz vermisst hatten: Schauspielerei, Theatralik, tänzerischer Ausdruck und Musikarbeit. Da hat Norma uns ganz schön geschliffen. Am Anfang gab es eine Choreografie, die wir 126 mal tanzen mussten, bevor sie zum ersten Mal aufgeführt werden konnte. Der Aufwand war immens, aber wir hatten schon bundesweit eine Reihe von Auftritten.

Machen Sie das mittlerweile hauptberuflich?

André
Das hatten wir uns tatsächlich überlegt. Ich bin ausgebildeter Ingenieur für Flugzeugbau. Aber aus Vernunftgründen haben wir uns entschieden, einen Lohn- und Brotberuf zu behalten. Tango-Unterricht und Auftritte sind aber zum Zweitberuf geworden. Doch nicht nur die Beschäftigung mit dem Tango, sondern auch Tanz im allgemeinen wurde für uns immer wichtiger. Irgendwann meinte Norma dann: Ihr braucht jetzt auch noch Modern Dance und Klassischen Tanz, um den Körper auszubilden und den Ausdruck zu verbessern. Das machen wir jetzt seit mehreren Jahren.

Frage
Beim Tango Argentino sind die Aufgaben klar verteilt: Der Mann „führt“ und die Frau „folgt“. Das hat in unserer feministisch angehauchten Zeit schon einen komischen Beigeschmack.

André
Da möchte ich einen argentinischen Lehrer von uns zitieren: „Diese Dominanz, die der Mann beim Führen angeblich hat, ist völliger Quatsch. Ein Paar besteht zu 50 % aus dem Mann und zu 50% aus der Frau. Sonst funktioniert dieses Team Paar überhaupt nicht.“ Meine Tangopartnerin muss genau so gut folgen können, wie ich führen kann.

Kathrin
Es gibt viele Momente im Tango Argentino, bei denen die Dame der Motor für eine Bewegung ist. Die Musikarbeit liegt in solchen Momenten komplett bei ihr, wenn der Herr, zum Beispiel, nur auf einem Bein steht und sich von der Dame drehen lässt. Der Herr hat als führender Teil zwar diesen Vorschlag gemacht, aber wie die Dame das dann ausführt, überlässt er ihr. Ich kann auch zwischendurch Freiräume für mich einfordern, um Verzierungen zu machen. Daraus entsteht ein Dialog im Paar.

 

Tango Argentino zwischen Klischee und Wirklichkeit


Der Tango Argentino, wie man ihn aus den Medien kennt, wirkt aber nicht sehr dialogisch. Da prickelt es auch immer vor Erotik…

André
… ich störe mich immer an dem Begriff „Erotik“. Es ist keine Erotik, es ist eine Sinnlichkeit. Erotik geht zu sehr in die eine Richtung. Tango ist subtiler. Ich muss mit der Frau gar nichts zu tun haben. Die kann mir, überspitzt formuliert, nach den drei, vier Minuten Tanz völlig egal sein. Ich habe mit ihr einen schönen Tango vollbracht und das war es. Erotik ist ein Klischee, das der Tango Argentino leider mit sich herumträgt, dass die Frau in einem geschlitzten Kleid und mit einer Rose zwischen den Zähnen übers Parkett geschleift wird. Das hat mit dem eigentlichen Tango Argentino aber nichts zu tun. Es geht in erster Linie um die Musik und deren tänzerische Umsetzung. Da arbeitet man auf mehreren Ebenen. Ich kann Kathrin die „Geige interpretieren“ lassen, während ich das „Klavier tanze“ oder umgekehrt. Sie ist meistens das helle Instrument. Der Herr ist z. B. oft das Bandoneon, weil das kräftige, taktbezogene Töne sind.

Kathrin
Das ist wirklich subtiler. Mein absolutes Tango-Highlight-Erlebnis geschieht ganz selten, aber manchmal gibt es einen Moment, wo wirklich alles stimmt. Wo man den Eindruck hat, jetzt führt der Partner genau das, was auch ich in der Musik spüre und fühle. Das ist so ein Gefühl der Gedankenübertragung. Da entsteht eine absolute Harmonie, die für mich dann immer wieder etwas Besonderes ist: Wenn man sich völlig auf einer Wellenlänge mit dem Partner befindet.

Sie stecken so viel Engagement und Zeit ins Tanzen. Was würde passieren, wenn über Nacht ein strenges Gesetz erlassen würde, dass den Tango Argentino verböte?

André
Och, schade. Dann wären wir über Nacht arbeitslos. Und auch sonst wäre das für uns eine mittelschwere Katastrophe.

Kathrin
Ich glaube, dass die Szene so engagiert wäre, dass sie im Untergrund weitermachen würde.

André
Ja, das glaube ich auch. Dann würde der Tango Argentino wieder dahin zurückkehren, wo er herkam, in den Untergrund.

Kathrin
Wir kennen so viele Leute, die sich ein Leben ohne Tangotanzen nicht mehr vorstellen können. Es gibt auch viele, die nahezu jeden Abend Tangotanzen gehen. Für die ist das schon eine Katastrophe, wenn ihre Lieblings-Milonga Sommerpause macht.

Was genau ist es, was in diesem Augenblick fehlen würde?

André
Das ist nicht nur der Tanz, es ist auch ein Gefühl, was dann verloren ginge. Deshalb bin ich sicher, dass der Tango Argentino in den Untergrund gehen würde, selbst wenn mit Verfolgung und Verhaftung zu rechnen wäre. Aber was ist das genau!? Das geht in mehrere Richtungen. Zum einen geht es um Verkleiden. Aber nicht nur äußerlich, man taucht in eine andere Zeit ein.

Kathrin
Es entsteht so eine Art Parallelwelt.

André
Ja. Man schlüpft in eine andere Rolle. Das ist für mich als Rheinländer besonders schön, weil der Rheinländer sich grundsätzlich gerne verkleidet. Auf eine harmlose Art und Weise kann ich eine andere Rolle spielen.

Kathrin
Vielleicht auch wieder eine klassischere Rolle spielen.

André
Vielleicht, weil es eine Sehnsucht nach Führen und Folgen gibt. Auch wenn das jetzt provokativ klingt, manche Frauen haben von der Emanzipation die Nase voll. Sie würden sich gerne, auch wenn das klischeehaft ist, mal wieder anlehnen und führen lassen. Und mancher Mann sehnt sich danach, auch mal eine Frau mit Verantwortung zu führen. In der realen Welt haben wir eine andere Rollenverteilung. Die Frau kann ein genau so guter Vorgesetzter sein wie ein Mann.

Wir leben in einer Welt, in der vieles nicht mehr klar definiert ist. Beim Tango Argentino ist alles klar definiert. Macht das einen Teil der Faszination aus?

André
Jeder hat seine Regeln, innerhalb derer man sich bewegt. Aber – innerhalb dieser Regeln ist es keine definierte Sache, da hat man alle Freiheiten.

Kathrin
Eine Tangotänzerin, die nach Argentinien ausgewandert ist, sagte mal: „Wenn ich Tango tanze, kann ich mal wieder so richtig Frau sein. Vom Verhalten her, von der Kleidung her.“ Mir selbst ist schon passiert, dass ich auf der Straße Kopfschütteln geerntet habe, wenn ich in „Tangokleidung“ zu einem Ball unterwegs war. Wie kann man nur so herumlaufen, mit Netzstrümpfen und auch sonst so herausgeputzt. Das ist beim Tango Argentino absolut normal.

Das klingt ziemlich lustvoll.

André
Der Mann kann den Nadelstreifenanzug herausholen, er kann sich Gel in die Haare schmieren, alles das, was man in den Filmen sieht. Dann kommt natürlich noch der Spaß an der Bewegung dazu und dass man einen Menschen im Arm halten und sehr eng berühren kann. Der Tango Argentino funktioniert nur mit einer ehrlichen Umarmung. Ich kann keine Umarmung spielen.

Über die Sehnsucht nach Nähe

Hat das mit dem Zulassen von Nähe zu tun?

André
Ja. Es geht auch um das Zulassen von Nähe. Vielleicht sucht man das auch. Ich sage immer im Unterricht: Im Tango gibt es kein Vielleicht. Es gibt ein Ja oder Nein, ein Schwarz oder Weiß. Tu es oder tu es nicht. Dazwischen gibt es nichts. Grauzonen funktionieren nicht. Das ist auch eine Sache, die die Leute bei einem Verbot des Tangos vermissen würden. Sie suchen unverfänglich einfach mal Nähe.

Diese Nähe ist aber auch oft wieder mit Loslassen verbunden, denn nach dem Tanz, nach der Verkleidung ist es wieder anders.

André
Genau. Man sieht sich nächste Woche wieder. Vielleicht aber auch nicht.

Kathrin
Es geht aber auch darum, sich in einer Gemeinschaft aufgehoben zu fühlen. Wir haben das schon häufiger erlebt, zu Hause oder auch im Urlaub, wenn wir Tango tanzen gehen, gehören wir sofort dazu. Es wird keiner ausgegrenzt. Man akzeptiert sich sofort. Man duzt sich sofort. Man kennt sich oft Jahre lang. Dabei weiß man manchmal gar nicht, was der andere beruflich macht. Es zählt in dem Moment nur die Person.

André
Gemeinschaft ja, aber ohne Klüngel, ohne Vereinsmeierei. Das hasst der Tangotänzer. Auf Kegelfahrt kriegt man den nicht.

Da sind schon einige Aspekte zusammen gekommen. Wir haben das Spielerische, das Sinnliche, die Verkleidung, das Element der Gemeinschaft, das Zulassen von Nähe. Das alles ginge verloren, wenn der argentinische Tango verboten wäre.

André
Ja, das ist ein ganzer Haufen. Es gibt außer beim Tango Argentino auch keinen Tanz, bei dem man so eng mit den Beinen aneinander vorbeitanzt. Wo finden sonst diese arabeskenhaften Beinbewegungen statt? Alles mit Respekt vor der Dame! Da ist nie etwas Anrüchiges dabei.

Kathrin
Ein ganz wichtiger Aspekt ist die Musik. Tangotänzer hören unwahrscheinlich viel Musik, weil das für die Interpretation beim Tangotanzen ungeheuer wichtig ist. Es gibt eine große Fülle von Musikstücken und wer sehr lange tanzt, kennt die meisten auswendig und weiß deshalb auch die Akzente in der Musik zu interpretieren.

André
Dann noch die Hoffnung, die Harmonie, von der Kathrin eben sprach, irgendwann mal wieder zu erleben.

“Tango ist wie das Leben – heute so, morgen so“

Ist Tango Argentino eine temporäre Weltflucht?

André
Ja, daraus ist er entstanden. Das ist sein Ursprung.

Kathrin
Tango Argentino ist aber auch einfach Bewegung. Man kann sich austoben, man kommt auch mal ins Schwitzen.

Gibt es etwas, was den Tango ersetzen könnte?

André
In dieser Bandbreite wohl nicht. Das ufert in so viele Bereiche aus, dass ich nicht sagen könnte, was das vollständig ersetzen könnte. Man würde uns zu Maschinen degradieren. Wir würden morgens antraben zum Beruf und abends nach Hause kommen. Fertig. Man müsste sich etwas anderes suchen. Aber was?

Kathrin
Mir würde das Kennenlernen von anderen Kulturen fehlen. Wir haben mehr Geduld und Toleranz für andere Kulturen entwickelt.

Was ist an der südamerikanischen Mentalität der Argentinier.innen anders?

Kathrin
Vieles ist einfach nicht mehr so wichtig, was wir früher als wichtig betrachtet haben. Zum Beispiel, dass man auf Biegen und Brechen pünktlich anfängt. Man betrachtet vieles entspannter.

André
Darin ist der Kölner dem Argentinier gar nicht so unähnlich. Unsere russischen Lehrer haben wieder eine ganz andere Denkweise. Aber dieses Einwirken verschiedenartiger Kultureinflüsse erweitert den Horizont für einen selbst.

Das schließt dann wieder den Kreis zum Tango, der von seiner Entstehung her multi-ethnisch ist.

André
Ja, da kann man wirklich nicht sagen: Wer hat’s erfunden? Würde man den Tango in dieser Art definieren wollen, ginge das nicht. Das wäre wie die Quadratur des Kreises.

Haben wir alle wesentlichen Aspekte so weit erfasst?

André
So als Schlusswort kann man nehmen: Es ist nie zu Ende. Es geht immer weiter. Der Tango ist nicht fertig. Der Tango entwickelt sich ständig weiter, wie die Menschheit auch. Das klingt jetzt vielleicht geschwollen, aber der Tango kann wirklich wie das Leben sein. Heute so, morgen so.

 

Tango Argentino im Gottesdienst

Die Lutherkirche hat natürlich mit Religion zu tun und da kommen Themen wie Harmonie, Gemeinschaft und vieles mehr von dem vor, worüber wir gesprochen haben, vor. Würden Sie dem Tango Argentino auch eine spirituelle Dimension zusprechen?

André
Dazu muss ich einleitend sagen, dass wir uns mit dem Begriff Kirche sehr schwer tun. Wir mögen den Hans Mörtter aus dem Grund sehr, weil er nicht bekehrend wirkt. Der nimmt die Leute so, wie sie sind. Aber dem Tango etwas Spirituelles abzunehmen!? Er ist „inspirierend“, würde ich sagen. Aber die soziale Komponente des Tango Argentino lässt sich vielleicht doch mit der Kirchenarbeit vergleichen. Der Tango ist von armen Leuten getanzt worden, stammt aus den unteren Schichten. Er ist aus einer Sehnsucht heraus entstanden, schlichtweg aus dem Heimweh heraus, aus der Sehnsucht nach Zuneigung. Damals kam zahlenmäßig auf zehn Männer eine Frau.

In der menschlichen, praxisnahen Anwendung an der Lutherkirche, da liegt für uns der Reiz, den Tango mit dem Gottesdienst zu verbinden. Hans Mörtter versucht immer wieder, aus dem Tango etwas für den Menschen heraus zu lesen. Wenn da irgendetwas Missionarisches anklänge, wären wir nur einmal angetreten und dann nie wieder. – Ich weiß noch, eines Abends saßen wir bei einer Flasche Rotwein und da kam um 23.00 Uhr ein Anruf. „Wir haben ja morgen den Tango-Gottesdienst,“ sagte Hans Mörtter, „und wir vertanzen morgen die Integration afrikanischer Flüchtlinge mit dem Tango.“ Da haben wir erst einmal eine zweite Flasche aufgemacht, weil wir zunächst keine Ahnung hatten, wie wir das machen sollten und haben uns in der Nacht noch etwas ausgedacht. So kann ich auch mit Kirche wieder etwas anfangen. Hans Mörtter versucht, das für den Menschen zu adaptieren und ihm als Botschaft anzubieten.

Kathrin
Dadurch wird Kirche noch einmal ganz anders zu einem Ort der Begegnung.

André
Beim Tango geht es darum, die Füße auf dem Boden zu halten und die Quelle nicht aus den Augen zu verlieren. Dann ist man wieder Mensch.

Das Interview mit Kathrin und André führte Helga Fitzner am 4. August 2008